Wer die zerstörerische Dynamik einer nihilistisch-dämonischen Welt erkennt, kann sie noch lange nicht aufhalten. Diese Welt, die mit der Entthronung Gottes begann, fand im Jakobinertum ihre erste politische Form, wurde aber noch einmal aufgehalten. Voll ausgebrochen ist sie in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile zwingt auch ihre bürokratisch-digitale Neuauflage zur alten »Unterscheidung der Geister«
Mit der Juli/August-Nummer 1944 stellte die Zeitschrift Das XX. Jahrhundert ihr Erscheinen ein. Sie war das Nachfolgeorgan der Monatszeitschrift Die Tat, die in der Endzeit der Weimarer Republik unter Hans Zehrer eine starke Stimme des Jungkonservatismus gebildet hatte und – zeitbedingt geschrumpft – 1939 unter neuem Namen mit dem Monatsblatt Ostmark zusammengelegt worden war. Ob ein Verbot oder die Zwänge des totalen Krieges für ihr Ende ausschlaggebend waren, sei dahingestellt. Goebbels’ am 1. September 1944 in Kraft getretene Verfügung zum totalen Kriegseinsatz der Kulturschaffenden betraf auch das Pressewesen. Andererseits lieferte das Heft ausreichend Gründe für eine Indizierung.
Das auf »Ende August« datierte Editorial des Herausgebers Giselher Wirsing (1907–1975) war überschrieben: »Die Lage im Sommer 1944«. Über ihren »schicksalsschweren Ernst«, so der Autor, brauche »kein weiteres Wort verloren zu werden«. Die sowjetischen Armeen würden an die deutsche Ostgrenze heranbranden, und im Westen schiebe die Schlacht sich über Paris hinaus auf die Reichsgrenze vor. Deutschland kämpfe – wie auch Japan – »mit dem Rücken zur Wand«. Das Unaussprechliche, das auszusprechen den Kopf gekostet hätte, war dem Leser in die Hand gelegt: Der Krieg war verloren.
Verloren nicht nur für Deutschland, so Wirsing, sofern die Amerikaner und vor allem die Engländer nicht endlich begriffen, worum es wirklich ging: um die Entscheidung, »ob Europa leben wird oder bolschewistisch wird«. Mit der Errichtung von »Sowjetpolen« habe Stalin seine Pläne für den gesamten Kontinent kundgetan. Die Briten dürften gegenüber Europa nicht länger die verhängnisvolle Rolle übernehmen, die Frankreichs Könige dem Deutschen Reich gegenüber gespielt hatten, als sie sich mit den auf Wien stürmenden Türken verbündeten. Die Epoche der europäischen Bürgerkriege müsse überwunden werden, Europa brauche »den Schutz der deutschen Waffen«.
Der Ausbruch des Ost-West-Konflikts wenige Jahre später sollte Wirsing recht geben, doch für die Gegenwart des Jahres 1944 handelte es sich um Hirngespinste. Weder konnten noch wollten Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill hinter ihre Forderung nach bedingungsloser Kapitulation zurücktreten. Das nationalsozialistische Deutschland selbst stand solchen Erwartungen im Wege. Es hatte sich so sehr kompromittiert, daß Wirsings Aufforderung, Deutschland als unverzichtbaren Hüter der europäischen Zivilisation anzuerkennen, als blasphemische Zumutung empfunden werden mußte. Sogar jetzt, die Niederlage vor Augen, forcierte es sein Zerstörungswerk. Geradezu beherzt widmeten sich die Nationalsozialisten der Ermordung der ungarischen Juden und schlugen den Warschauer Aufstand nieder, der sich unmittelbar gegen die deutsche Besatzung, fernerhin aber gegen die drohende Sowjetisierung richtete. Den Polen war damit die Chance genommen, die unaufhaltsam vorrückende Rote Armee in ihrer Hauptstadt einerseits als siegreiche Hausherren zu empfangen und sich andererseits der Bolschewisierung zu erwehren. Solche Handlungslogik entsprang einem Geist, dem mit Vernunftgründen und realpolitischen Argumenten einfach nicht beizukommen war. Ohne realpolitische Deckung war Wirsings Aufsatz auch innenpolitisch ein Dokument der Ohnmacht.
