Indem wir uns selbst sehenden Auges in Elementarteilchen einer globalen Bevölkerungsmasse transformieren lassen, die auf ihre reine physische Existenz reduziert sind, unterwerfen wir uns implizit einer omnipotenten, über Leben und Tod verfügenden Macht
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Das natürliche nackte Leben war im Ancien régime politisch belanglos und als kreatürliches Leben gehörte es Gott und nicht dem Staat. Die Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens
Daß die nackte, bloße Lebendigkeit sich zuletzt als der einzige Seinsmodus herausschälen würde, der den westlichen Gesellschaften für unbedingt schützens- und erhaltenswert gilt, haben hellsichtige Theoretiker des Politischen frühzeitig prognostiziert. Wie Arnold Gehlen 1956 in seiner sozialanthropologischen Untersuchung Urmensch und Spätkultur konstatierte, tendieren die modernen westlichen Gesellschaften dazu, einen kontinuierlich anschwellenden Strom des Überflusses zu generieren und den Zweck der Politik auf die Steigerung des Lebenskomforts, der Behaglichkeit zu reduzieren: »In einer Welt der Maschinenkultur und des steigenden, wohlverteilten Lebensstandards« sieht man »vor sich, wie die Millionenmassen Konsumierender es sich in der mechanisch gewordenen Natur gemütlich machen, sich gegenseitig in ihrer bloßen Menschlichkeit anerkennend […] und von allen Seiten her in der Überzeugung finden[d], daß das Leben der Güter höchstes ist.« Wie Gehlen ging auch Hannah Arendt davon aus, daß eine vollentwickelte Konsumgesellschaft »sich für nichts anderes interessieren« werde »als für die drohende Knappheit oder den möglichen Überfluß dessen, was das Leben für sein Lebendigsein braucht«, so daß »innerhalb der mannigfaltigen Gliederungen der menschlichen Bedingtheit und der ihr entsprechenden menschlichen Vermögen gerade die Tatsache des Lebens absolut vorherrschend« wird. Eingangs der neunziger Jahre schließlich beschrieb der Universalhistoriker Rolf Peter Sieferle in seinem philosophischen Großessay Epochenwechsel eine »Rebellion des Lebens«, die das elementare, brausende, vitale Strömen aus der äußeren Eindämmung durch Systeme und Institutionen befreit: Das Leben, das dem Gefängnis der Institutionen und den Bindungen der Kultur entronnen ist, »zerrt immer wieder an den Ketten der Kultur, will sie zerreißen, um sich wild zu ergießen, zu verschwenden und zu steigern. […] Es geizt nicht mit sich selbst, sondern schäumt über vor Lust und Selbstgenuß.« Träger dieser Revolte ist das »nackte, triebhaft-expressive, dionysische Individuum«, das nach Steigerung der Erlebnisdichte und Intensität der Erfahrung verlangt. So vertritt es die »totale Emanzipation, Autonomie und Selbstverwirklichung« des Subjekts aus vorgefundenen Einbindungen jeder Art in kulturelle Ordnungen, die dem Leben äußerlich sind, und aus allen geschichtlich überlieferten Formen, die seine hedonistische Denkungsart nur noch als harten, lebensfeindlichen Zwang empfinden kann.
Je mehr indessen das bloße Leben den öffentlich-politischen Raum beherrscht und alle anderen Rechts- und Persönlichkeitsgüter überstrahlt (je mehr die Menschen das Leben als das höchste Gut erachten und seine umfassende Sicherung erwarten), desto umfassender greift die souveräne staatliche Gewalt auf den menschlichen Körper und die unmittelbaren Lebensvorgänge zu. Je mehr der Politik die Aufgabe beigemessen ist, den Prozeß des Lebens zu schützen, zu verlängern, zu intensivieren und zu steigern, desto nachhaltiger erfolgt die Einbeziehung der natürlichen, biologischen Existenz des Menschen in die Mechanismen und Kalküle der Macht. Indem das physisch-biologische Leben mit seinen Bedürfnissen, Ansprüchen und Nöten zum Dreh- und Angelpunkt des Politischen wird, weitet sich die staatliche, biopolitische Verfügungsgewalt über den Körper, die Gesundheit und die unmittelbare Daseinswirklichkeit aus. So paradox es klingt: Sobald das dionysische, lebenshungrige, mit rebellischer Geste auftretende Individuum die politische Szenerie beherrscht, nimmt zugleich die Bereitschaft der Bürger zu, obrigkeitliche Interventionen in das Alltagsleben hinzunehmen und sich einem zwangsstaatlichen Maßnahmensystem zu unterwerfen, das bis in die unmittelbare Körperlichkeit des Menschen dringt. Je mehr der vitale, im Werden und Vergehen dynamisch schwingende Strom des Lebens die äußeren Eindämmungen überschwemmt, desto kraftloser werden jene institutionell gesicherten Beschränkungen staatlichen Handelns, jene rechtlich stabilisierten Schutzmauern und Gesetze, die dem politischen, auf Dauer gestellten Körper eignen.
