Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist in der Grünen Partei zur Persona non grata geworden. Doch die Tübinger ficht das nicht an – wohl eher im Gegenteil, denn sie haben Palmer am 22. Oktober 2022 für acht Jahre wiedergewählt. Er ist also noch bis 2031 in Amt und Würden
Ihr Vater, Helmut Palmer, war ein bekannter Obstbauer und landauf, landab wegen seiner Renitenz bekannt. Sein Spitzname war Remstal-Rebell. War Ihr Vater Ihr Vorbild?
Ich habe mich an meinem Vater gerieben, habe mit ihm gestritten. Für sein unbeugsames Engagement und seinen starken Willen habe ich ihn bewundert. Leicht war das aber nicht immer.
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Bei der Grünen Bewegung gab es anfangs auch konservative Umweltschützer, beispielsweise einen Mann wie Herbert Gruhl, und dann kamen die Linksradikalen aus der kommunistischen Studentenbewegung dazu. War es ein Fehler, daß Leute wie Gruhl aus der Grünen Partei vertrieben wurden?
Da sind sehr verschiedene Bewegungen zusammengekommen. Die radikal linken Jugendbewegungen nach ’68 und Herbert Gruhl, das war ganz sicher unvereinbar. Übrigens hat deswegen auch mein Vater da keine Heimat gefunden. In Baden-Württemberg aber hat die konservative Strömung später ein starkes Gewicht bekommen. Das Bodenständig-Konservative in Winfried Kretschmann hätte sich mit Herbert Gruhl gut vertragen. Schade ist eher, daß in der CDU niemand auf diese konservative grüne Strömung gehört hat, dann wäre in Deutschland vieles anders gelaufen.
Aber Winfried Kretschmann gehörte doch damals auch zu den Maoisten und war Kader im Kommunistischen Bund Westdeutschland.
Das stimmt. Aber Kretschmann hat für sich das Recht auf Läuterung und Erkenntnis genutzt und steht selbstkritisch zu seinen Jugendsünden. Und das Recht auf Läuterung sollte man jedem zugestehen.
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Ist der Kampf gegen den Klimawandel zu einer Ersatzreligion geworden?
Jetzt bin ich mal dreist und sage: Schön wär’s! Weil, dann wären ja diese ganzen Leute, über die wir gerade gesprochen haben, zu hundert Prozent überzeugte Klimaschützer und würden über nichts anderes mehr reden. Das tun die aber gar nicht. Das sind Wokisten und No-Borders. Klimaschutz dient denen höchstens als Argument für Enteignungen alter weißer Männer. Wäre ja schön, die hätten sich jetzt so auf den Klimaschutz eingeschworen. Nein, das ist keine Ersatzreligion. Klimawandel, Artensterben, Bodenerosion, Überfischung, Plastikmeere – die Berichte des Club of Rome werden immer realer, und es wäre verdammt noch mal Zeit, etwas ernsthaft dagegen zu tun. Nicht für das Jenseits, sondern für das Diesseits.
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Die grüne Außenministerin Baerbock finanziert weiterhin die sogenannten Seenotrettungsboote, die im Mittelmeer nachweislich mit den kriminellen Schleppern zusammenarbeiten. Warum tut sie das?
Da gibt es noch eine zweite Erklärung, die, glaube ich, auch sehr wichtig ist. Es geht primär um Hilfe, um die Überzeugung, daß es richtig ist, aber es geht auch um eine moralische Dividende. Denn wenn man den Seenotrettern zuhört, dann sind es ja moderne Moralhelden. Das sind ja diejenigen, die gewissermaßen wie Jesus das von den europäischen Kolonialisten und Ausbeutern angerichtete Leid auf sich nehmen und dann unter Einsatz von Gefahr und Strafe und Haft in Italien arme, entrechtete Menschen retten, die kurz vor dem Ertrinken sind.
Ich kann verstehen, daß man mit zwanzig so denkt. Aber Frau Baerbock ist keine zwanzig mehr.
Wenn du die Moral und Wahrheit auf deiner Seite hast, dann wirst du auch bereit sein, vieles zu tun. Wenn du aber nur nüchtern auf die Sache schaust, dann ist es anders. Und das müssen wir, glaube ich, auch begreifen, daß es dabei um die moralischen Missionen geht. Ja, die Außenministerin ist nun tatsächlich nicht mehr zwanzig. Aber in der Partei gibt es viele, die die Seenotrettung immer noch genauso betrachten wie von mir beschrieben. Und vor allem die Finanzierung der Seenotrettung ist für die aus moralischen Gründen ein absolutes Muß. Denn wenn man die Seenotrettung nicht finanziert, dann sterben Menschen, das ist einfach die Argumentation innerhalb der Grünen-Mehrheit. Und wenn es darum geht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, dann sind auch Methoden der Bereitstellung von Geldmitteln legitim, die man sonst nicht wählen würde.
