Der erfolgreiche Wiederaufbau historischer Gebäude in Frankfurt, Dresden, Berlin läutet das Ende der brutalistischen Moderne ein. Der spontane Sinn für Schönheit läßt sich nicht länger unterdrücken. Die immer noch reichlich vorhandene politische Unterstützung für die modernistische Architektur hält der Architekt und Stadtplaner Léon Krier für moralisch erpreßt. Aber siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verliert das Zwangsmittel allmählich seine Wirkung.
Fotos: Hagen Schnauss
Die Tatsache, daß kollektive architektonische Bußübungen weiterhin die architektonische Gestaltung beherrschen, ist eine Katastrophe nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt. Trotz der äußerst populären Wiederaufbauprojekte traditioneller und klassischer Gebäude in der Dresdner Altstadt, am Frankfurter Römer, in Gestalt des Berliner Schlosses sowie in Mannheim und Potsdam nimmt die Tragödie weiter ihren Lauf. Schließlich handelt es sich bei den Wiederaufbauprojekten ausnahmslos um einzelne, private Initiativen, die ohne besonderen politischen Anspruch von engagierten Bürgern angestoßen und vorangetrieben wurden. Überall müssen sie den hartnäckigen Widerstand des politischen, kulturellen und berufsständischen Establishments überwinden.
Das jüngste Beispiel ist die von siebzig Architekten unterzeichnete Initiative der Zeitschrift ARCH+ »Gegen Modernismusfeindlichkeit und Architekturpopulismus«. Parallel dazu ruft in den sozialen Medien deren Kampagne »Rekonstruktions-Watch« dazu auf, bundesweit Versuche auszumachen und anzuprangern, womöglich mit den falschen Bündnispartnern irgendeinen Teil Deutschlands wiederaufzubauen, der durch alliierte Bomben und modernistischen Vandalismus zerstört wurde. Unter dem selbsternannten Inquisitor Stephan Trüby von der Universität Stuttgart sollen Rekonstruktionsvorhaben als verdeckte rechtsextremistische Operationen und als Projekte revisionistischer Geschichtsschreibung verleumdet werden. Die durchaus zaghafte und vereinzelte Loslösung von der modernistischen Einparteienherrschaft wird als potentiell faschistisch und demokratiefeindlich gebrandmarkt. Wer der Adressat dieser Anprangerungen sein soll, wird nicht gesagt.
Das Verräterische daran ist, daß der »Rekonstruktions-Watch« sich nicht um die politischen Hintergründe bei konservierenden Restaurierungen und Rekonstruktionen modernistischer Wahrzeichen wie des Bauhauses und der Meisterhäuser in Dessau oder der Weißenhofsiedlung in Stuttgart kümmert. Öffentlich in Frage gestellt wird auch nicht die allgegenwärtige und routinemäßige modernistische Vergewaltigung traditioneller Gebäude und Ensembles. Vor allem darf die modernistische kollektive Gehirnwäsche durch Massenmedien und -erziehung nicht nachlassen. Jeglicher Widerstand soll im Keim erstickt werden. Mittlerweile scheint dieses Gift aber auch ein Gegengift hervorgebracht zu haben. Trübys Initiative zeigt unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Dieser Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen. Endlich werden in den Medien auch gegenteilige Meinungen laut, denen sich die Kulturpolitik hoffentlich bald anschließt.