Noch Peter Glotz bezog sich auf Giselher
Wirsings europapolitische Thesen
Giselher Wirsing war in sehr jungen Jahren zum Tat-Kreis des Journalisten Hans Zehrer (1899–1966) gestoßen. Ab 1933 machte er eine steile Karriere als Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, als Publizist, Buchautor und Reiseschriftsteller. Erst 1940 trat er der NSDAP bei. Der jeglicher NS-Sympathien unverdächtige Zeithistoriker Norbert Frei (* 1955) vermutet, daß Wirsing kein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei, indes habe es »große Schnittmengen zwischen Wirsings Weltbild und der nationalsozialistischen Ideologie« gegeben. Ihm schwebte ein europäischer Großraum vor, der sich unter deutscher Vormacht sowohl gegen die russische als auch die amerikanische »Flügelmacht« (Ludwig Dehio) behauptete. Seine Detailkenntnisse und analytischen Fähigkeiten sowie sein geschichtlich-kulturelles Hintergrundwissen haben noch Peter Glotz (1939–2005), einen der letzten Intellektuellen in der SPD, beeindruckt. Glotz bezog sich in seinen europapolitischen Überlegungen explizit auf Wirsings 1932 erschienenes Buch Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft, die Dissertation eines knapp Vierundzwanzigjährigen.
Das fehlgeschlagene Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 spielt im Editorial keine Rolle. Auch in den übrigen Texten wird Hitler mit keinem Wort erwähnt, zumindest nicht direkt. Wirsing wirft einen Blick nach Japan, wo unter Mitwirkung des Kaiserhauses eine Regierungsumbildung stattgefunden hatte. Die Führung in Tokio sei jetzt »im Sinne der japanischen Tradition wieder mehr als ein Kollektiv anzusehen, in dem es weniger auf die einzelne Persönlichkeit als auf die gesamte Führung ankommt«. Die Gedanken der Leser dürften von Japan nach Italien gewandert sein, wo im Juli 1943 der Große Faschistische Rat in Abstimmung mit dem König die Entmachtung Mussolinis bewirkt hatte.
Verführerische politische Dämonie im Gewand der Tugendhaftigkeit
Fast auf den Tag genau 150 Jahre vor dem mißglückten Anschlag auf Hitler war die Verschwörung gegen einen anderen Diktator von Erfolg gekrönt. Am 27. Juli 1794 – in der Zeitrechnung der Revolution der 9. Thermidor – wurde Maximilien de Robespierre, das Haupt der jakobinischen Terrorherrschaft, in Paris vom Konvent gestürzt. Die Beinahekoinzidenz war Zufall. Kein Zufall hingegen war es, daß dieses Ereignis im Essay »9. Thermidor« von Kurt Schneeberger (1913–1994) im Heft ausführlich gewürdigt wurde. Schon die Auftaktsätze waren eine Aufforderung an den Leser, das historische Präsens ins aktuelle zu übersetzen: »Seit Monaten verschlingt die Revolution ihre eigenen Kinder. Alle spüren, wie sie sich anschickt, die letzte Hekatombe zu fordern.« Der Konflikt laufe auf ein »Er oder Wir« hinaus. In diesem Sinne ging es weiter: »Er«, Robespierre, der »Unbestechliche«, der »im Namen der Tugend« das »Evangelium der Republik« verkünde, sei ein Mann, »der sein ganzes Leben immer nur den Ehrgeiz hatte, die Zustimmung der Öffentlichkeit an sich zu reißen«, und der »nach eigenem Geständnis entschlossen war, Staatsmann zu werden«. Ohne die Revolution wäre er ein »Literat« in der Provinz geblieben. Die Anspielungen auf Hitlers unerfüllte Künstlerträume und den Satz aus Mein Kampf: »Ich aber beschloß, Politiker zu werden«, waren überdeutlich. Robespierres »Tugend« wird als Narzißmus decouvriert, der sich mit »Verfolgungswahn und Haß« verbunden habe.
