»Einen Kulturkampf, den man nicht annehmen will, verliert man. Insofern rufe ich dazu auf, sich mit den Quellen der eigenen Überlieferung zu beschäftigen.«
Foto: Nius
Alexander Kissler
Alexander Kissler, überzeugter und streitbarer Abendländer, ist mit Rheinwasser getauft worden und in der Pfalz aufgewachsen. So nimmt es nicht wunder, daß für den Katholiken Kissler der deutsche Schicksalsstrom zu einem bedeutsamen Referenzpunkt seines Lebens geworden ist. Kissler ist, trotz alledem und alledem, von der auch in finsteren Zeiten anhaltenden Wirkmächtigkeit des Wahren, Guten und Schönen überzeugt.
Sie sind 1969 in Speyer geboren. Diese Stadt liegt am Rhein und geht auf eine römische Siedlung zurück. Wieviel von einem Römer steckt noch in Ihnen?
Ich bin in Speyer geboren, aber in Bad Dürkheim aufgewachsen. Dort habe ich die Grundschule und das Gymnasium absolviert und nach dem Abitur auch den Zivildienst. Aber auch in Bad Dürkheim, in der Rhein-Neckar-Region und am Rande des Pfälzerwaldes ist man Sohn eines Stromes, der das Abendland verbindet, und kommt aus einer Gegend, in der sich die Völker immer gemischt haben, wo die Völker immer auf Durchzug und in der seit der Reformation Katholiken und Protestanten ungefähr gleich stark vertreten waren. Der romanische Speyerer Dom, bereits 1061 geweiht, ist für mich das schönste Gotteshaus, das ich kenne. Gerade in dieser Schlichtheit, dieser überwältigenden Größe, dieser klaren Ausrichtung hin zum Altar. Speyer am Rhein ist eingebunden in den Schicksalsstrom des Abendlandes. Man ist dadurch in gewisser Weise ein vorgelagerter Römer. Aber das merkt man erst im Laufe des Lebens. Als Pfälzer habe ich mich schon immer wahrgenommen.
Zur Pfalz gehört das Hambacher Schloß. Anno 1832 haben dort 25 000 Menschen sechs Tage lang, vom 27. Mai bis zum 1. Juni, das Nationalfest der Deutschen gefeiert. Und seit jenem Fest gilt das Hambacher Schloß als Sinnbild der Demokratie in ganz Deutschland.
So ist es. Leider wird oft nicht beachtet, daß die Wiege unserer deutschen Demokratie auf dem Hambacher Schloß liegt, daß die Menschen sich dort in den Fahnen von Schwarz-Rot-Gold versammelt haben. Schwarz-Rot-Gold waren damals die Farben sowohl einer nationalen Erhebung als auch einer emanzipatorischen Bewegung, die gegen die Fürsten Europas gerichtet war. Mit heutigen Begriffskategorien würde man sagen, das war eigentlich eine linke Volkserhebung im Zeichen der Nation. Die Nation war das Emanzipationsprojekt, und das Zeichen dafür war kein Reichsadler, waren keine Fürstenfarben, sondern eine Trikolore.
Von Linken, Woken, Queeren wird unser Schwarz-Rot-Gold inzwischen verachtet. Was meinen Sie, gibt es ein besseres Sinnbild für die deutsche Demokratie?
Schwarz-Rot-Gold reicht. Da ist alles drin. Es ist auch nicht ergänzungsbedürftig. Wir brauchen keine anderen Fahnen danebenzuhängen. Mir reicht die schwarz-rot-goldene. Sie ist auch das Zeichen einer Einheit. Und, wohlgemerkt, einer Einheit, die gleichzeitig immer auch ein Teil Europas ist, worauf Rudolf Borchardt oft hingewiesen hat: Jeder Deutsche sei Abendländer und nur insofern Abendländer, als er Deutscher sei. Deutschland kann nur dann ein vernünftiges Selbstbewußtsein entwickeln, wenn es sich als Teil gesamteuropäischer Überlieferung versteht. Das war schon 1832 auf dem Hambacher Schloß so. Dort haben auch Polen und Franzosen mitgefeiert. Hambach war das Fest einer demokratischen Erhebung aus europäischem Geist.