Die wiederaufgebaute Frankfurter Altstadt mit 15 historischen Gebäuden und 20 sogenannten »schöpferischen Nachbauten« auf dem alten Grundriß war schon Monate vor der Fertigstellung ein riesiger Erfolg. Noch vor 15 Jahren stieß die Initiative der drei Frankfurter Bürger Jürgen Aha, Günter Possmann und Frank Albrecht auf heftigen Widerstand aus Architektenschaft und Politik. Jetzt, da die herrlichen Stadthäuser den monströsen Betonklotz des Technischen Rathauses glücklich ersetzt haben, werden die Stammväter des Vorhabens kaum noch erwähnt. »Der Sieg hat viele Väter und die Niederlage ist ein Waisenkind«, sagen die Engländer. Die Frankfurter Bürgerschaft hingegen stand von Anfang an hinter diesem Projekt – wie sie jetzt auch Jürgen Ahas neue Initiative zur Rekonstruktion des prächtigen Alten Schauspielhauses wie üblich gegen den Willen des kulturpolitischen Establishments lebhaft begrüßt. Nach siebzig Jahren ästhetischer Entmündigung des Bürgers wird bei allen symbolträchtigen Unternehmen wie den Dresdner, Berliner und Frankfurter Rekonstruktionsprojekten deutlich, daß modernistische Gehirnwäsche und Verleumdung nicht mehr wirken, daß die trotzige Kraft des angeborenen ästhetischen Gefühls nicht kleinzukriegen ist. Die natürliche Gabe aller Menschen, Schönheit zu erkennen, zu bewundern, zu lieben und zu pflegen, ist ihnen in der Nachkriegszeit erfolgreich entwendet worden; nun aber wird sie zurückerobert.
Schön sollte nach dem Krieg nicht mehr das sein, was es immer war und sein wird, sondern das, was Kulturkommissare dafür erklären. Zuvor war Schönheit ein unbestrittener Wert, den alle Klassen der Gesellschaft, alle Religionen und Völker der Erde teilten. Unabhängig von Stil- und Zeitgeisttendenzen waren Tempel, Moscheen und Kirchen für Gläubige und Nichtgläubige in aller Regel schön, Schlösser waren schön für Schloßherrn wie für Untertanen, Ställe wirkten schön auf Bauern, Herren und Knechte. Auf einmal aber sollte nur noch das als schön gelten, was als modern deklariert wurde, und modern ist natürlich nur das, was Modernisten dafür halten. Was nicht diesen Partei-Stempel trägt, wird ipso facto als unmodern, »historisch«, »historistisch« oder gar »historizistisch« gebrandmarkt und kann auf keinen Fall etwas taugen, ganz gleich wie gekonnt auch immer es gemacht wäre. Es kann einfach nicht schön sein, selbst wenn es noch so entzückend ist, und es kann nicht einmal als modern durchgehen, selbst wenn es das de facto ist. Die einst unbestrittene Urteilsfähigkeit des Normalbürgers in Sachen Schönheit wurde ihm systematisch von »Experten« streitig gemacht. Seitdem wird das allen Menschen angeborene natürliche Gefühl für Schönheit in Massenmedien, Architekturschulen und -wettbewerben mit Füßen getreten.
Der Durchgang Braubachstraße 29 zum »Goldenen Lämmchen«; das Haus war erst 1972 abgerissen worden. Die Figuren aus Muschelkal stammen aus dem Jahre 1911 und zierten den Durchgang auch vor dem Krieg. Rechts daneben ein Fenster des Hauses Markt 40 »Zu den drei Römern« am Krönungsweg, in dem diverse eingelagerte Spolien des Vorgängerbaus aus der Renaissance verbaut wurden.
Daß mit Ausnahme von Dankwart Guratzsch in Frankfurt und Rainer Haubrich in Berlin alle bekannten Architektur- und Kunstkritiker Modernisten waren und sind, bleibt dem Publikum verborgen oder unverständlich. Immerhin verdeutlicht der »Rekonstruktions-Watch« unübersehbar, daß die siebzig Unterzeichner der Initiative von Arch+ schlichtweg intolerante Modernisten sind, die nicht verstehen wollen, daß Demokratie gleichbedeutend mit Wahlfreiheit ist und zwar auch und gerade in Fragen der Architektur. Es ist undemokratisch, jemanden als erziehungsbedürftigen Reaktionär abzustempeln, dem sogenannte »moderne« Kunst und Architektur nicht gefallen.