Ein Textvergleich legt nahe, daß Schneeberger die Inspiration für den Essay Friedrich Sieburgs 1935 veröffentlichtem Buch Robespierre entnommen hatte. Sieburgs Schilderungen und Deutungen spitzte er auf diesen Effekt hin zu: »Die Tugend Robespierres ist dämonischer Natur.« Sie sei »in der Hand dieses Besessenen zu einer tödlichen Waffe« geworden. Robespierre sei »ein schreckliches Beispiel von Dämonie«, ein »Luzifer der Revolution« gewesen, dessen Sturz den »Sieg des gesunden Menschenverstandes über die Unersättlichkeit des Weltverbesserers« bedeute habe. Nur gab es im Dritten Reich keinen Konvent, keinen Großen Rat und auch keinen Monarchen. Hitler hatte die in der Reichstagsrede am 1. September 1939 gemachte Ankündigung, einen Senat zur Bestimmung der Führernachfolge einzurichten, wohlweislich nie in die Tat umgesetzt.
Die Dämonen- bzw. Dämonie-Metaphorik war in der inneren und äußeren Emigration weit verbreitet. In Ernst Niekischs Buch Das Reich der niederen Dämonen (1937/53) zielt sie auf die mindere Qualität der »nationalsozialistischen Gegenauslese«, dieser »Höllenbrut« mit »dämonischen Masken«. Hermann Broch schrieb 1939 über den »dämonischen Demagogen«, der die Masse auf den »Weg des Rationalverlustes« führt. In seinem Roman Die Verzauberung (1934) hatte er das Dämonische anhand eines persönlichen Charismas entfaltet, wie es Goethe in Dichtung und Wahrheit beschreibt: Es bilde »eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht […]. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. […] Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe […]. Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.«
Der Bolschewismus zog aus der
Dämonie die nihilistische Konsequenz
Schneeberger setzt das Dämonische mit dem Diabolischen gleich und fixiert es so als den Minuspol in der christlichen Weltordnung. Über diesen konventionellen Ansatz geht Giselher Wirsing in einem zweiten Text, im Aufsatz »Hieronymus Bosch. Ein Kapitel über den Kampf mit den Dämonien«, hinaus. Der niederländische Maler Bosch (um 1450–1516) wird als Zeuge und Prophet einer glaubenslosen Welt angerufen, in welcher der Mensch die Maßstäbe seines Handelns ausschließlich in sich selbst sucht und seine Affekte und Leidenschaften flottieren läßt. »Aus der Natur, von der die Götter gewichen sind, steigen unvermeidlich die Dämonen herauf«, wandelt Wirsing einen klassischen Satz aus Ernst Jüngers Blätter und Steine ab. Anders als Schneeberger unterscheidet er scharf zwischen dem Teufel und den Dämonen. Die Götter und Luzifer, Faust und Mephisto bildeten eine dialektische Einheit, sie stünden für den ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis, wobei das Böse ungewollt das Gute fortzeuge. Deshalb sei die Austreibung des Mephisto »ein schlimmerer Abfall vom Elementaren, als wenn man sich ganz dem Bösen verschreibt«.
Tatsächlich hebt eine solche Verschreibung weder das Verwerfliche des Entschlusses noch das Wissen darum auf. Bevor ihn der Teufel holt, schreibt der Faust des Volksbuches seinen bitteren »Weheklag« nieder und mahnt seine Schüler: »[L]aßt euch mein greulich End euer Lebtag ein Fürbild und Erinnerung sein, daß ihr wöllet Gott vor Augen haben, ihn bitten, daß er euch vor des Teufels Trug und List behüten und nicht in Versuchung führen wolle«. Jenseits dieser moralischen Ordnung aber taucht die Welt in ein »dämonisches Zwielicht, in dem Gut und Böse als reale Größen nicht mehr existent, sondern durch einen Willensakt aufgehoben sind«, was zu einer »Verwischung und Verunreinigung des dem Menschen angeborenen sittlichen Unterscheidungsvermögens« führe. Das Dämonie-Zeitalter nahm, so Wirsing, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert seinen Anfang. Ein prägnantes Zeugnis sei der Roman Anna Karenina von Lew Tolstoi, was sich daraus erkläre, daß in Rußland »der Prozeß der inneren Entleerung am weitesten vorangeschritten« war. Die Dämonie hängt also eng mit dem Nihilismus zusammen, den zu benennen Wirsing merkwürdigerweise vermieden hat. Auch kann ihm unmöglich entgangen sein, daß nicht Tolstoi, sondern Turgenjew und Dostojewski dessen literarische Kronzeugen sind.
