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DAS ABENDLAND VERTEIDIGEN

31. Juli 2025 von DAVID ENGELS

Unser Kontinent ist von allen Seiten bedroht, sowohl von innen als auch von außen: Auf dem Spiel steht nichts weniger als das Überleben des Abendlands und all dessen, wofür es einst stand

Foto: Adobe Stock/Rebelx
Wenn wir Europa wirklich wieder in seiner eigenen Geschichte verwurzeln und eine positive Haltung gegenüber den großen Ideen unserer Vergangenheit wie dem Christentum und der Reichsidee einnehmen wollen, ist das Sacrum Imperium das ideale Vorbild. (Replik der Krone des Heiligen Römischen Reiches)

Wie viele Leser wissen, gehen meine Überlegungen meist von interkulturellen historischen Vergleichen aus, insbesondere was die Parallelen zwischen dem heutigen Europa und der römischen Republik im 1. Jahrhundert v. Chr. in der Krise betrifft. Massenmigration, sinkende Geburtenraten, soziale Polarisierung, Zerfall der Familie, Niedergang der traditionellen Religion, asymmetrische Kriege, Globalisierung, Krise der kulturellen Identität, Kriminalität, Umwandlung eines partizipativen politischen Systems in eine Oligarchie, Populismus – all dies ist nicht nur für die Gegenwart charakteristisch, sondern läßt sich eben auch am Ende der römischen Republik beobachten. Die Folgen waren hier zunächst eine endemische politische und wirtschaftliche Krise, dann eine Zeit der Unruhen und Bürgerkriege und schließlich die Übernahme der Macht durch ein autoritäres, konservatives und plebiszitäres Regime als einziges Mittel, um zwischen den gegnerischen Gruppen zu vermitteln – und so wie die Lage derzeit ist, sehe ich kaum eine Möglichkeit, einer solchen Entwicklung in Frankreich, Deutschland oder dem Rest Europas zu entgehen.
Der Vergleich mit Rom ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt aus einem umfassenderen Gedankengang zur Geschichte, denn ich bin überzeugt, daß alle großen Zivilisationen von einer symmetrischen Abfolge verschiedener, gleichsam dialektisch vorbedingter Phasen geprägt sind – einer »These«, die durch die Bedeutung der Transzendenz gekennzeichnet, einer »Antithese«, die durch Rationalismus geprägt, und einer »Synthese«, die durch eine kurze »bewußte« Rückkehr zur Tradition charakterisiert ist – und daß alle Zivilisationen, sobald diese Stadien durchlaufen sind, in einer Art posthistorischem Zustand der langsamen Versteinerung enden.
Das Abendland wird keine Ausnahme von dieser Regel darstellen, aber bevor wir sein aktuelles Zivilisationsstadium näher betrachten, müssen wir uns daran erinnern, was im Grunde genommen sein wahres Wesen ausmacht, um unseren historischen Platz richtig zu verstehen. Denn unsere kulturellen Wurzeln sind zwar äußerst vielfältig und reichen weit in die Vergangenheit zurück, wobei sie im wesentlichen das Erbe des Alten Orients, der griechisch-römischen Zivilisation, des frühen Christentums und der Traditionen der Kelten, Germanen und Slawen umfassen. Was uns jedoch wirklich zu Abendländern macht, ist nicht nur die Summe dieser historischen Kulturschichten, sondern eben die »faustische« Mentalität, die zu Beginn des Mittelalters aufkam und uns von anderen großen Zivilisationen unterscheidet. Der faustische Mensch zeichnet sich durch einen zwanghaften Drang nach Unendlichkeit, nach ultimativer Überschreitung aus; eine sowohl bewundernswerte als auch hochbedenkliche Tendenz, denn in einer ersten Phase, während des sogenannten Mittelalters, richtete sie sich auf Gott, in einer zweiten Phase, die der Moderne entspricht, hingegen auf die Materie. Die gotische Kathedrale und der amerikanische Wolkenkratzer sind nur zwei Seiten derselben Medaille, These und Antithese.