Wie sind das massive künstlerische Versagen und die intellektuelle Engstirnigkeit eines ganzen Berufsstandes zu erklären, der unsere tägliche Lebensumwelt gestaltet? Die alles entscheidende Rolle spielt offenbar eine gigantische Heuchelei. Im täglichen Zusammenleben von rivalisierenden Individuen, Familien, Gruppen, Gesellschaften und Nationen spielt die Heuchelei eine durchaus positive, ja notwendige Rolle, denn sie schafft eine friedensstiftende Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen Gedanken und Worten. Auf dem Gebiet der Ästhetik aber wirkt die Heuchelei destruktiv. Dort herrschen der Modernismus und das Bekenntnis zu ihm seit fast einem Jahrhundert unangefochten. Sprachen und Religionen, soziale Konstrukte und Traditionen trennen die Menschen seit jeher voneinander. Dennoch gibt es einen universellen Sinn für Schönheit – für schöne Gebäude, Bilder, Skulpturen und Musik. Vor ihnen sind alle Menschen in zwangloser Bewunderung und ohne die Notwendigkeit von Übersetzungen, Erklärungen und Begründungen miteinander vereint. All die kunstlosen und sinnarmen modernistischen Fabrikate dagegen, die unsere Alltagswelt, den öffentlichen Raum und sogar die Museen verhunzen, sind Monumente der Wertlosigkeit und des leeren Versprechens. Die Konjunktur des Modernismus ist eine Konjunktur der Lüge und der Heuchelei, die aber vor der ästhetischen Urteilskraft des Individuums haltmacht. Denn diese ist nicht dauerhaft manipulierbar. Es mag moralische und politische Dogmen geben, die zu bestimmten Lippenbekenntnissen nötigen. Unterdrückt werden kann das spontane Bekenntnis des ästhetischen Urteils, nicht aber seine tiefe Regung. Im kollektiven Maßstab führt diese Unterdrückung zu verheerenden Konsequenzen für die Kunst, die Architektur und das handwerkliche Können. Ständig hören wir, wie sich hochgebildete Leute für ihre Meinung zu einem bestimmten Kunst- oder Bauwerk mit dem Satz entschuldigen: »Ich bin aber kein Experte.«
Als ob man ein Experte sein müßte, um zu wissen, welche Frau man liebt. Oder in welcher Landschaft man sich zu Hause fühlt. Wahre Liebe fällt ein reines, radikales und unwiderrufliches Urteil. Ein solches Urteil fordert absoluten Respekt, erheischt würdigende Anerkennung und ist nicht manipulierbar. Wir alle urteilen permanent und überall. Die Summe unserer individuellen spontanen ästhetischen Urteile ist der kollektive Motor aller ästhetischen Kultur, aller klassischen Kultur überhaupt. In den wunderbaren Rekonstruktionen von Frankfurt, Dresden, Berlin und Potsdam manifestiert sich endlich wieder das spontane und von keiner Heuchelei verstellte ästhetische Urteil. Statt diejenigen anzuklagen, die all das initiiert haben, wäre es vielleicht an der Zeit, daß sich die selbstherrlichen Experten kollektiv für die gängige menschenverachtende Häßlichkeit, Trostlosigkeit und Brutalität ihrer Werke entschuldigten, für die ganz allein sie verantwortlich sind. Oder daß sie, wenn das zuviel verlangt ist, zumindest schweigen – statt die moralische Keule zu schwingen. ◆
LÉON KRIER
geb. 1946 in Luxemburg, ist als Archtitekt und Stadtplaner einer der bedeutendsten Vertreter des traditionellen Bauens. Auf deutsch erschien 1998 Architektur. Freiheit oder Fatalismus, München (Prestel).Ein Interview mit Krier und ein Essay über sein Projekt Poundbury erschienen in Cato 1/2017. In Heft 2/2018 erschien sein Essay »Handwerk im Industreizeitalter«