Der erklärte Nihilist Jewgeni Basarow, der in Turgenjews Roman Väter und Söhne selbstgewiß verkündet, man werde sich keiner Autorität beugen und kein hehres Prinzip mehr akzeptieren, erscheint freilich als sanfter Charakter, der sich in Abgrenzung von der überlebten Väterwelt lediglich eine schroffe Attitüde zugelegt hat. Weltanschaulich und psychologisch tiefer lotet Dostojewski die Sache in den Dämonen aus. Sein Nihilisten-Anführer Pjotr Werchowenskij ist dem Studenten Sergei Netschajew (1847–1882) nachgebildet, einem Bakunin-Anhänger, der 1869 den Katechismus eines Revolutionärs verfaßt hatte. Darin sind in 26 Paragraphen die Ziele und Verpflichtungen der Revolutionäre festgelegt. »Unser Kampf ist die vollständige und radikale Zerstörung«, heißt es unmißverständlich. Sittlich sei alles, was der Revolution diene, einschließlich systematischer Massenhinrichtungen; unsittlich und verbrecherisch sei hingegen, was ihren Triumph verhindert.
Dostojewskis junge Dämonen schmieden Pläne für den großen Neuanfang: »Ein Zehntel erhält Freiheit der Person und unbegrenzte Macht über die restlichen neun Zehntel. Die wiederum sollen ihre Persönlichkeit verlieren, zu einer Art Herde werden und dann, bei unbegrenzter Unterwerfung, durch eine Reihe von Neugeburten die Unschuld der Urzeit erlangen, wobei sie allerdings arbeiten müssen.« Nötig sei dazu die »Umerziehung ganzer Generationen«. Höhere Bildung sei ein »aristokratisches Verlangen« und ebenso abzuschaffen wie Eigentum, Familie, Privatheit. Statt dessen sollen vorerst Trunkenheit, Klatsch und Denunziation die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen: »Schließt schleunigst die Kirchen, beseitigt Gott, brecht die Ehen, fort mit den Erbrecht, greift zum Messer.« Und zwar im Dienst einer »fanatischen Menschenliebe«. Es handelt sich um einen prophetischen Vorgriff auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.
Nun hätte Wirsing Dostojewskis Nihilismus-Prognose ohne weiteres auf den Bolschewismus anwenden können. Der wichtigste Grund, warum er den direkten Bezug vermied, liegt hier: Er wäre als Anspielung auf das 1938 erschienene Buch Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich des ehemaligen Danziger Senatspräsidenten Hermann Rauschning verstanden worden. Der einstige Nationalsozialist hatte sich 1934 mit Hitler überworfen, war ins Exil gegangen und hatte dort neben dem genannten Titel ein weiteres kompromittierendes Buch veröffentlicht, Gespräche mit Hitler (1939), das im Ausland zum Bestseller wurde. Jahrzehnte später wurden die »Gespräche« als Fälschungen entlarvt. Auf jeden Fall war Rauschning im Dritten Reich einer der bestgehaßten Renegaten. Somit war Wirsing gezwungen, über Bande zu spielen.