Aus dieser Perspektive scheint mir Europa gegenwärtig einer finalen Synthese immer näher zu kommen. Denn der Wokismus ist zweifellos der Höhepunkt dieser materialistischen, pseudohumanistischen, rationalistischen und universalistischen Antithese, und wir nähern uns dem Moment, da der Wokismus sich selbst ad absurdum führen und alle Gewißheiten mit sich reißen wird, auf denen die moderne Welt seit einem halben Jahrtausend errichtet ist. Gleichzeitig sehen wir aber auch die ersten Anzeichen dessen, was ich als »rationale Rückkehr zur Tradition« bezeichnet habe. Denn der bis zur Absurdität getriebene Rationalismus führt bereits die ersten Europäer zu der zwingenden Einsicht, daß das pseudohumanistische Projekt gescheitert ist und nur die Tradition eine solide Grundlage bieten kann, um unsere Zivilisation wieder zu stabilisieren. Und in der Tat: Wenn wir uns umschauen, sehen wir vom Neoklassizismus in der Kunst über die Tradwives in den sozialen Medien bis hin zur neuen Begeisterung der Jugend für den traditionalistischen Katholizismus überall bereits erste Anzeichen für einen solchen Paradigmenwechsel. Während aber die ursprüngliche Tradition, also die des Mittelalters, instinktiv, alternativlos, vererbt und organisch war, wird die künftige Erneuerung der Tradition zumindest in Teilen gewollt, rational und sogar teilweise artifiziell sein: Es gibt keinen Weg zurück in die echte Unmittelbarkeit einer holistischen Gesellschaft.
Konkret stehen wir nunmehr vor einem doppelten Problem, das für jede Spätzivilisation recht typisch ist: auf der einen Seite die Massenmigration, auf der anderen Seite der Ausstieg vieler Abendländer aus der Geschichte. Wie können wir erstere integrieren und letztere wieder europäisieren? Was die Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, so ist es offensichtlich, daß selbst bei einer strikten »Remigration« der illegalen oder straffälligen Asylanten immer noch das immense Problem von Millionen von Menschen bestehenbleibt, die – manchmal seit Generationen – die europäische Staatsbürgerschaft besitzen, aber dennoch in nicht unwesentlichen Teilen unserer Zivilisation fremd bis feindlich gegenüberstehen. Um dieses Dilemma zu lösen, könnten wir uns von der Kulturpolitik des ­Augustus inspirieren lassen, der in einer ähnlichen Situation die römische Identität von einer im wesentlichen ethnischen Identität in eine zivilisatorische überführt hatte, die sowohl inklusiv als auch konservativ war. So konnten Nichtrömer nur durch den Nachweis ihrer Loyalität gegenüber dem Staat – etwa durch Militärdienst, Erlernen der lateinischen Sprache, Tragen der Toga, Ausübung des Kaiserkultes oder städtisches Mäzenatentum – schrittweise das Recht erwerben, aktiver in verschiedene Formen von Staatsbürgerschaft integriert zu werden und die Stufen der römischen Gesellschaft zu erklimmen. Auch bei uns sollte es wieder ein erstrebenswertes Ziel sein, sich einen echten »Abendländer« zu nennen, und nicht eine Quelle von Verlegenheit und schlechtem Gewissen. Dies sollte auch die Re-Europäisierung der Europäer beflügeln: Sicherlich ist es typisch für eine späte Zivilisation, daß immer mehr Bürger aus der Zivilisation »austreten«, um in die »Postgeschichte« einzutreten, aber bei entsprechendem politischen Willen bestehen immer noch hinreichende Möglichkeiten, sowohl die Bildung einer soliden patriotischen Elite zu gewährleisten als auch die Massen auf einen gewissen kulturellen Patriotismus einzuschwören.
Es versteht sich von selbst, daß im Zentrum der Rückkehr zur Tradition eine Erneuerung des Christentums stehen muß, das für alle Europäer den bevorzugten und vorrangigen, da letztlich identitär alternativlosen Weg zur Transzendenz darstellen sollte. Dennoch darf man sich keine Illusionen machen: Genau wie im augusteischen Prinzipat wird die Rückkehr zu Tradition und Transzendenz das Werk einer kleinen politischen und intellektuellen Elite sein müssen, da die Massen von einem solchen Restaurationsprogramm wohl nur den rein patriotischen, ja opportunistischen Aspekt sehen und verstehen werden. Erst als die Antike wirklich am Ende ihrer Entwicklung angelangt war, feierten die alten Glaubensvorstellungen, die durch die augusteische Restauration wiederbelebt worden waren, ihre wahre Rückkehr als Massenphänomen, allerdings in einer zunehmend primitiven, sterilen und synkretistischen Form; und so mag es auch dem Abendland gehen. Übrigens entscheidet sich in diesem Moment auch, ob das, was von einer Zivilisation übrigbleibt, wie etwa das Alte Ägypten, mehr oder weniger ungestört fossilisiert oder ob es vielmehr unter den Einfluß einer anderen Religion beziehungsweise Zivilisation gerät, wie es beim Römischen Reich und dem jungen Christentum, beim chinesischen Han-Reich und dem indischen Buddhismus oder beim post­sassani­di­schen Iran und dem Islam der Fall war.
