Gilt die Dreiheit aus Staatsterritorium, Staatsvolk und Staatsmacht noch – oder wird den Machthabern die Kompetenz zugestanden, den angestammten Demos durch ungebremste Zuwanderung zu marginalisieren?
Was der Medientheoretiker Jean Baudrillard vor fünfzig Jahren als die »Agonie des Realen« beschrieb, hat mit der Correctiv-Recherche um die angebliche Potsdamer »Geheimkonferenz«, auf der angeblich ein »Geheimplan gegen Deutschland« diskutiert wurde, eine neue Stufe erreicht. Dem politisch-medialen Komplex ist es gelungen, einen Fake, ein Simulacrum, die Phantasmagorie einer »Wannseekonferenz 2.0«, die in Wahrheit nie stattgefunden hat, in eine allgemein akzeptierte Hyperrealität zu verwandeln. Eine Hyperrealität ist mehr als eine falsche Interpretation der realen Wirklichkeit – sie nimmt deren Platz ein.
Die Wortschöpfung »Wannseekonferenz 2.0« verweist auf »Auschwitz«, den nachträglich dekretierten »Gründungsmythos« der Bundesrepublik. Zu diesem Wortfeld gehören des weiteren »millionenfache Deportation« und »massenhafte Vertreibung deutscher Staatsbürger«. Ein Linken-Abgeordneter – ein gelernter Historiker – nannte Martin Sellner, den Hauptreferenten der Zusammenkunft, einen »Eichmann-Imitator«. Aufgrund von Klagen und Gegendarstellungen wurden einige Formulierungen und Behauptungen zurückgenommen. Doch ihre Wirkung läßt sich nicht mehr einfangen.
Aus der Hyperrealität erwuchs in Windseile eine zivilreligiös grundierte Mythomotorik, eine handlungsleitende energetische Kollektiverzählung, die bundesweit Massenkundgebungen »gegen rechts« auslöste. Unter Losungen wie »Nie wieder 1933–1945« versammelten sich Hunderttausende, die sich die Mediensimulation als falsches Bewußtsein zu eigen machten. Die neue Qualität des kollektiven Realitätsverlustes ist keine Kumulation zufälliger Ereignisse – sie ist bewußt und planvoll herbeigeführt worden.
Ein Bild vom tatsächlichen Geschehen ergibt sich aus den Alternativmedien. Am 25. November 2023 hatten sich in der Villa Adlon bei Potsdam Unternehmer, Selbständige und Freiberufler mit einigen Gästen zu einem privaten Treffen zusammengefunden, um in ruhiger Atmosphäre zu erörtern, ob und wie illegale und kriminelle Einwanderer aus Deutschland zurückgeführt werden können. Martin Sellner, bis 2023 der dämonisierte Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, stellte seine Überlegungen zur »Remigration« zur Diskussion, die er zuvor bereits im Netz und in Zeitschriften publiziert hatte.
Der österreichische Geheimdienst hatte offenbar den deutschen Verfassungsschutz über dieses Treffen informiert. VS‑Chef Thomas Haldenwang soll sich vor Journalisten gerühmt haben, schon Wochen von dem Treffen und dem Teilnehmerkreis gewußt zu haben. Bemerkenswert ist auch, daß sich der Correctiv-Mitarbeiter, der das Treffen auskundschaftete, zu einem Zeitpunkt in das Tagungshotel eingemietet hatte, als die Einladungen noch gar nicht verschickt worden waren. Natürlich haben beide Seiten dementiert, daß Correctiv als Scharnier zwischen dem Inlandsgeheimdienst und der großen Medienöffentlichkeit fungierte.
Correctiv beschreibt sich als ein »gemeinwohlorientiertes Medienhaus«, das »sich für eine demokratische und aufgeklärte Zukunft unserer Gesellschaft« einsetzt und frei »von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten« arbeitet. Bei näherem Hinsehen ergibt sich das Bild eines mit Millionensummen finanzierten Unternehmens, das zum einen aus dem deutschen Steuersäckel, zum anderen von national und international agierenden Stiftungen unterstützt wird. Der wichtigste private Großspender ist der eBay-Gründer und »Philanthrop« Pierre Omidyar, dessen Luminate-Stiftung sich erklärtermaßen der Förderung von Organisationen widmet, die »angegriffene Demokratien« schützen.