Totalitäre Verblendungen,
gegen die »kein Eingriff von außen möglich« ist
Seine Überlegungen zur Dämonie erläutert Wirsing anhand von Boschs Tafelbild »Die Dornenkrönung«, das im Escorial ausgestellt ist. Zunächst fällt auf, daß der im Zentrum sitzende Christus den Blick auf den Betrachter richtet, während die übrigen Figuren nicht auf ihn blicken, sondern jeder mit seiner eigenen Empfindungswelt beschäftigt ist. Rechts unten reißt der brutale Landsknecht Christus den Mantel vom Leib. In ihm entlädt sich rohe, durch keine edlere Regung gezügelte Gewaltlust. Darüber der grinsende Würger, der Christus mit einem Stock die Dornenkrone aufs Haupt preßt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verrät genießerisches Behagen; die primitive Gewalt ist zu physischem Sadismus sublimiert. Ein Medaillon mit Doppeladler und Bindenschild weist ihn als Vertreter der weltlichen, römisch-kaiserlichen Macht aus. In der dritten Figur rechts oben zeigt sich die lauernde Feigheit, die sich im Hintergrund hält, solange die Verhältnisse unentschieden sind, die aber, sobald die Gemeinheit siegreich ist, sofort eifernde Zustimmung bekundet. Links unten schließlich steht steif ein Gelehrter. Das scharfe Profil läßt auf Klugheit, Schlagfertigkeit und wachen Geist schließen, das fliehende Kinn auf Unsicherheit und Schwäche im praktischen Leben. Die Eigenschaften vereinigen sich zu einem Sadismus intellektueller Spielart, sichtbar in seinem leisen Lächeln, das Befriedigung darüber ausdrückt, daß sein Plan aufgegangen ist und ein Größerer zu Fall gebracht wurde.
Für sich genommen ergibt das zwar ein Ensemble menschlicher Schäbigkeit, aber noch keine Dämonie. Einen Hinweis aus Ludwig von Baldass’ (1887–1963) 1943 in Wien erschienenem Prachtband Hieronymus Bosch aufnehmend verweist Wirsing auf den gläsernen Knauf des Stabes, den der Schriftgelehrte trägt. Darin eingeschlossen ist eine Miniaturfigur des Moses, der die Gesetzestafel in Händen hält. Damit symbolisiert das Bildarrangement den totalen Dispens von der moralischen Weltordnung und eine äußerste Hybris, in »der jede Handlung, auch der abgefeimteste Schurkenstreich und die widerwärtigste Greueltat gerechtfertigt wird«. Selbst die Folterung und Tötung des Gottessohnes wird so zur gottgefälligen Tat. Auch das fand eine schauerliche Entsprechung in der NS-Ideologie. In Mein Kampf heißt es: »Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.«
In den Büchern, Artikeln und Aufsätzen von Wirsing, die bis dahin im Dritten Reich erschienen waren, finden sich gleichfalls zahlreiche antisemitische Stereotype und Äußerungen. Es ist ein Akt der Selbstkritik und Reue, wenn er nun schreibt: »Das Werk Boschs vermag in der Not unserer eigenen Zeit unmittelbar hilfreich zu uns zu sprechen, insofern es ganz und gar der Überwindung der Dämonien gewidmet ist.« Damit war im Sommer 1944 nochmals ein widerständiger Stachel gesetzt und eine fromme Hoffnung ausgedrückt. Doch lieferte der Bosch-Aufsatz auch die Gründe, weshalb die realpolitischen Überlegungen des Editorials ins Leere laufen mußten. Das eben war der Unterschied zu 1794: Damals war die Hybris noch nicht total; sie wurde, als sie sich endgültig anschickte, die Substanz zu zerstören, von der Mehrheit als entsprechend gefährlich identifiziert und abgeschüttelt. Das totalitäre »Dämonenreich« des Nationalsozialismus war von anderer Qualität. Hier wirkte auf und durch die Verblendeten eine »eigene Logik, in die kein Eingriff von außen möglich« war. Während sich schon das Dröhnen russischer und amerikanischer Panzer näherte, wurden angebliche Deserteure von fliegenden Standgerichten auf Markplätzen gehenkt. Vor der »Unbeirrbarkeit der Hybris« kapituliert auch die fünfte Figur links oben: ein Wissender, der am Geschehen zweifelt, es innerlich ablehnt, aber machtlos ist und sich unauflöslich darin verstrickt weiß.