Die Verfügungsgewalt des Staates
über die physische Existenz des Bürgers
Wie Giorgio Agamben festgestellt hat, ist der bereits moderne Staats- und Souveränitätsbegriff selbst mit einer »Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens« verknüpft: »Jenes natürliche nackte Leben, das im Ancien régime politisch belanglos war und als kreatürliches Leben Gott gehörte, wird nun erstrangig in der Struktur des Staates und bildet sogar das irdische Fundament der staatlichen Legitimität und der Souveränität.« Jedoch bleibt die Verfügungsgewalt des Staates über die physische Existenz seiner Bürger die längste Zeit durch juristische Regularien, institutionell verbürgerte Freiheitsrechte und überkommene Moralvorstellungen begrenzt. So betreffen die Konstellationen, in denen der Zugriff der souveränen Gewalt auf die unmittelbare Lebendigkeit des Menschen totalen Charakter annehmen kann, zunächst nur einzelne, explizit entrechtete Gruppen. Die Räume und Zusammenhänge, in denen dies geschieht, sind hinreichend bekannt und von einer düsteren Aura des Schreckens umgeben: Eugenik, Euthanasie, lebensunwertes Leben, Versuchspersonen, Konzentrations- und Vernichtungslager. Insbesondere die totalitären Lager sind Orte, an denen Agamben zufolge erstmals eine kollektiv-politische Organisation des menschlichen Seins installiert wurde, die einzig und allein auf dem bloßen Leben gründet. Dabei fällt auf, daß die Objekte der Menschenvernutzungsregime immer erst des Schutzes der nationalen Gesetzgebung beraubt und per Entzug der Staatsbürgerschaft entnationalisiert werden, bevor man sie ins Lager verweist und dort zu lebenden Toten macht. Sie werden per Verwaltungsakt ihres politischen Status entkleidet, aus der nationalstaatlichen Rechtsordnung entlassen und auf das nackte, bestimmungslose Leben reduziert, das aller Rechte und Qualitäten ledig ist. Erst nachdem ein solcher staats-, nations- und rechtloser Status hergestellt wurde, sind die Voraussetzungen gegeben, die erfüllt sein müssen, um Menschen in den Schinderhütten des Totalitarismus zu zermahlen.
Den planetarischen Weltenlenkern
schutz- und heillos ausgeliefert
In Zeiten der Schwächung und prospektiven Auflösung des Nationalstaates allerdings droht diese existentielle Verwundbarkeit nicht mehr nur einzelne, explizit entrechtete Gruppen zu betreffen, sondern tendenziell uns alle: Wenn ein Weltverwaltungsregime sich etabliert und die territorial begrenzte Staatenwelt zu Transmissionsriemen global erweiterter Mächte degradiert, gehen wir der durch die nationalstaatlichen Institutionen verbürgten Rechte verlustig. Sowie wir keine nationalpolitischen Zugehörigkeiten mehr besitzen und nur noch Menschen als solche sind, gibt es niemanden mehr, der unsere Natur- oder Menschenrechte effektiv wahrt und schützt. Aus allen partikularen Bindungen herausgelöst, sind wir nicht mehr Teil einer gemeinsam eingerichteten, institutionell gesicherten Welt, durch die allein uns Rechte zukommen können. Wer nicht mehr (mit besonderen Rechten und Vorrechten ausgestatteter) Staatsbürger eines bestimmten Landes ist, sondern nur noch Mensch an sich, ist den Apparaturen und Registraturen der planetarischen Weltenlenker schutz- und heillos ausgesetzt. Giorgio Agamben beschreibt den Homo sacer als eine Grenzfigur der römischen Staats- und Sozialordnung, die auf ihre nackte physische Existenz verwiesen und infolgedessen aus allen rechtlichen Schutzräumen entlassen ist, aus dem religiös-politischen Ordnungszusammenhang herausfällt; die zwar nicht gerichtlich verurteilt oder im Zuge religiöser Riten und Zeremonien geopfert, von der souveränen Gewalt aber jederzeit straflos getötet werden kann. Was unter den Bedingungen der Herrschaft des Rechts einen absoluten Ausnahmetatbestand darstellt, der das Recht sistiert, wird unter den Bedingungen des universalen Weltverwaltungsregimes zur Conditio humana für uns alle. Wenn das universale System der Weltregierung die nationalstaatlichen, rechtswahrenden Ordnungen ersetzt, sind wir alle Homo sacer, muß man uns nicht mehr erst durch aufwendige Prozeduren entnationalisieren, politischer Qualitäten entkleiden und staatsbürgerlicher Zugehörigkeitsrechte berauben. Indem wir uns selbst sehenden Auges in Elementarteilchen einer globalen Bevölkerungsmasse transformieren lassen, die auf ihre reine physische Existenz reduziert sind, unterwerfen wir uns implizit einer omnipotenten, über Leben und Tod verfügenden Macht. Indem wir frohen Herzens den vermeintlich antiquierten, nationalstaatlichen Rechts- und Ordnungsrahmen aufgeben und darauf bestehen, in einer Welt ohne Grenzen nur noch bloße Menschen zu sein, reines (nacktes) Leben darzustellen, ermächtigen wir unter der Hand eine weltweit expandierte biopolitische Macht, prinzipiell schrankenlos in unsere natürliche Lebendigkeit zu intervenieren: sie nach freiem, souveränem Ermessen gentechnisch zu manipulieren, transhumanistisch zu optimieren oder thanatopolitisch zu eliminieren. ◆
SIMON KIESSLING,
geb. 1971, freier Autor und Übersetzer; Studium in Heidelberg und Berlin, Promotion 2006 mit einer Arbeit über die antiautoritäre Revolte der Achtundsechziger. 2019 erschien von ihm Selbstaufgabe einer Zivilisation? Gender Mainstreaming – No Border – One World.