Correctiv ist keineswegs frei von politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten
Correctiv ist eng mit der Politik vernetzt. Die aktuelle Geschäftsführerin, Jeannette Gusko, hat in der Vergangenheit für das Bundesministerium für Bildung und Forschung gearbeitet, das 2022 und 2023 etwa 266 000 Euro an Correctiv überwies. Regierungsvertreter und Correctiv-Mitarbeiter sollen in den vergangenen vier Jahren elfmal zusammengetroffen sein. Am 17. November, acht Tage vor dem Potsdamer »Geheimtreffen«, traf Gusko Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), angeblich spontan am Rande einer Konferenz. Zehn Tage zuvor, am 7. November, hatte Gusko sich mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), ausgetauscht.
Sechs Wochen vergingen zwischen der Tagung und ihrer Skandalisierung – Zeit genug, um das »Framing« zu optimieren und außerdem den Text für eine szenische Lesung zu erstellen, die im Berliner Ensemble und am Volkstheater Wien über die Bühne ging. Es war ein Theater im Theater, dem leider der Verfremdungseffekt fehlte. Dazu paßte die Selbstdarstellung des Correctiv-Autors Jean Peters im Internet: »Ich entwickle Aktionen und erfinde Geschichten, mit denen ich in das politische und ökonomische Geschehen interveniere. […] Meine Instrumente stammen aus künstlerischen, aktivistischen, journalistischen, juristischen und technologischen Bereichen.« Das sind perfekte Voraussetzungen und hinreichende Motive, um ein hyperrealistisches Gesamtkunstwerk in Gang zu setzen.
Correctiv erfindet Geschichten, mit denen es das politische Geschehen beeinflußt
Am 10. Januar 2024 zündete Correctiv die Bombe. Alle großen Medien – die öffentlich-rechtlichen stets voran – standen Gewehr bei Fuß. Ob Absprachen der Pressekonzerne, die den Zeitungsmarkt unter sich aufgeteilt haben, vorausgegangen waren oder der Herdentrieb der schreibenden Zunft bestimmend war, ist zweitrangig. Einzig die Neue Zürcher Zeitung blieb auf Distanz.
Der Termin der Veröffentlichung war taktisch bestimmt. Die Öffentlichkeit sollte von den massiven Bauernprotesten gegen die Regierungspolitik abgelenkt und der Höhenflug der AfD in den Umfragen gestoppt werden. Das strategische Ziel bestand – und besteht – darin, die unkontrollierte Einwanderung nach Deutschland als neue Normalität und unhintergehbaren Ausgangspunkt festzuschreiben. Jede Diskussion über »Remigration« soll durch semantische Verschiebungen in den Bereich der NS‑Nachfolge und damit der politischen Kriminalität gerückt werden. Gleichzeitig wird ein »Demokratiefördergesetz« forciert, das eine Kriegserklärung an Demokratie und Rechtsstaat darstellt. Die Correctiv-Kampagne organisiert dazu die plebiszitäre Zustimmung. Obwohl viele Teilnehmer der Massenaufläufe gleich in mehrfacher Hinsicht unter der Politik der Regierung leiden, haken sie sich mit ihr gegen die Opposition unter, im eingebildeten Krieg gegen den Faschismus. Wo die kollektive Autoaggression ein derartiges klinisches Stadium erreicht hat, richten Sachargumente nichts mehr aus. Aus der Geschichte sind zahlreiche Fälle einer solchen »künstlich fabrizierten, aber dann spontan funktionierenden Geistesgestörtheit« (Hannah Arendt) bekannt.
