Im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands wurde ich 1990 nach Dresden eingeladen, um über die Zukunft der kriegszerstörten historischen Altstadt zu diskutieren. Das »Architektur-Forum« im Rathaus versammelte ein großes Publikum von Bürgern sowie die damals bekanntesten Architekten des Landes: Günter Behnisch (1922–2010), Meinhard von Gerkan (* 1935), Hermann Henselmann (1905–1995), Thomas Herzog (* 1941), Josef Paul Kleihues (1933–2004), Frei Otto (1925–2015), Christoph Sattler (* 1938), Karljosef Schattner (1924–2012) und Albert Speer jun. (1934–2017). Ich war der einzige Ausländer am Runden Tisch und als solcher erwartungsgemäß auch der einzige, der die Delegation prominenter Dresdner unterstützte, die sich für den Wiederaufbau der berühmten Frauenkirche und des umliegenden Neumarktes einsetzten. Die deutschen Experten ermahnten die braven Bürger, ihren angeblich überholten Wiederaufbauideen abzuschwören. Die Fläche der Dresdner Altstadt macht aber nur den 386 000sten Teil der Fläche der Bundesrepublik aus, und daher schlug ich vor, daß die ehrenwerten Herren auf ihren Herrschaftsanspruch über diesen winzigen Anteil ihres Geheges verzichten möchten. Die überregionalen Zeitungen, die über die zweitägigen Sitzungen berichteten, ignorierten ausnahmslos die brisante historische Kontroverse. Dank massiver und dauerhafter Unterstützung aus der Bevölkerung konnten sich die Bürger dennoch gegen Politik, Verwaltung und Architektenschaft durchsetzen. Nach dreißig Jahren unermüdlichen Bemühens steht das großartige Dresdner Ensemble heute kurz vor dem Abschluß. Aber die gleichen Kämpfe spielen sich rund um Rekonstruktionsprojekte in Berlin, Potsdam, Frankfurt am Main, Dessau und Nürnberg ab.
1987 wurde im Rahmen einer öffentlichen Ausstellung ein von Prinz Charles in Auftrag gegebener Vorschlag zum Londoner Paternoster Square neben der St. Paul’s Cathedral präsentiert, und zwar als Gegenprojekt zu Arata Isozakis erfolgreichem modernistischen Wettbewerbsbeitrag. Eine Meinungsumfrage ergab, daß 61 Prozent der Besucher gegen das klassische Projekt des Prinzen seien. Eine detaillierte Analyse basierend auf den Berufen der befragten Besucher ergab jedoch, daß 59 Prozent von ihnen Architekten waren und daß von diesen wiederum 97 Prozent den klassischen Vorschlag abgelehnt hatten, während 91 Prozent der Befragten, die keine Architekten waren, den wunderschönen Vorschlag von John Simpson favorisierten.
Aus den Ergebnissen einer von der National Civic Art Society in Washington/D. C. in Auftrag gegebenen Harris-Umfrage, die im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, geht hervor, daß von den 2 028 Erwachsenen, die nach dem von ihnen bevorzugten Baustil von Bundesgebäuden befragt wurden, 28 Prozent den modernistischen und 72 Prozent den klassischen Stil bevorzugten. Der winzige Unterschied zwischen Republikanern (73 Prozent), Demokraten (70 Prozent) und unabhängigen Wählern (73 Prozent) verweist auf eine erstaunliche Übereinstimmung in einem Jahr, in dem die US-Bürger einander bezüglich der meisten wichtigen politischen Fragen unversöhnlich gegenüberzustehen schienen. Selten wurde die Kluft zwischen dem mehrheitlich traditionell orientierten Publikum und dem fast durchgehend modernistischen Architektenstand so manifest.