Ein dichtes Netz aus verordneten
Wahrheiten legt sich über die Wirklichkeit
Wirsings Appell an die Westmächte, die Bedrohung Europas durch Stalin ernst zu nehmen, war zugleich eine verdeckte Aufforderung an die NS-Führung, den westlichen Gegnern Konzessionen anzubieten und die eigenen Herrschaftsmethoden zu verändern, damit Großbritannien und die USA sich entgegen allen Verlautbarungen und Anzeichen doch noch zu einer Fühlungnahme bereit finden würden. Ähnliche Überlegungen hatten auch den Widerständler Adam von Trott zu Solz, Legationsrat im Auswärtigen Amt, motiviert, der bis in den Sommer 1944 hinein versuchte, Kontakte nach London zu knüpfen, und als Mitverschwörer des 20. Juli hingerichtet wurde. Wirsing hatte ihn gut gekannt. Aus geheimen Dokumenten des Reichssicherheitshauptamtes ergibt sich, daß das Anliegen der Verschwörer vermutlich auch Churchill persönlich vorgetragen wurde – wie man weiß, ohne Erfolg.
Wirsings Publizistik erregte die Aufmerksamkeit des Spionagechefs Walter Schellenberg, der ebenfalls von der deutschen Niederlage überzeugt war und Wirsing veranlaßte, ab September 1944 regelmäßig außenpolitische Lageberichte, die sogenannten Egmont-Berichte, anzufertigen, die einem ganz kleinen Personenkreis der obersten Führungsspitze zugeleitet wurden. Das Pseudonym »Egmont« bezog sich auf ein Zitat aus dem vierten Akt des gleichnamigen Dramas von Goethe: »Nicht dem Könige widersetzt man sich; man stellt sich nur dem Könige entgegen, der, einen falschen Weg zu wandeln, die ersten unglücklichen Schritte macht.« Es waren schonungslose außenpolitische Analysen samt Handlungsempfehlungen, für die Wirsing von Schellenberg die geheimsten Informationen zur Verfügung gestellt wurden.
Der eigentliche Zweck der Berichte bestand darin, entweder Hitler zu einem Kurswechsel zu motivieren oder aber Himmler und die SS-Führung zu veranlassen, sich über ihn hinwegzusetzen und selbst die außenpolitische Initiative zu ergreifen. Doch der Effekt blieb aus. Schellenberg berichtet in seinen Memoiren über eine – offenkundig falsch datierte – Audienz bei Hitler, der ihn drohend auf die Papiere ansprach und erklärte, in diesem Krieg gebe es keinen Kompromiß; wenn das deutsche Volk versage, gehe es eben unter. Schellenberg: »Hier stand der blanke Wahnsinn im Raum.« Im März 1945 wurden die Egmont-Berichte eingestellt.
Robespierre wurde von inneren, Hitler von äußeren Kräften gestürzt. Danach war ihr Bann gebrochen. Am 18. Thermidor 1794, acht Tage nach dem Tod des Tugendfanatikers, hieß es im Pariser Polizeibericht: »Die Dirnen treten wieder mit der üblichen Frechheit auf.« Der in der US-Uniform nach Deutschland zurückgekehrte Golo Mann (1909–1994) berichtet, wie erstaunt die Sieger 1945 waren, weil es in Deutschland »eigentlich überhaupt keine Nationalsozialisten gab. […] Der böse Zauber hielt nicht länger als der Zauberer.« In beiden Fällen hatte die Dämonie sich des personalen Charismas bedient. Die Höllen- und Versucherszenen des Hieronymus Bosch lehren jedoch, daß sie auch in anderer Weise wirksam werden kann. Boschs Bilderwelt enthält eine vielschichtige, rätselhafte Symbolik; unabhängig davon geht eine unmittelbare und suggestive Wirkung von ihnen aus. Der eigenwillige Bosch-Exeget Wilhelm Fraenger (1890–1964) meinte sogar, »daß in der simplen Sache, die man wirklich sieht, der ganze Tiefsinn steckt« und ein »vollkommenes Wörtlichnehmen« erlaubt sei.