Der Übergang von den letzten Exzessen der »woken« Antithese zur endgültigen traditionalistischen Synthese unserer Zivilisation wird nur durch einen echten gemeinsamen abendländischen Patriotismus und damit durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den »letzten« Europäern aller Nationen bewältigt werden können und mithin weder dem Brüsseler »Europäismus« noch dem nationalstaatlichen Souveränismus entsprechen.
So ist die von der EU vertretene Ideologie der schlimmste Feind der wahren abendländischen Identität, da er sowohl nationale als auch zivilisatorische Besonderheiten leugnet und aus unserer Geschichte nur Rationalismus, Globalismus, Individualismus und universale Menschenrechte herausgreift, deren Mutation zum Wokismus kein Zufall ist, sondern das logische Ergebnis. Aber auch der Souveränismus ist problematisch, selbst wenn er psychologisch durchaus als Reflex auf den woken Universalismus verstanden und entschuldigt werden kann. Denn eine erneute Aufteilung Europas in etwa dreißig Nationalstaaten, von denen die meisten auf internationaler Ebene keinerlei Gewicht haben, muß zur Fragmentierung unseres zivilisatorischen Großraums führen, dessen Interessenkonflikte es früher oder später den anderen Großmächten – etwa den USA, Rußland, China, den Golfmonarchien und bald auch Indien und Brasilien – ermöglichen werden, sich noch ungestörter als heute in unsere Angelegenheiten einzumischen. Der Hesperialismus, also der von mir vorgeschlagene identitäre europäische Patriotismus, schlägt einen Mittelweg vor: Wir brauchen eine enge Zusammenarbeit in allen Bereichen, die der Verteidigung der lebenswichtigen Interessen unserer Zivilisation dienen (Zugang zu strategischen Ressourcen, Kontrolle der Außengrenzen, gemeinsame Verteidigung und Außenpolitik, Spitzenforschung, kontinentale Verkehrswege, rechtliche und wirtschaftliche Interkompatibilität), und eine Rückkehr zur Subsidiarität in allen anderen – eine genaue Umkehrung der gegenwärtigen EU also, die nur nach innen stark, nach außen aber schwach ist.
Natürlich hat eine solche institutionelle Kehrtwende nur nach einer echten ideologischen, ja identitären Rückbesinnung einen Sinn, wäre es doch ein schlimmer Fehler, der gegenwärtigen EU etwa die Kontrolle über eine echte europäische Armee zu übertragen. Eine derartige Rückbesinnung impliziert aber auch eine erneute Vergegenwärtigung all dessen, was uns Abendländer ausmacht. Es ist eine historische Tatsache, daß ein Portugiese einem Polen oder ein Norweger einem Italiener nähersteht als sie allesamt einem Inder oder einem Chinesen: Viele Jahrhunderte gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Träume und intensiver Interaktionen haben eine echte Schicksalsgemeinschaft geformt. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hätte auch niemand diese gemeinsame Identität ernsthaft in Frage gestellt; paradoxerweise war es allein die Ideologie des Liberalismus, welche die Europäer davon überzeugt hat, ihre eigene kollektive Identität mit derjenigen der gesamten Menschheit zu verwechseln. Daher muß auch der erste Schritt im Kampf um Europa kultureller Natur sein: Die verschiedenen nationalen Patrioten müssen die abendländische Zivilisation in ihre politische Vision integrieren und in engste Partnerschaft miteinander treten.