Warum gerade Demokratien seit 1945 in Fragen von Architektur und Städtebau so undemokratisch abschneiden, wird selten diskutiert. Bei näherer Betrachtung stellt sich indes heraus, daß diese Diskrepanz nicht etwa auf eine zufälligerweise unglückliche Entwicklung, sondern auf eine unbeugsame Absicht zurückgeht. Obwohl der Modernismus und seine Varianten sich überall als einzig mögliche Architektur der Demokratie in Szene setzen, wurde paradoxerweise das Volksempfinden nie dazu befragt. Man bemühte sich auch gar nicht erst darum, die Herzen der Menschen zu gewinnen. Während individuelle Wahlfreiheit in modernen Demokratien als oberstes Bürgerrecht gepriesen wird, gibt es herzlich wenig Wahl in Fragen der Architektur, der Ausbildung von Architekten und ihrer berufsständischen Vertretung. Die University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana ist nach wie vor die einzige Architektenschule der Welt, die einen vollwertigen technischen und künstlerischen Abschluß in klassischer Architektur und traditionellem Städtebau anbietet. Vor 35 Jahren schlug ich vor, das modernistisch orientierte RIBA (Royal Institute of British Architects), in die getrennten Fachbereiche RICBA (Klassisches Bauen), RIMBA (Modernistisches Bauen) und RIUBA (Unvorhersehbares Bauen) aufzuteilen, um das volle demokratische Spektrum widerzuspiegeln. Immerhin wurde im Jahr 2002 auf Betreiben von Robert Adam innerhalb der RIBA die Traditional Architecture Group (TAG) gegründet. Leider ist das eine Ausnahme geblieben, während es ein Modell für die Architektenverbände auf der ganzen Welt sein müßte, damit sie sich der demokratischen Wirklichkeit öffnen.
Die gebaute Umwelt betrifft jeden täglich und überall. Daß sie von der Mehrheit der Menschen beliebigen Alters, beliebiger Herkunft, Religion, Klasse und Hautfarbe ästhetisch wertgeschätzt werden sollte, ist eine Binsenweisheit, wenn nicht sogar ein fundamentales Recht. Der Sinn für Schönheit ist den meisten Menschen angeboren. Ein jeder trifft ständig qualifizierte ästhetische Urteile durch Zu- und Abneigung, einfach dadurch, daß er von Dingen, Wesen oder Ereignissen angezogen oder abgestoßen wird. Traditionelle und klassische Gebäude, seien sie Tempel für Götter oder Ställe für Tiere, werden allgemein als ansprechend empfunden – nicht weil sie alt sind oder historisch bedeutend, sondern weil sie, seien sie luxuriös oder bescheiden, auf dauerhafte Weise schön sind. Das traf bis 1945 auf fast alle Gebäude der Welt zu, ja, es war die prägende Realität in allen Zivilisationen im Laufe der Jahrhunderte.
Der Bauer bewunderte die Schönheit der Schlösser, der Gottlose genoß die Schönheit der Tempel und der Prinz schätzte die schlichte Schönheit der Bauernhäuser und Ställe. Es ist ein katastrophaler Verlust für die Menschheit, daß diese Selbstverständlichkeit verlorenging. Daß das formale und stilistische Vokabular der Demokratien kaum von dem ihrer totalitären Nachbarn zu unterscheiden ist, spricht Bände über die Denkweise seiner Propagandisten und Praktiker. Außer dem Königreich Bhutan bleibt kein Land der Welt von der Flut architektonischer Gemeinheiten verschont. Die groben Verstöße gegen den menschlichen Maßstab, den guten Geschmack, die guten Manieren und den allgemeinen Anstand sind längst die Regel geworden.