Womit wir – Stichwort europäischer Geist – wieder bei Ihrem Geburtsort Speyer wären.
Richtig. Der Abendländer ist Patriot und kein Nationalist.
Der europäische Geist, von dem wir hier reden, ist dann vermutlich aus Ihrer Perspektive auch etwas anderes als die Europäische Union.
Die Europäische Union ist die Schwundstufe des Abendlandes. Das hat vor Jahrzehnten schon Hans Magnus Enzensberger gesagt. Er sprach vom »sanften Monster Brüssel«. Ein Monster ist es immer noch, aber nicht mehr sanft. Es zeigt täglich seine Klauen. Das EU-Monster will gerade diese nationalen Einheiten, aus denen Europa zusammengesetzt ist, vereinheitlichen. Aber als Vereinheitlichungsmaschine wird diese Europäische Union scheitern.
Der französische Präsident Charles de Gaulle plädierte für ein Europa der Vaterländer. Ist das immer noch eine Option?
Unbedingt. Ein Europa der Vaterländer ist ein Europa, das miteinander Handel treibt und sich durch eine gemeinsame Kulturgeschichte als ein Band begreift. Da bin ich noch einmal beim Kaiser- und Mariendom zu Speyer, wo ich mich genauso heimisch fühle wie in einer Bischofskathedrale in Spanien, Portugal, Polen oder in Österreich, weil dieses einigende Band der großen Kathedralen auch das einigende Band Europas ist – oder zumindest sein könnte. Mit Benedikt XVI. gesagt: Die Grundlagen Europas wurden in den christlichen Klöstern gelegt. Die europäischen Mönche sind die Ahnherren Europas. Darum müssen wir schauen, daß wir uns durch die EU nicht die Lust an Europa nehmen lassen.
Wo Mönche sind, da lebt der christliche Geist. Ist es dieser Geist, den die Eurokraten in Brüssel fürchten wie der Teufel das Weihwasser?
Ich denke, als deutsche, vielleicht auch als europäische Gesellschaft muß uns die Rückgewinnung des Geistes gelingen. Eines Geistes, der neugierig ist, der nicht abschließt, sondern einlädt, gleichzeitig allerdings auch definiert, was nicht zu Europa gehört.
Sie sind Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Die Stipendiaten galten zu Ihrer Zeit noch als Elite.
Ja, damals war es noch so.
Heute nicht mehr?
Zu meiner Gymnasialzeit wurden die jahrgangsbesten Abiturienten für die Stiftung vorgeschlagen. Irgendwann fing man an, die Zeugnisnoten kompensatorisch durch soziales Engagement aufzuhübschen. Wie es aktuell gehandhabt wird, weiß ich nicht.
Heute kann man sich bewerben. Es gibt Aufnahmekriterien, und in denen heißt es wörtlich: »Sofern sie demokratisch verankert sind, spielen politische Überzeugungen, Weltanschauung und Religion bei der Aufnahmeentscheidung keine Rolle.« Jetzt können wir darüber grübeln, wer und nach welchen Kriterien die demokratische Verankerung der Bewerber prüft.
Es kann ja wohl nicht sein, daß sich irgendwelche Gremien anmaßen, über die demokratiepraktische Turnierfähigkeit der Epheben und Eleven zu entscheiden. Aber leider Gottes fürchte ich, daß der Gesinnungstest immer weiter vordringt. Auf immer mehr Feldern wird die Gesinnung abgefragt. Bedauerlicherweise ist der demokratische Konsens zu einem pseudodemokratischen Irrsinn geworden, weil er in der Hand derer, die sich als Wächter der Demokratie gerieren, zu einem undemokratischen Auswahlprozeß verkam. »Demokratie« ist ein schönes Wort. »Europa« ist auch ein schönes Wort. Aber wenn beide Begriffe, »Demokratie« wie »Europa«, in die Hände von Gesinnungswächtern geraten, bleibt von den Begriffen nicht mehr viel übrig und alles reduziert sich auf die Machtfrage. Demokratie meint Volksherrschaft. Ergo: Keine Demokratie ohne Volk.