So einfach kann man das erklären?
Ja, so einfach kann ich das erklären.
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Wie halten Sie es mit der AfD? Soll man die Brandmauer weiter hochhalten, oder sollte man es jetzt einmal mit Realpolitik versuchen? In Thüringen ist die AfD der Wahlsieger und müßte demnach den Ministerpräsidenten stellen.
Aber die AfD hat nicht die absolute, sondern nur die relative Mehrheit. Sie haben also einfach nicht genügend Sitze, um alleine ohne Partner zu regieren. Und zur Demokratie gehört auch: Du mußt dich halt so verhalten, daß du noch Partner findest. Wenn du keine Partner findest, hast du Pech. Du bist dann auch als stärkste Kraft in der Opposition. Und deswegen ist mein Gedanke, zu sagen: Gut, die sind zwar stärkste Kraft, aber die müssen einen Preis bezahlen, wenn sie Partner finden wollen. Höcke hat sich halt in letzter Zeit mit einer Menge von Hitler-Zitaten geäußert, und wenn man dauernd Hitler zitiert, wird es schwer, einen Koalitionspartner zu finden.
Zitiert Höcke wirklich ständig Hitler?
Er zitiert wörtlich Hitler. Dazu hat die Zeit nachweislich eine ganze Seite Dokumente gebracht. Und ich glaube einfach nicht, daß die zufällig in sein Gehirn rutschen. Da steckt irgendeine Absicht dahinter. Und wenn man so was macht, dann ist man halt erst mal bei den anderen unten durch, und ich finde, zu Recht. Ich kann nicht in seinen Kopf reingucken, aber ich will nicht ständig jemanden vor mir haben, der Hitler zitiert. Da ist bei mir halt Schluß. Und der wird dann auch nicht Ministerpräsident. Also muß die AfD den Preis bezahlen. Sie haben mich jetzt gefragt: Wieso stellt die relativ stärkste Fraktion nicht den Ministerpräsidenten? Da sage ich: Ja, weil die anderen das auf keinen Fall machen werden. Sie machen ja wahrscheinlich nicht mal, was ich vorschlage, nämlich zu sagen, okay, die CDU stellt die beiden Positionen, die für den Schutz der Verfassung wesentlich sind. Das ist der Ministerpräsident und der Innenminister. In Frage steht der Verdacht, daß die AfD die Verfassung abschaffen will. Dann kann ich ihr die beiden Positionen nicht zugestehen. Aber ansonsten macht man einen Koalitionsvertrag und guckt mal in fünf Jahren, ob die vielleicht eine Läuterung erfahren wie der Kretschmann vor fünfzig Jahren und sich einigermaßen in unserer Demokratie einfügen, oder ob sie wirklich Nazis sind, dann muß man sie halt verbieten. Oder ob sie, was ich vermute, weitgehend untaugliche Dilettanten sind, dann werden sie wieder abgewählt. Der Punkt ist aber, daß ich glaube, die AfD weiter auszugrenzen und zu diffamieren sorgt nur dafür, daß sie bei der nächsten Wahl 50 Prozent haben und sich die Frage halt nicht mehr stellt. Mit anderen Worten, ich bin der Meinung, die AfD ist in unserem politischen System ein Symptom für ungelöste Probleme. Ich bin aber nicht der Meinung, daß man gut daran tut, diese Leute moralisch abzuwerten, vor allem die Wählerschaft, und ihnen gegenüber mit zweierlei Maß zu messen und ungerecht aufzutreten, weil das nur eine Wagenburgmentalität erzeugt und die AfD stärker macht. Ich finde, die AfD sollte auf ihren rechtsextremen Kern zusammengeschmolzen werden. Der liegt bei vielleicht 8 oder 5 Prozent. Viel mehr Rechtsextreme gibt es nicht in Deutschland. Gefährlich ist, wenn 30 Prozent der Leute eine Partei wählen, die Rechtsextremen auch eine Heimat gibt. Und das würde ich gerne mit einem strategischen Ansatz in den Griff kriegen. Ich glaube, der strategische Ansatz Brandmauer ist gescheitert. Zumindest zeigen die Wahlergebnisse nicht, daß es weniger wird. Und meine Strategie wäre: die Leute mal machen lassen, damit alle sehen können, wie sich das in der Wirklichkeit auswirkt. Denn in der Opposition läßt sich leichter irgendwas fordern. Und meistens wird man nur in der Regierung entzaubert. Man muß ja nur gucken, wie schnell die Ergebnisse von Christian Lindner gesunken sind. In der Opposition hat er die FDP auf 15 Prozent hochgeschraubt, und in der Regierung hat er sie hinter die Tierschutzpartei in ostdeutschen Ländern gebracht.
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INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Regisseur, Filmemacher, Autor, Literaturkritiker, Kurator und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent; heute Chefredakteur von Cato