Mit Ausnahme von Prinz Charles, der herkömmliche Baustile bevorzugt, wird die unpopuläre architektonische Dystopie, die von einem ästhetischen Analphabetismus zeugt, von politischen Führern aller Parteien und Länder gebilligt, von Institutionen gefördert, von Bürokratien diktiert, von Akademien gepriesen und von Wirtschaft und Industrie bevorzugt. Und dennoch − der geballten unerbittlichen Propaganda zum Trotz bleibt die allgegenwärtige modernistische Bausubstanz ungeliebt. Ihr Verschwinden wird so gut wie nirgendwo öffentlich betrauert. Bürgerlicher Protest gegen die Zerstörung schöner Gebäude und Stadtlandschaften ist ein ausschließlich modernes Phänomen. Engagierte Bürger widmen sich der Rettung des klassischen Erbes und wollen den faden modernistischen Ersatz verhindern. Ihre neuartigen Initiativen erklären sich aus der einfachen Tatsache, daß in der komplexen Produktionskette traditioneller Städte und Gebäude die individuelle Freude und Befriedigung beim Entwerfen, Bauen, Dekorieren und Einrichten ohne umständliche Erklärung von allen geteilt und geschätzt wird – vom breiten Publikum wie auch von den Bewohnern, Besuchern, Benutzern und Eigentümern.
Der Beruf des Bauens und Planens war vor 1940 überall in guten Händen. Das Vertrauen der Öffentlichkeit wurde selten enttäuscht. Jung und Alt, Arm und Reich begrüßten freudig die neuen Gebäude, weil sie in der Regel schöner waren als das, was sie ersetzten. Der Verlust liebgewordener schöner Orte, eines grünen Hains oder einer idyllischen Straßenecke wurde durch die Fertigstellung eines attraktiven Gehöfts oder eines erhebenden städtischen Platzes mehr als ausgeglichen. Neubau an sich war gleichbedeutend mit einer besseren und schöneren Welt. Dies ist längst nicht mehr der Fall. Es dauerte eine ganze Generation, bis die dürftigen Theorien und abscheulichen Praktiken auf entschlossenen und artikulierten Widerstand in Form von Protesten und Gegenprojekten stießen. Das Verlangen nach Bürgerbeteiligung bei Fragen der Architektur ist nichts weniger als ein berechtigtes Mißtrauensvotum gegen modernistische Planung und Gestaltung. In der Vergangenheit war das anders, da wurden Proteste allenfalls von architektonischen Exzessen ausgelöst und nicht von einem Defizit an Gestaltung. Das protestantische Schisma entzündete sich am Bombast, nicht an einem Mangel der Entwürfe von Bramante und Buonarroti für Sankt Peter in Rom.
Im Hinblick auf Modernität, Demokratie und Fortschritt wird »die Moderne« von Massenmedien, Beamtenschaft, Schulen und Institutionen weiterhin als einzig legitime Architektur propagiert. »Demokratische Architektur« ist jedoch in sich eine irreführende Bezeichnung. Es gibt weder eine demokratische noch eine undemokratische Architektur – wie es auch keine Architektur des Fortschritts oder der Reaktion gibt. Es gibt nur Architektur oder ihre Abwesenheit. Bürgerproteste motivieren sich allein aus dem Fehlen von Architektur und Schönheit. Aggressive Häßlichkeit ist nicht einfach die Abwesenheit von Geschmack. Sie ist auch kein neutraler Zustand, sondern Ausdruck einer abgründigen, zerstörerischen Kraft. Wenn der Campanile auf der Piazza San Marco durch ein obszönes Unding ersetzt würde, würde nicht nur die Piazza, sondern die Serenissima selbst einen tödlichen Schlag erleiden.
»Totalitäre« oder »demokratische« Architektur gibt es genausowenig wie eine totalitäre oder demokratische Küche. Traditionelle klassische Architektur ist nicht politisch. Sie ist ein Instrument der Politik, sei es zum Guten oder zum Schlechten. So verwandeln sich Basiliken in Basare, Paläste in Bibliotheken, Villen in Hotels, aber auch Klöster in Gefängnisse, Lustpavillons in Folterkammern und Parks in Parkplätze. Die Macht der Architektur wird gebraucht oder mißbraucht. Vor allem gibt es humane und inhumane Weisen, Architektur hervorzubringen und zu nutzen.