Ihr Promotionsthema war der Schriftsteller Rudolf Borchardt, der bis heute nicht zum literarischen Mainstream gehört. Hat Sie gerade das gereizt?
An der Philipps-Universität in Marburg gab es ein Seminar über Rudolf Borchardt. Das hat mich sehr fasziniert. Ich hatte bis dahin keine Zeile von Borchardt gelesen. Und dann dachte ich, das ist ein Autor nach meinem Geschmack und ein gelehrter Schriftsteller, von dem ich viel lernen kann. Natürlich ist der Lebenslauf sehr interessant. Ein Schriftsteller aus deutsch-jüdischem Haus, der die Hälfte seines Lebens in Italien verbringt, am Anfang freiwillig, am Ende dann gezwungen. Borchardt war ein Mensch, der mit sich und seiner Herkunft ringt, der sich manchmal auch selber im Weg steht und der irgendwann sagt: Das Judentum ist ein so unerschöpfliches wie unlösbares Bildungsproblem. Judentum als Bildungsproblem, das war die Frage seiner Existenz. Soll heißen: Kann ich als jemand, der aus einer jüdischen Familie stammt, ein patriotischer Deutscher sein?
Hat Borchardt daran gezweifelt?
Natürlich nicht. Doch auf einmal war er – nach 1933, versteht sich – umstellt von Menschen, die ihm das Deutschsein abgesprochen haben. Es ist katastrophal, wenn die eigene Ich-Definition von anderen so mißachtet wird, daß dein Ich zum Problem wird. Für Borchardt war schnell klar, daß Nationalsozialisten mit dem Abendland nichts zu tun haben und damit auch nicht mit dem Deutschtum, wie er es sich vorstellte. »Wo bin ich denn behaust?«: das war seine zentrale Frage.
Nach dem Studium haben Sie als Theaterregisseur gearbeitet, und mit Ihrer eigenen Theatergruppe haben Sie Don Karlos von Schiller und Torquato Tasso von Goethe inszeniert. Der spanische Infant Don Carlos und der Denker und Dichter Tasso sind sensible Charaktere. Haben Sie sich in beiden wiedererkannt?
Einspruch! Tasso ist kein Sensibelchen gewesen. Bei mir war er ein Draufgänger, ein verhinderter Rockstar. Bei Don Carlos wiederum stand die Frage im Zentrum: Wem kann ich trauen? Ist jemand wirklich mein Freund, der mein Freund werden will? Wer hat das Recht, mir meine Freiheit zu beschneiden? Beuge ich mich der Gewalt oder muß ich Widerstand leisten?
Das klingt so, als hätten Sie in Ihren zwanziger Jahren schon mit den Fragen gerungen, die Sie bis heute beschäftigen. Sie sind nämlich nicht beim Theater geblieben, haben sich auch nicht entschlossen, Politiker zu werden – Sie sind Journalist geworden. Sie waren im Feuilleton bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und bei der Süddeutschen Zeitung. Sie waren lange Kulturchef beim Cicero, sind von dort in die politische Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung gewechselt, und derzeit arbeiten Sie beim Onlineportal Nius. Mit den Statements, die dort von Ihnen zu hören sind, wären Sie heute bei der FAZ wohl nicht mehr willkommen und bei der links-grünen SZ ohnehin nicht. Bei beiden Zeitungen ist der Haltungsjournalismus eingezogen. Hatten Sie seinerzeit jemals das Gefühl, eine politische Linie verfolgen zu müssen?
Nein, gewiß nicht. Es gibt heute kaum noch ein Feuilleton, das das Abendland wachhält. Das Feuilleton begreift es fast schon als Kränkung, über die Gegenwart berichten zu müssen. Man begreift sich als angewandte Futurologie, die der Menschheit zeigt, welchen Weg sie zu gehen, was sie abzuschütteln habe. Aber ein Feuilleton, das das Gewordene nur als Ballast begreift, hat keinen Kulturbegriff mehr. Kultur ist das zu Pflegende. Kultur heißt, einen Acker bestellen, den Generationen vor uns gesät haben. Es gibt keinen Nullpunkt der Kultur. Wenn wir meinen, wir könnten Kulturberichterstattung als Tabula rasa begreifen, haben wir keinen Kulturbegriff mehr. Da schließt sich der Kreis. In einer Welt, in der der Geist vor die Hunde geht, geht als erstes die Kultur vor die Hunde – und damit unser gemeinschaftliches Gedächtnis. Amnesie wurde zur Tageslosung.