Was also sehen wir? Menschen zerfallen in Einzelteile, ein Ohrenpaar hat sich verselbständigt, ein Mann kriecht mit dem Kopf voran in eine Muschel, so daß man nur noch sein Hinterteil sieht, andere verschwinden in aufgesperrten Tiermäulern. Man sieht Wesen halb Tier, halb Mensch in sich zerfallen, ohne Mitte und Gleichgewicht, hin- und hergeschüttelt zwischen Panik, Wahnsinn und Ekstase, überflutet mit Reizen und Informationen ohne Ordnung und Zusammenhang. Figuren in Gelehrtenroben tragen Nagerköpfe, ein hemmungsloser Intellektualismus, der noch die schlimmste Absurdität legitimiert, erscheint als Kehrseite tierischer Triebe. Eine gemeinsame Welt, auf die man sich vernünftigerweise beziehen kann, existiert nicht. Die Dämonie ist strukturell und hat die charismatische Repräsentation gar nicht nötig.
Der Nihilismus hat auch das Ende der jeweils zentralen »großen Erzählungen«, die er hervorgebracht hat, überdauert. An ihre Stelle ist eine Reihe variabler, teils sich ergänzender, teils sich widersprechender Erzählungen getreten, die auf dem Verwaltungs- und Verordnungsweg den Herrschaftsvollzug determinieren. Insofern markieren die Jahre 1945 und 1989 gar keinen Einschnitt. Max Weber nannte die Bürokratie den »technisch reinste[n] Typus der legalen Herrschaft«. Die kontinuierliche Arbeit ruhe auf bürokratischen Kräften, jedoch sei sie nie »wirklich rein bürokratisch«, sondern werde in mannigfacher Weise von Interessenvertretern im Verwaltungsapparat beeinflußt.
Hundert Jahre später scheint es kaum mehr erwähnenswert, daß politische Lobbyisten, ideologische Aktivisten, Parteifunktionäre und NGOs direkt oder indirekt in die Apparate inkorporiert sind. Für immer mehr Lebensbereiche gibt es »Beauftragte«, die ihren Ehrgeiz in die Normierung des öffentlichen und auch privaten Lebens setzen. Dieses institutionelle Gefüge wiederum ist eingebettet in ein System aus supranationalen Organisationen, internationalen Konventionen und globalen Konzernen. Geräuschlos, ohne Diskussion und Interventionsmöglichkeit legt sich ein immer dichteres Netz aus Quoten, Sprach- und Verhaltensregelungen und verordneten Wahrheiten über die Wirklichkeit.
Im Zwielicht einer Dämonie aus Bürokratie, Ideologie und Technik werden die Kategorien und Begriffe konturlos. Fixe Ideen von politischer Zweckmäßigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Kultursensibilität werden mit dem Wahren, Guten und Schönen identifiziert. Was als nicht hilfreich und ausgrenzend betrachtet wird und auf Mangel an Betroffenheit schließen läßt, wird als falsch, häßlich und böse verworfen. Solche systemische Hybris ist für den einzelnen verführerisch, weil sie ihn durch moralische Überhöhung über die unauflösbaren Widersprüche hinweghebt, die sie produziert, und damit vor kognitiven Dissonanzen bewahrt. Die Verführung wirkt um so stärker, je schwächer jemand ist. Jeder muß einen eigenen Weg finden, sich zu wappnen. ◆
THORSTEN HINZ
Thorsten Hinz, geb. 1962 in Barth, ist freier Autor und Journalist. Zuletzt erschien sein Buch Weltflucht und Massenwahn. Deutschland in Zeiten der Völkerwanderung, Berlin (JF-Edition) 2016. In Cato 3/2021 rezensierte er Jörg Baberowskis Buch Der bedrohte Leviathan.