Der öffentliche Raum einer Stadt ist die wichtigste physische Manifestation des Gemeinwohls. Was für Generationen selbstverständlich war, steht jetzt vor einer radikalen Vernichtung. Die enormen raumplanerischen Strukturmaßnahmen und kulturellen Revolutionen, die von den modernen Industrieländern ausgelöst wurden, haben die traditionelle Stadt und ihren öffentlichen Raum vollständig entkernt. Trotz eines siebzigjährigen groben ökologischen und sozialen Versagens glauben die Wähler aber immer noch, daß Stadtplanung und Architektur in kompetenten Händen lägen – dem ist nicht so. Modernistische Planungsbüros, Baufirmen und Verwaltungen sind wie manisch damit beschäftigt, horizontale und vertikale Zersiedlungen, vorstädtische Auflösungen und barbarische Hyperkonzentrationen ins Werk zu setzen. Monofunktionale Zonen sind das einzige, was sie praktizieren, woran sie glauben und was sie fördern. Die Verantwortlichen werden offenkundig von globalen multinationalen und kriminellen Kartellinteressen dominiert, denn sie lassen sich nichts weniger als die Antistadt und damit die Auflösung der Zivilgesellschaft verordnen. Infolgedessen wird die traditionell gebaute Umgebung, eine Welt schöner und robuster Gebrauchsgegenstände, systematisch in eine entzauberte Welt des kurzfristigen Konsums verwandelt. Die entsprechenden Richtlinien sind weder ästhetisch noch ökologisch »nachhaltig«.
Die Flutwelle ökologischer Bedenken, die seit einiger Zeit über die Medien hereinbricht, ist nur die Folge davon, daß sie zu lange ignoriert wurden. Die Studien des Club of Rome, die Studie Global 2000 aus dem Jahre 1980 für Jimmy Carter, den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, und andere grundlegende Texte wie Entropie (1980) von Jeremy Rifkin oder The Long Emergency (2005) von James Howard Kunstler sind seit Jahrzehnten öffentlich verfügbar.
In bezug auf Ökologie und Zivilisation ist die Rede von »Nachhaltigkeit« ein Übertragungsfehler. Wie der Mathematiker Nicholas Georgescu-Roegen (1906–1994) schon vor über fünfzig Jahren betonte, wird die Erde in Zukunft desto weniger Menschen ernähren können, je größer die Bevölkerung ist, die sie heute ernähren muß. Meiner Ansicht nach ist die authentische traditionelle Stadt das einzige relativ nachhaltige Siedlungsmodell. Alle Formen der menschlichen Zivilisation belasten unwiderruflich die natürliche Umwelt, von der sie sich nähren. Was auch immer wir auf der Welt tun, reduziert den fossilen Energievorrat, der den Menschen in Zukunft zur Verfügung steht. Wir leben auf der Erde von einem endlichen Vorrat an Energie und können auf absehbare Zeit nicht auf andere Planeten rechnen, um uns mit Materialien zu versorgen, die wir in den letzten 500 Jahren von fernen Kontinenten geraubt haben. Die einzige freie Energie, die alle Zivilisationen bisher genutzt haben, ist die Sonnen-, Wind- und Wasserkraft. Aber die Hoffnung, daß Photovoltaikzellen, Wasserstoff und Windkraft eines Tages die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen ersetzen könnten, ist trügerisch. Ohne Energie aus fossilen Brennstoffen wird es keine High-Tech-Industrie, »Speckgürtel« oder »moderne Architektur« mehr geben. Der entscheidende intellektuelle Ansatz besteht darin, daß Technologie »Kenntnis von Techniken« bedeutet. Ökologisch gesehen bedeutet »Technologie« weder »hoch« noch »niedrig«. Was oberflächlich hoch aussieht, kann in ökologischer Hinsicht extrem niedrig sein und umgekehrt.