Als Sie zur NZZ gingen, dachte ich: Dort ist Alexander Kissler am Ziel seiner Wünsche und bleibt bis zur Pensionsgrenze. Doch weit gefehlt, jetzt sind Sie bei Nius. Ihr Chefredakteur ist Julian Reichelt, ehemals Chefredakteur der Bild-Zeitung, also ein Boulevardjournalist durch und durch. Für mich war Ihr Wechsel zu Nius ein erstaunlicher Schritt.
Mich hat es gereizt, zu einem Medium zu gehen, das stärker auf das Bewegtbild setzt als auf das gedruckte Wort. Der direkte Kontakt zum Publikum hat mich seinerzeit schon beim Theater fasziniert. Auf der Bühne werden Worte in Handlung übersetzt. Das mache ich jetzt im Prinzip auch bei Nius, nur daß es meine eigenen Worte und Gedanken sind. Ich denke, daß man durch die unmittelbare Ansprache im audiovisuellen Bereich einen direkteren Kontakt zum Publikum hat.
Lassen Sie uns über einige Ihrer Publikationen sprechen. Sie haben 2005 ein erstes Buch über den deutschen Theologen Joseph Ratzinger, genauer über Papst Benedikt XVI., geschrieben und nach seiner überraschenden Demission mit einem zweiten Buch nachgelegt. Dieses Buch heißt Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine Kirche 2005–2013. Warum diese intensive Beschäftigung?
»Intensiv«, das trifft es. Das letztgenannte Buch war ein Projekt, das mich acht Jahre meines Lebens gekostet hat, weil ich in der Zeit dieses Pontifikats rund 95 Prozent seiner Texte gelesen habe. Ich war dann schließlich bis in die Nuancen mit Benedikts Sprechen, Reden und Denken vertraut.
»Wer hat das Recht, mir meine Freiheit zu beschneiden? Muß ich Widerstand leisten? Wem kann ich trauen?«
Und Ihr Fazit?
Joseph Ratzinger war ein großer Kirchenlehrer. Seine selbstgeschriebenen Katechesen, die er bei den Generalaudienzen jeden Mittwoch vor einigen tausend Menschen gehalten hat, sind großartig und werden bleiben. Ratzinger war in einem guten Sinne ein Professorenpapst. Er war zudem ein großer Meister der deutschen Sprache, auch sehr poetisch. Ratzinger wußte, Glaube muß ein Ort der Schönheit sein und in der Schönheit spricht die Wahrheit zu uns. Wir sind in der Gegenwart und gerade in Berlin von Häßlichkeit umgeben, und oft leben wir in lügnerischen Zusammenhängen. In der Häßlichkeit erhebt die Lüge ihr Haupt. Bei Benedikt XVI. wurde der Glaube zum geistigen Abenteuer. Wohltuend waren natürlich auch seine Lockerungsübungen gegenüber der alten, der sogenannten tridentinischen Messe, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von den sogenannten Modernisten scharf bekämpft worden war.
Und noch immer bekämpft wird.
Leider. Ich sehe das Erbe von Ratzinger positiv. Gleichwohl sollten Päpste nicht zurücktreten. Päpste werden von der gleichen göttlichen Instanz abberufen, die sie eingesetzt hat. Und das kann nur der Herr der Geschichte sein. Päpste sollten nicht zurücktreten. Insofern ist sein Pontifikat von diesem Rücktritt etwas überschattet. Und wenn er schon zurücktritt, dann hätte er auch in das von ihm angekündigte Schweigen versinken sollen. Statt dessen gab er weiter Interviews und ließ Fotos von sich und seinen Besuchern veröffentlichen. Auf gar keinen Fall hätte er das Weiß des Papstes weiter tragen dürfen. Also zurücktreten und danach immer noch als Schattenpapst ikonisch präsent sein, das geht gar nicht.