Damit die »Agonie des Realen« vollendet gelingt, muß die manipulative Absicht ihrer Akteure auf die Bereitschaft zur »Realitätsflucht der Massen in eine in sich stimmige fiktive Welt« treffen (Arendt). Die meisten Demonstranten glauben wohl nicht, daß die Vernichtung des Bösen – namentlich der AfD – schon die Lösung ihrer Probleme darstellt, doch sie halten sie für deren Voraussetzung. Eine Rolle spielt dabei die von Carl Schmitt sezierte deutsche Neigung zur politischen Romantik. Das heißt, »das gegebene Faktum wird nicht in einem politischen, historischen, rechtlichen oder moralischen Zusammenhang sachlich betrachtet, sondern ist Gegenstand ästhetisch-gefühlsmäßigen Interesses«. Einen dramatischen Anschauungsunterricht boten bereits die »Refugees Welcome«-Exzesse 2015/16, die den Flüchtling zum verehrungswürdigen Fetisch erhoben. Die Ästhetisierung und Sentimentalisierung des Politischen setzt sich ungebremst fort.
Dabei wollte die Bundesrepublik diesen Zustand ausdrücklich überwinden. Konrad Adenauer agierte betont unsentimental, er wolle »keine Experimente«. Für Helmut Schmidt war »die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft« maßgeblich. Zur Vernunft gehörte das klare Wissen um den anomalen Zustand, in dem sich Nachkriegsdeutschland befand. Der Historiker Johannes Barnick faßte 1958 die Lage in das Bild einer Glasglocke aus externer Vormundschaft, unter der »Treibhausgewächse« heranreiften. Über sie werde die Wirklichkeit »entweder gar nicht oder katastrophenhaft absolut hereinbrechen«. Die Gewächse erwiesen sich als durchweg romantisch: das »europäische Deutschland«, die »deutsche Schuld«, die »besondere deutsche Verantwortung«, die »postnationale Identität«, die zivilreligiös ergriffene Fixierung auf die NS-Zeit.
Nicht nur für den Ost-, auch für den Weststaat bedeutet die Wiedervereinigung daher einen Schock. Seine Glasglocke wurde angehoben, doch statt sich in souveränes Handeln einzuüben, beging er Realitätsflucht: Die D‑Mark, Symbol und Unterpfand deutscher Prosperität und Gestaltungsmacht, wurde für uneinlösbare Versprechungen aufgegeben. Der Versuch, seine Identität primär am zivilreligiösen »Nie wieder!« aufzurichten, vollendete die Konfusion der Wahrnehmung, die mittlerweile in eine staatspolitische Paralyse übergegangen ist. Denn nun steht die Frage im Raum, ob die Dreiheit aus Staatsterritorium, Staatsvolk und Staatsmacht noch gilt oder ob den Machthabern die Kompetenz zugestanden wird, den angestammten Demos durch ungebremste Zuwanderung zu marginalisieren. Wobei sich die Akteure in einer Zwangslage befinden: Sie können gar nicht mehr zurück, ohne für ihr Versagen ins Kreuzfeuer zu geraten. In der kommunistischen Herrschaftspraxis hieß das: Keine Fehlerdiskussion! Auf der persönlichen Ebene ist ihr Handeln daher absolut zweckrational: Es geht um den Erhalt der Macht, der materiellen und gesellschaftlichen Privilegien.
Auf staatspolitischer Ebene sind die Vorgänge dagegen absolut irrational. Die Rationalität liegt möglicherweise auf einer Ebene darüber. Dem Politikwissenschaftler Yascha Mounk entschlüpfte 2018 in der »Tagesschau« der Satz, daß »wir« hier ein »historisch einzigartiges Experiment wagen, und zwar eine monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln«. Aus dieser Perspektive erscheint die Bundesrepublik als Experimentierfeld und Hyperrealität erster Ordnung. Die Hyperrealität, die von Correctiv und anderen errichtet wurde, würde dann der zweiten Ordnung angehören und ihre Akteure wären als subalterne Statisten zu begreifen. ◆
THORSTEN HINZ,
geb. 1962 in Barth, ist freier Autor und Journalist. In Cato schrieb er zuletzt eine Rezension zu Jörg Bernigs Roman Eschenhaus (1/2024).