Hier kommt dann auch der Begriff der »rationalen Rückkehr zur Tradition« ins Spiel, der den Fortschritt der modernen Welt mit dem soliden Fundament der Transzendenz in Einklang bringen soll. Der Schlüssel liegt hier im Begriff »rational«: Die Synthese einer Zivilisation ist nicht einfach eine zyklische Rückkehr zu den Ursprüngen, sondern der Moment, in dem der Verstand durch die Tradition transzendiert wird, was auch den Endpunkt der Geschichte einer jeden Zivilisation und den Moment darstellt, in dem sie ihr letztes Potential ausschöpft. Es versteht sich dabei von selbst, daß diese Synthese die Errungenschaften der jeweiligen »Moderne« nicht ablehnt, sondern vielmehr in sublimierter Form bewahrt. So wie die augusteische Kunst versuchte, die Ästhetik der Archaik mit einer äußerst modernen hellenistischen Technologie wiederherzustellen; so wie das chinesische Han-Reich sich bemühte, mit den Mitteln der »Streitenden Reiche« das alte Zhou-Reich wiederherzustellen; so wie die dritte Dynastie von Ur überzeugt war, die ursprünglichen Ursprünge der Gilgamesch-Zeit wiederherzustellen, obwohl sie die Praktiken des Akkadischen Reiches fortsetzte – so wird die »rationale Rückkehr zu den Ursprüngen« auch im Abendland versuchen, Archaismus und Modernismus in einer Art »neuem Klassizismus« zu vereinen. Dies wird zweifellos nicht ohne Reibungen und auch eine gewisse »Gewolltheit« ablaufen. Dieser Preis muß allerdings gezahlt werden, um den völligen Zusammenbruch zu verhindern.
Wenn wir in diesem Zusammenhang ganz konkret über das institutionelle Modell einer solchen Wende sprechen wollen, muß vom Heiligen Römischen Reich die Rede sein. Die EU ist machtlos, wenn es darum geht, unsere Interessen in der Welt zu verteidigen, denn ihr Universalismus verbietet ihr eine echte voluntaristische und patriotische Politik. Gleichzeitig wird sie immer autoritärer, wenn es sich darum handelt, den Nationalstaaten ihre Entscheidungen aufzuzwingen: Unfähig, sich gegen China zu behaupten, ist sie trotzdem fähig, einem ganzen Kontinent das Verbot von Plastikstrohalmen vorzuschreiben. Dieser Trend muß umgekehrt werden: Stärke und Stolz nach außen, Freiheit und Subsidiarität nach innen. Gerade für einen solchen freien und supranationalen Staat ist aber das Heilige Römische Reich das beste Vorbild: Ein halbes Jahrtausend gelang es ihm, seine Grenzen erfolgreich zu verteidigen und gleichzeitig die Freiheit und Vielfalt unzähliger Königreiche, Herzogtümer, Städte oder Fürstbistümer von der Provence bis nach Pommern und von den Niederlanden bis ins Herz Italiens zu gewährleisten – und das sogar unter Beibehaltung des römisch-republikanischen Beispiels der Wahl des Souveräns. Erst als die Einheit der christlichen Welt durch Protestantismus, Renaissance und Nationalismus zerbrach, begann auch der Niedergang des alten Reichs, das jedoch zumindest im Prinzip bis 1918 in Form seines österreichisch-ungarischen Ausläufers weiterbestand. Wenn wir Europa wirklich wieder in seiner eigenen Geschichte verwurzeln und eine positive Haltung gegenüber den großen Ideen unserer Vergangenheit wie dem Christentum und der Reichsidee einnehmen wollen, ist das Sacrum Imperium das ideale Vorbild.
Daß angesichts von Globalisierung und Multikulturalismus der Souveränismus als letzter Schutzwall gegen den vollständigen Identitätsverlust erscheinen kann, ist verständlich. Tatsache ist jedoch, daß Europa weder eine Insel ist noch wie im 19. Jahrhundert auf dem Höhepunkt seiner Macht steht. Unser Kontinent ist von allen Seiten bedroht, sowohl von innen als auch von außen. Auf dem Spiel steht nichts weniger als das Überleben des Abendlands und all dessen, wofür es einst stand. Es mag paradox erscheinen, aber wenn wir unsere nationalen Identitäten retten wollen, muß Europa seinen christlich-abendländischen Patriotismus wiederentdecken und sich zu einer eigenen souveränen Supermacht entwickeln. Andernfalls werden wir zu einer Mischung aus einem Freilichtmuseum für Chinesen und Amerikaner und einem Schachbrett für die zukünftigen Weltkriege der anderen Großmächte. ◆

Bild von DAVID ENGELS,

DAVID ENGELS,

geb. 1979 in Verviers, ist Professor an der ICES (Vendée) und arbeitet als Essayist für verschiedenste europäische Medien. Er schreibt regelmäßig für Cato.

No. 4 | 2025

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Kategorie: Artikel Stichworte: Artikel, Engels

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