In Deutschland wird neuerdings und selbst im Deutschen Bundestag darüber diskutiert, ob auch ungeborene Kinder bereits eine Menschenwürde haben oder ob ihnen diese erst nach der Geburt zukommt.
Menschliches Leben ist ein unverfügbares Geschenk, das uns gegeben ist ohne unser Zutun. Uns gab es ja noch nicht, als wir entstanden sind. Keiner hat uns gefragt, und nun müssen wir uns herumschlagen mit unseren Aufschwüngen und Abstürzen. Das nennt man Menschsein: das Vorgegebene, soweit es irgend geht, annehmen und etwas Gutes daraus machen. Die Debatte »Wo gilt die Menschenwürde, wo nicht?« gibt es schon lange. Die sogenannten Neuen Atheisten um Richard Dawkins haben sie geführt und beispielsweise auch der Neurophysiologe und Hirnforscher Wolf Singer. Nur ist es bis vor kurzem undenkbar gewesen, daß ein CDU-Vorsitzender auf die ihm im Bundestag gestellte Frage ja sagt, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Frau zur Verfassungsrichterin zu wählen, die die Menschenwürde für Ungeborene bezweifelt. Dieses Zurückschrecken vor einem Zeitgeist, der sagt: Alles ist verfügbar, die Geschlechterzuschreibung ist verfügbar, die Menschenwürde ist verfügbar, die Zuweisung von Nationalitäten ist verfügbar, alles ist ins tägliche Belieben des Menschen gestellt – das ist gefährlich.
»Warum soll nicht neues Leben aus Ruinen wachsen?«
Was geht in den Köpfen von Leuten vor, die Abtreibungsgegner, sprich Lebensschützer, als rechtsradikalen Abschaum betrachten und beim alljährlichen Berliner Marsch für das Leben vom Straßenrand aufs übelste beschimpfen?
Ich bin kein Psychologe. Ich weiß nicht, was diese Leute zum Haß verleitet. Denn daß sie hassen, sieht man an ihren Gesichtern und erkennt man an ihrer Sprache. Doch das alles kommt von weit her. Novalis hat in seiner Kritik an der Französischen Revolution gesagt: Der Geist des Machens und Modelns, der in der Französischen Revolution über alle Ufer getreten sei, dieser Geist der Auflehnung sei zutiefst gekränkt, wenn er nicht alles machen und modeln kann. Das kann er nicht akzeptieren, darum lehnt er sich auf. Denn dieser Geist muß unter allen Umständen überall seine Finger hineinbekommen. Dieser Geist spürt sich selbst nur da, wo er etwas machen kann. Das ist der große Bogen, der von der Französischen Revolution über die EU-Bürokratie bis zu unserer heutigen Menschenwürde-Debatte geht. Menschen, die dieses Geistes sind, können nur eine Welt akzeptieren, bei der sie allzeit mitreden können. Da bin ich jetzt bei Chesterton, den ich auch sehr schätze, der gesagt hat, Tradition sei Demokratie für die Toten. Und viele unserer heutigen Zeitgeistbetrunkenen möchten nicht, daß jemand anderes mitredet als sie selbst. Also muß die Tradition entsorgt werden. »Menschenwürde« ist ein ehrwürdiger Begriff. Das Naturrecht können wir bis zur Antike zurückführen. Bei Botho Strauß heißt es, die Kaste der Gegenwartsnarren sehe alle zwischenmenschlichen Beziehungen als Machtverhältnisse und Macht können sie nur da spüren, wo sie etwas machen können. Und wo sie auf etwas Gewordenes stoßen, wo sie nichts mehr machen können, fühlen sie sich gekränkt. Dann schlagen sie um sich. Deswegen brauchen wir eine neue Wertschätzung des Überkommenen, des Gewordenen, des abendländischen Ethos. Nur so können wir zur Gelassenheit kommen. Wenn wir unsere Gesellschaft entgiften wollen, müssen wir ein produktives, schöpferisches Verhältnis entwickeln zu dem, was auf uns gekommen ist. Da bin ich wieder bei Rudolf Borchardt, der genau das gesagt hat: Wir müssen Schöpfung weitertragen, indem wir sie für uns neu entdecken und für uns fruchtbar machen. Das ist die Aufgabe. Die Gegenwartsnarren sind letzten Endes sterile Machtmenschen. Sie akzeptieren nicht, daß etwas entsteht, worauf sie keinen Zugriff haben, und sie akzeptieren nicht, daß da etwas kommt, das über sie hinausweisen wird.