Wir erleben einen Wendepunkt, seit sich die Erkenntnis durchsetzt, daß jenes permanente Wirtschaftswachstum, auf dem Modernismus, Fortschritt und Demokratie aufbauen, in Wahrheit unmöglich ist. Wie aber kann man über lange Zeit akkumulierte Schulden tilgen, wenn es jenseits von Peak Oil, dem Zeitpunkt der historisch maximalen Ölförderung, oder Sklavenarbeit kein Wirtschaftswachstum mehr zu erwarten ist? Diejenigen, die so tun, als ob menschliche Genialität irgendeine Wunderwaffe bereithielte, werden sich und uns nicht mehr lange belügen können. Unsere Politiker sind gezwungen, gravierende Umweltentscheidungen zu treffen, und die Wähler glauben, daß solche Entscheidungen auf gesicherten Informationen beruhen, wo sie doch im allgemeinen aus Hypothesen auf schwacher wissenschaftlicher oder philosophischer Basis resultieren. Das gleiche intellektuelle Elend gilt für städtisches Wachstum, Bauindustrie und Verkehr. Wie sorgfältig auch immer »die« Wissenschaft bei der Erforschung von Mikro- und Makroskalen war – es gibt so gut wie keine fundierte Klimawissenschaft, geschweige denn eine Wissenschaft der globalen ökologischen Zivilisation. Wie aber soll man intelligente langfristige Entscheidungen treffen, wenn zuverlässige Daten, geschweige denn Projekte fehlen? Die Fragen, die Wissenschaft und Philosophie dringend erforschen und beantworten müßten, lauten:
Wie viele Menschen können an den bisherigen Standorten, in bestimmten Regionen, Ländern und Kontinenten unter den obwaltenden geoklimatischen Bedingungen leben? Wie lange können sie das? Welche technischen sowie biologischen Hilfsmittel und welche politische Ökonomie brauchen sie dafür? Und wie sehen unsere ethischen, ästhetischen, technischen und technologischen Wertsysteme unter den Bedingungen energetischer Begrenzung aus?
Wenn wir diese grundlegenden Fragen stellen, stoßen wir auf unüberwindliche ideologisch-metaphysische Mauern. Es stellt sich heraus, daß wir friedliebenden und fürsorglichen Menschen Bürger eines mörderischen Reiches sind. Die imperiale Gewaltausübung ist an mächtige Körperschaften delegiert, und daher gibt es auch kein nennenswertes kollektives Bewußtsein für dieses »Imperium«. Die Rückkehr zu traditioneller Architektur und Siedlungskultur wird sich entgegen meiner Hoffnung und Argumentation* nicht auf der Basis demokratischer Entscheidungen vollziehen, sondern schicksalhaft, mit überwältigender Notwendigkeit.
Traditionelle Architektur und Städtebau sind zentrale Bestandteile eines umfassenden Umweltprojekts. Das globale ökologische Projekt bleibt jedoch unklar und schlecht umrissen. Kritische Analyse ist kein Projekt. Wissenschaftler, Philosophen, Ökonomen, politische Denker und Gesetzgeber tun ihre Arbeit nicht. Die Förderung sogenannter grüner Vororte, grüner Wolkenkratzer, grüner Transportmittel, Lebensmittel, Kraftstoffe oder von grünem Was-auch-immer ist ein dummer Trick, der den Peak Oil nicht nennenswert hinausschieben kann. Das breite aktuelle Öko-Geplapper läuft auf bloße Ablenkung von den eigentlich brennenden Themen hinaus. Die Rede von einer »nachhaltigen« oder »CO2-freien« Stadt zielt auf Utopisches. In Wirklichkeit kann es keine verallgemeinerbaren, pragmatischen Modelle für eine solche Stadt geben, sondern nur Teilvisionen. Die traditionellen Modelle in bezug auf Bau und Planung sind jedoch mehr als eine Vision. Sie repräsentieren nicht nur Geschichte, sondern unverzichtbare Erfahrung. Abgesehen von ihren objektiv günstigen geometrischen und physikalischen Eigenschaften stellen sie die bei weitem attraktivsten und avanciertesten Lebensformen dar, die menschliche Gemeinschaften bislang realisieren konnten. Der groteske Mißbrauch des Begriffs »nachhaltig« untergräbt vorerst das soziale und politische Potential des Wortes und verschiebt mögliche Lösungen auf die Zukunft.
Zurück zur unverzichtbaren Bedeutung von Architektur und Städtebau traditioneller Art für das demokratische Gemeinwohl: Siebzig Jahre modernistischer Herrschaft haben gezeigt, daß das Gemeinwohl kein unvermeidliches Produkt demokratischer Regierungspraxis ist. Es ist ein Projekt, das in demokratisch-politischen Aktionen nicht nur bitter fehlt, sondern systematisch zerstört und sabotiert wird. Um das Gemeinwohl zu realisieren, muß es das gemeinsame Ziel von Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen werden, es muß politische, religiöse, soziale, rassische und sprachliche Unterschiede überwinden.
Nur wenige Menschen sind sich bewußt, wie stark das Gemeinwohl im Alltag von der Form der Städte und ihrer Bausubstanz, von Straßen und Plätzen geprägt wird. Gesellschaften, die hinsichtlich Brauchtum, Religion, Sprache und Politik tief gespalten waren, konnten darüber geeint werden. Der öffentliche Raum einer Stadt, dieses einzigartige Geschenk der persisch-griechisch-römisch-christlichen Zivilisation, ist der neutrale Boden, auf dem das Spektrum der menschlichen Vielfalt sich friedlich entfalten und in konstruktiven Rivalitäten interagieren kann. Ohne diesen öffentlichen Raum hätte sich die Demokratie nicht entwickeln können, und ohne ihn wird sie scheitern.
Das Modell, das am besten der geselligen Natur des Menschen entspricht – keine Verfeinerung der Verkehrssysteme und der virtuellen Kommunikation kann sie ersetzen –, ist die polyzentrische Stadt aus lauter unabhängigen Gemeinschaften: die Aggregation autarker Stadtviertel mit gemischter Nutzung und menschlichem Maß. »Geschlossene Wohngebiete« bzw. mono-funktionale Zonen jeglicher Art können die führende Rolle des öffentlichen Raums bei der Verwirklichung und Aufrechterhaltung der Demokratie nicht ersetzen.
Wenn das menschliche Miteinander im allgemeinen sowie die Ausübung und Repräsentation von Macht im besonderen nicht durch gute Manieren, Etikette und Stil veredelt werden, haftet ihnen unweigerlich ein Hauch von grober Despotie an. Was für den menschlichen Umgang gilt, ist entscheidend auch für Gebäude, in denen politische Macht ausgeübt und vertreten wird. Die nationalen Parlamente der meisten demokratischen Länder sind bis heute in wunderschönen klassischen Palästen untergebracht. Sie sind die Juwelen in den städtischen Kronen. Dagegen zeichnen sich die Gebäude der internationalen Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Sitze von UNO, WHO, UNESCO, Nato, IWF, EZB und EU durch architektonischen Autismus, feindliche Anonymität, massive Größe, hohle Monumentalität und symbolische Leere aus, vor allem aber durch souveräne Mißachtung ihrer städtischen, kulturellen und geographischen Umgebung. Diese Gebäude und Institutionen symbolisieren weder demokratische noch ästhetische Werte; zuallererst zeigen sie der Öffentlichkeit die kalte Schulter gesichtsloser Bürokratie und diktatorischer Technokratie. Seit über sechzig Jahren beweisen diese ungeliebten und plumpen Abstraktionen, daß die für sie Verantwortlichen nicht nur die Gefühle der Völker ignorieren, sondern auch jene Ethik und Ästhetik, mit der die Machthaber im Laufe von Jahrhunderten, unabhängig von Glaube und Ideologie, Respekt erzeugt, Autorität gewahrt und letztlich ihre Macht legitimiert haben.
Es besteht kein Zweifel, daß den gegenwärtigen parlamentarischen Demokratien von seiten ihrer Wähler wachsendes Mißtrauen entgegenschlägt. Wahlversprechen werden auf nationaler und internationaler Ebene selten eingehalten. Die Frage ist, ob die Demokratie überhaupt in der Lage ist, das Gemeinwohl dauerhaft zu sichern. Wir beobachten die entgegengesetzte Tendenz. Unter dem Druck mächtiger Interessengruppen läuft der demokratische Leviathan permanent auf Hochtouren. Die Bienenstockaktivitäten in den parlamentarischen Lobbys und Abgeordnetenbüros stehen in einzigartigem Gegensatz zur manifesten Bedeutungslosigkeit der Plenarsäle. Unter den denkbar breiten Gesichtspunkten des Fortschritts, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Gesundheit und der Sicherheit stoßen die parlamentarischen Maschinen unzählige Gesetze und Verordnungen aus – ohne eine klare Vision, aber dafür mit lauter roten Linien.
Noch nie gab es so viele Bauvorschriften und Planungsvorgaben. Die barocke Überregulierung verhält sich umgekehrt proportional zu den immer dürftigeren baulichen Ergebnissen. Bürokratische Hierarchien heben das individuelle ästhetische Urteilsvermögen und die persönliche Verantwortung auf. Der gesunde Menschenverstand, die künstlerische Integrität und die Schönheit selbst fallen regelmäßig dem Gremienkonsens zum Opfer. Die metastasierenden Vorschriften, Statuten, Auflagen und Verbote erfordern immer mehr Bürokratie. Das Gemeinwohl in Form eines öffentlichen Raums wird, wenn überhaupt, nicht mehr dank der Gesetzgebung, sondern ihr zum Trotz realisiert.
Demokratie und offene Gesellschaft sind bekanntlich sehr anfällig für Subversion und Korruption. Nachdem bereits die traditionelle architektonische, künstlerische und städtebauliche Formensprache marginalisiert oder ganz aufgegeben wurde, werden nun auch verfassungsrechtlich garantierte Bürgerrechte von Parlamenten und nicht gewählten »Kommissionen« ausgesetzt und aufgehoben. Anscheinend läßt sich der kollektive Marsch in einen häßlichen totalitären Kontrollstaat bis auf weiteres nicht aufhalten. Die Expertokratie, die bereits die Architektur, den Urbanismus sowie die Überreste handwerklicher Produktionsweisen und gemischter regionaler Ökonomien zerstört hat, dekonstruiert jetzt unter dem Deckmantel von Krieg gegen Terror, Covid-19 und Klimawandel weltweit die Überreste von Demokratie und Gemeinwohl. Eine globale Kapitalismus- und Sozialismuskritik ohne ein globales politisches, wirtschaftliches, technisches und kulturelles Gegenprojekt kommt einer bloßen Ohnmachtserklärung gleich, einer Unterwerfung unter das Schicksal.
Die Bewegung Neue Traditionelle Architektur und Neuer Urbanismus, basierend auf Handwerk und tausend Jahren Erfahrung, liefert die einzige kohärente Theorie und Praxis einer gesünderen und nachhaltigeren Umwelt. Sie ist die einzige ernsthafte Alternative zu Speckgürteln und autogerechten Städten. Sie ist essentiell für die Rekonstruktion einer Demokratie, einer Wirtschaft und einer gebauten Umwelt mit menschlichem Antlitz. Die vielen Architekten und Handwerker, die sich trotz ihrer modernistischen Architekturausbildung auf der ganzen Welt auf diese Weise engagieren und dabei sowohl dem übermächtigen Gruppenzwang als auch der bürokratischen und akademischen Sabotage Widerstand leisten, erfreuen sich breiter öffentlicher Unterstützung und großer Nachfrage am Markt. Architekten und Stadtplaner stehen vor der existentiellen Wahl, weiterhin einer totalitären Dystopie zu dienen oder das Gemeinwohl zu planen und zu bauen. ◆
geb. 1946 in Luxemburg, ist als Architekt und Stadtplaner einer der bedeutendsten Vertreter des traditionellen Bauens. Zuletzt erschien in Cato 4/2020 sein Aufsatz »Die Unfähigkeit zu erkern« über die Ostfassade des Berliner Schlosses.