Rudolf Borchardt war ein leidenschaftlicher Gärtner und hat mit Sicherheit ganz anders gedacht.
Richtig. Borchardt, der in der Toskana Gärten schuf, sah das Ende der 1930er Jahre so: Der Garten ist ein Abbild der Menschheit, weil die Samen, die Pflanzen von überall her kommen und ihre Vorfahren nicht immer heimisch sind. Doch wenn sie in guter Erde aufgehen, werden sie heimisch. Wir müssen aber auch die Natur wachsen lassen. Der leidenschaftliche Gärtner Borchardt war übrigens ein Gegner der Blumenkübel, weil die Kübelpflanzen nicht in den Garten hinein-, sondern aus dem Garten herausgepflanzt seien. Gärtnern heißt etwas im Erdreich wachsen und gedeihen lassen. Und insofern kann dann auch der Garten, wie Borchardt ihn begreift, das Bild einer abendländisch verdichteten Menschheit sein.
Ihr Buch mit dem Titel Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muß, ist 2015 erschienen. Auslöser war auch das von Muslimen verübte Pariser Massaker gegen die Mitarbeiter der islamkritischen Zeitschrift Charlie Hebdo. Das ist jetzt zehn Jahre her, ganz offensichtlich ist der Westen Ihrem Aufruf nicht gefolgt. Läuft in Europa alles im Galopp auf die Unterwerfung unter den Islam hinaus? Ist Europa verloren, weil sich vor allem im Westen dieses Erdteils die Menschen massenhaft vom Christentum abgewendet haben? Teilen Sie diesen Befund?
Nein, diesen Befund teile ich nicht, denn, um im Bild des Gartens und des leidenschaftlichen Gärtners in diesem Garten der Schöpfung zu bleiben, die Samen sind ja da, selbst die christlichen Samen. Die abendländischen Keime stecken noch im Erdreich.
Sie sind also trotz alledem ein Optimist?
Ja. Wir Christen sind zur Hoffnung berufen. »Spe salvi«, zu deutsch »In der Hoffnung sind wir schon gerettet«, ein Paulus-Wort. Dieser Titel der zweiten Enzyklika von Benedikt XVI. trifft den Kern abendländischer Zukunftsgewandtheit. Außerdem sagte er: »Wir sind frei, wir sind gerettet.« Man achte auf das Präsens. Es geht um Freiheit und Hoffnung im Jetzt. Das ist für mich Christentum. Insofern kann ich kein Untergangsprophet sein, wiewohl ich die kritischen Tendenzen einer Selbstauslöschung der abendländischen Geisteskultur sehe. Aber ich sehe eben auch lebenskräftige Keime. Ich sehe Menschen, die sich neu und produktiv, heiter und gelassen dem abendländischen Erbe zuwenden. Ich sehe Menschen, die nicht bereit sind zu akzeptieren, daß sie auf einmal unter Bedingungen leben und sprechen sollen, die Gegenwartsnarren für sie aushandeln. Ich sehe Menschen, die mit einem unvoreingenommenen Blick bereit sind, sich zu überlegen: Was hat denn Nation im 19. Jahrhundert definiert? Wie ist sie damals entstanden? Was wußte die Klassik? Was wollte die Romanik? Gleichwohl befinden wir uns im Kulturkampf, und in diesem Kulturkampf braucht es kulturelles Rüstzeug. Einen Kulturkampf, den man nicht annehmen will, verliert man. Insofern rufe ich dazu auf, sich mit den Quellen der eigenen Überlieferung zu beschäftigen. Damit meine ich die deutsche Kultur und die abendländische Kultur, die man nicht voneinander trennen kann. Warum soll nicht neues Leben aus Ruinen wachsen?
Herr Dr. Kissler, vielen Dank für dieses Gespräch! ◆
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato.