Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ist in der Grünen Partei zur Persona non grata geworden. Doch die Tübinger ficht das nicht an – wohl eher im Gegenteil, denn sie haben Palmer am 22. Oktober 2022 für acht Jahre wiedergewählt. Er ist also noch bis 2031 in Amt und Würden
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Auf dem Markt in Tübingen: Es grünt so grün, wo Palmers Blüten blühen.
Ihr Vater, Helmut Palmer, war ein bekannter Obstbauer und landauf, landab wegen seiner Renitenz bekannt. Sein Spitzname war Remstal-Rebell. War Ihr Vater Ihr Vorbild?
Ich habe mich an meinem Vater gerieben, habe mit ihm gestritten. Für sein unbeugsames Engagement und seinen starken Willen habe ich ihn bewundert. Leicht war das aber nicht immer.
Sie heißen Boris Erasmus Palmer. Wie kommt man im Schwabenland zu solchen Vornamen? Haben die eine tiefere Bedeutung?
Mein Vater hat auf Boris Pasternak, den russischen Literaturnobelpreisträger von 1958, Bezug genommen. Pasternak ist mit seinem Roman Doktor Schiwago weltberühmt geworden. Und der niederländische Universalgelehrte Erasmus von Rotterdam war ein Wegbereiter der humanistischen europäischen Aufklärung.
Und warum gerade diese Vornamen?
Nun, mein Vater wollte, daß sein Sohn was Besonderes wird, und meine Mutter hat offenbar mitgemacht.
Hat Sie denn Erasmus von Rotterdam von Kindesbeinen an begleitet und inspiriert?
Nein, ich habe das zwar von meinem Vater erzählt bekommen, aber auf das erste Buch von Erasmus bin ich erst im fortgeschrittenen Lateinunterricht gestoßen.
Stichwort Lateinunterricht: Sie sind Ende Mai 1972 geboren, und man sagt, Sie wären ein sogenanntes hochbegabtes Kind gewesen. Doch wie kommt man als Hochbegabter auf die Waldorfschule, wo, so hört man jedenfalls, ein strenges Leistungsprinzip verpönt ist?
Also den Begriff »hochbegabt« gab es damals ja noch nicht. Mir fiel das Lernen leicht, so weit würde ich mitgehen. Ich hatte auf der Waldorfschule große Freude, weil man dort eben auch sehr individuell auf die Kinder eingeht. Und ich habe dann Einzelunterricht in Latein und Mathe bekommen, um mir die Langeweile zu vertreiben.
Aber aus Langeweile sind Sie vermutlich nicht bei den Grünen eingetreten. Was war Ihr Hauptmotiv?
Mein Vater hat immer gesagt, er sei der erste Ökologe im Schwäbischen gewesen. Bei ihm waren auf seinem Stand auf dem Wochenmarkt Plastiktüten schon vor fünfzig Jahren verboten, also lange bevor es dieses Gesetz gab. Mein Vater hatte eine tiefe Liebe zur Natur, und die hat er an mich weitergegeben. Und dann gab es bekanntlich in den Achtzigern das Waldsterben und Tschernobyl. Das habe ich dann durch Lektüre der Berichte zur Lage der Menschheit vom Club of Rome und dem Worldwatch Institute noch ein bißchen rationalisiert. Da ist in mir die Überzeugung gereift, daß meine Generation die Aufgabe hat, die Zivilisation vor der Selbstzerstörung zu retten. Und in den Neunzigern gab es mit dieser Überzeugung keine andere Idee, als bei den Grünen einzutreten.
»Kretschmann hat für sich das Recht auf Läuterung genutzt und steht selbstkritisch zu seinen Jugendsünden«
Bei der Grünen Bewegung gab es anfangs auch konservative Umweltschützer, beispielsweise einen Mann wie Herbert Gruhl, und dann kamen die Linksradikalen aus der kommunistischen Studentenbewegung dazu. War es ein Fehler, daß Leute wie Gruhl aus der Grünen Partei vertrieben wurden?
Da sind sehr verschiedene Bewegungen zusammengekommen. Die radikal linken Jugendbewegungen nach ’68 und Herbert Gruhl, das war ganz sicher unvereinbar. Übrigens hat deswegen auch mein Vater da keine Heimat gefunden. In Baden-Württemberg aber hat die konservative Strömung später ein starkes Gewicht bekommen. Das Bodenständig-Konservative in Winfried Kretschmann hätte sich mit Herbert Gruhl gut vertragen. Schade ist eher, daß in der CDU niemand auf diese konservative grüne Strömung gehört hat, dann wäre in Deutschland vieles anders gelaufen.
Aber Winfried Kretschmann gehörte doch damals auch zu den Maoisten und war Kader im Kommunistischen Bund Westdeutschland.
Das stimmt. Aber Kretschmann hat für sich das Recht auf Läuterung und Erkenntnis genutzt und steht selbstkritisch zu seinen Jugendsünden. Und das Recht auf Läuterung sollte man jedem zugestehen.
Sie haben in Tübingen ein Haushaltsloch von 40 Millionen Euro. Trotzdem haben Sie sich als Oberbürgermeister einen Radweg geleistet, der 16 Millionen gekostet hat. Wie geht das zusammen?
Sie hätten mir die Frage nicht gestellt, wenn ich einen Straßenabschnitt für Autos für 16 Millionen eröffnet hätte. Oder wie ist das mit den 700 Millionen für zwei Kilometer Autobahn in Berlin? Für Autos ist das selbstverständlich. Es geht sehr gut zusammen, weil dieses Land dringend eine bessere Infrastruktur braucht. Und in Tübingen ist das Rad das Hauptverkehrsmittel. Hier wird mehr Rad gefahren als Auto. Deswegen ist es logisch, daß man dafür auch die entsprechende Infrastruktur baut. Wie geht das mit dem Haushalt zusammen? Also erstens war ich clever und habe 12 Millionen Euro Zuschüsse von Bund und Land besorgt. Sonst hätten wir uns das als Stadt nicht leisten können. Und zweitens ist das natürlich jetzt schon fertiggestellt. Das heißt, die jährliche Haushaltsbelastung ist die Abschreibung, und die liegt bei 100 000 Euro. Das hat gar keine Auswirkungen auf das Haushaltsloch von 40 Millionen. Es geht dabei nicht um Investitionen. Die werde ich weiterhin hochhalten. Wir dürfen nicht die Investitionen wegsparen. Das ist der Fehler, den Deutschland die letzten fünfzehn Jahre gemacht hat. Deutschland hat sich kaputtgespart. Wir müssen die laufenden Ausgaben in den Griff bekommen. Ein einziger sogenannter Systemsprenger, das heißt meist ein geflüchteter junger Mann, der so gewalttätig ist, daß er im Dreischichtbetrieb von zwei Leuten betreut wird, kostet uns 600 000 Euro im Jahr. Einer! Das Geld haben wir einfach nicht mehr.
Stichwort Systemsprenger: Wie denken Sie über die radikale Grüne Jugend?
Also erst mal, so wie bei Kretschmann: Junge Leute dürfen radikal sein. Aber ich hatte schon die Hoffnung, daß nach dem Austritt dieser politisch Verirrten in der grünen Jugendpartei irgendeine Änderung eintritt. Politisch verirrt ist für mich: Wenn man Klassenkampf als eigenes Hauptthema hat und dann in eine Klimaschutzpartei eintritt, hat man das falsche K gewählt. Die haben ja kein Wort von Klimaschutz gesagt beim Austritt, sondern nur, daß sie erkannt hätten, die Grünen würden den Klassenkampf nicht vorantreiben. Sehr gut, sie haben es erkannt. Das ist nämlich nicht die Idee einer ökologischen Partei. Leider hat sich der Tonfall der neuen Spitze der Grünen Jugend jetzt nicht so stark geändert, wie ich es gehofft hätte. Das ist ein bißchen entmutigend.
»Ein gewalttätiger männlicher junger Flüchtling kostet uns 600.000 Euro im Jahr«
Ist der Kampf gegen den Klimawandel zu einer Ersatzreligion geworden?
Jetzt bin ich mal dreist und sage: Schön wär’s! Weil, dann wären ja diese ganzen Leute, über die wir gerade gesprochen haben, zu hundert Prozent überzeugte Klimaschützer und würden über nichts anderes mehr reden. Das tun die aber gar nicht. Das sind Wokisten und No-Borders. Klimaschutz dient denen höchstens als Argument für Enteignungen alter weißer Männer. Wäre ja schön, die hätten sich jetzt so auf den Klimaschutz eingeschworen. Nein, das ist keine Ersatzreligion. Klimawandel, Artensterben, Bodenerosion, Überfischung, Plastikmeere – die Berichte des Club of Rome werden immer realer, und es wäre verdammt noch mal Zeit, etwas ernsthaft dagegen zu tun. Nicht für das Jenseits, sondern für das Diesseits.
In Leipzig hat die sogenannte Antifa im Oktober ein Grünen-Büro angegriffen und die Grünen dort als Kriegstreiber und Rassisten beschimpft. Haben Sie das in Tübingen auch schon erlebt?
Ja, beides. Und was mich selbst angeht, jetzt schon fast ein Jahrzehnt. Mich hat es lange sehr berührt und beschäftigt. Mit Rassismus bringe ich den Nationalsozialismus und die Vernichtung von Menschen in Verbindung und nicht einfach nur eine unliebsame Begriffswahl. Aber ich habe jetzt mittlerweile verstanden, daß der Begriff so inhaltsleer geworden ist, daß diese Leute ihn einfach als Schimpfwort für jeden, der anders denkt, benutzen. »Rassismus«, das ist wirklich ein sinnloser Begriff geworden, so wie er jetzt eingesetzt wird. Man könnte auch einfach sagen: »Du Depp«, das meint das gleiche. Wie »Rassismus« heute gebraucht wird, hat mit dem ursprünglichen Begriff gar nichts mehr zu tun. Und nach meiner Wahrnehmung ist es auch totgelaufen.
Ist das wirklich so?
Ja. Denn früher war es so: Wenn man diesen Rassismusvorwurf einmal in den Kleidern hatte, ist man ihn nicht mehr losgeworden. Da wurde man zur Persona non grata, der man keine Bühne mehr geboten hat. Kurzum, man wurde ausgegrenzt und totgeschwiegen. Aber dieses Stigmatisieren und Moralisieren, das ist die letzten Jahre so sehr übertrieben worden, daß die allermeisten Leute davon gar nichts mehr hören wollen. Das erklärt auch, warum das Stigmatisieren und Moralisieren bei der AfD-Wählerschaft keine Wirkung mehr hat. Die sind mittlerweile völlig immun dagegen. Und das ist auch kein Wunder – weil man es maßlos übertrieben hat.
Die Grünen und der Krieg – was ist da eigentlich passiert? Vorgestern waren Soldaten noch Mörder. Gestern hieß es: Keine Waffen in Kriegsgebiete. Und heute: Hundert Prozent Waffen für die Ukraine. Und wer das nicht macht, ist für Herrn Hofreiter ein Landesverräter, und Frau Baerbock, die Außenministerin, sagt sogar öffentlich: »Wir sind im Krieg mit Rußland.« Das ist doch ein ganz erstaunlicher Wandel. Können Sie den nachvollziehen?
Die eine Hälfte schon. Ich bin tatsächlich der Überzeugung, daß der Westen aufrüsten und sich für eine Auseinandersetzung wappnen muß, weil Rußland so weit geht, wie es gehen kann. Diese Überzeugung habe ich. Wo ich glaube, daß Sahra Wagenknecht einen Punkt hat: Man muß militärische Stärke mit Verhandlungsbereitschaft verbinden. Und da sind wir vielleicht wieder an der gleichen Stelle wie in der innergesellschaftlichen Diskussion, denn die Dämonisierung des Gegners und seine Ausgrenzung ist nicht zielführend. Putin ist jetzt halt leider der Staatschef von Rußland, und wir verhandeln andernorts auch mit anderen üblen Gestalten oder kaufen ihr Gas. Also zu glauben, daß das Ganze allein militärisch entschieden werden kann und Verhandlungen eigentlich erst mal keine Rolle spielen dürfen, das funktioniert nicht. Ich will mich ja auch nicht mit Putin an einen Tisch setzen. Aber ich fürchte, der Ukrainekrieg ist militärisch nicht zu gewinnen, und den Eindruck, daß diplomatische Bemühungen zum Frieden unterentwickelt sind, den kann man so aus der Ferne zumindest schon haben.
Warum würden Sie sich nicht mit Putin an einen Tisch setzen? Sie sind doch ein Realpolitiker. Sie sind Oberbürgermeister in einer wichtigen deutschen Stadt und haben sehr viele Erfahrungen in praktischen Dingen. Erinnern wir uns an Willy Brandt und Egon Bahr. Die haben mitten im Kalten Krieg mit dem Staatschef der Sowjetunion verhandelt, die hatten keine Berührungsängste. Und ich könnte Sie mir sehr gut in der Rolle eines heutigen Egon Bahr vorstellen. Sie sich selber nicht?
Die Antwort ist einfach: Ich verstehe nichts von Außenpolitik. Deswegen kann ich es mir nicht vorstellen. Und ich würde mich selbstverständlich mit Putin an einen Tisch setzen, wenn es als Außenminister meine Pflicht wäre. Aber eben auch nur aus dieser Pflicht heraus.
Für Ihre Position zur Migration sind Sie schon 2016 heftig kritisiert worden, vor allem innerparteilich. Es hieß auf Sie bezogen: »Wer Zäune und Mauern zur Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen fordert, spielt in erster Linie rechten Hetzern in die Hände.« Der grüne Ministerpräsident Kretschmann hat kürzlich gesagt, wir brauchen in der Migrationsdebatte einen Neustart für mehr Sicherheit. Was brauchen wir da jetzt genau, und warum kommt der Neustart erst jetzt? Warum kommt dieser Realismus bei Ihrem Ministerpräsidenten erst jetzt auf die Tagesordnung?
Also Kretschmann hat auch schon vor Jahren da eine sehr klare Linie gefahren, der hat im Bundesrat die Ausweisung in sichere Herkunftsländer gegen Parteitagsbeschlüsse herbeigeführt. Der hat auch mal gesagt, daß die Tunichtgute in die Pampa müssen, wenn sie in den Städten für Unfrieden sorgen.
»Die Dämonisierung des Gegners und seine Ausgrenzung ist nicht zielführend«
Gilt das für Cem Özdemir ebenfalls?
Cem Özdemir war zwar früher nicht so deutlich, hat aber nie in den Chor derer eingestimmt, die Probleme geleugnet oder bagatellisiert haben.
Aber Kretschmann, Palmer und meinetwegen auch Özdemir repräsentierten in der Migrationsdebatte nie die Mehrheit der Grünen. Ganz im Gegenteil, und das ist bis heute so geblieben.
Warum war das so? Ich glaube, es war 2015 Begeisterung und Hoffnung. Und es war bestimmt nicht – um das mal deutlich zu sagen – die Absicht, das deutsche Volk zu schädigen oder den Großen Bevölkerungsaustausch durchzuführen oder was ich da alles immer lese als Unterstellung gegenüber den Grünen. Das ist Bullshit. Das kann ich als Insider sagen. Sondern es war tatsächlich der Glaube, daß wir Gutes tun für die Welt und für unser Land, wenn diese Menschen zu uns kommen. Es sind ja Geflüchtete. Also werden sie in unserem Land nicht straffällig, sondern sie werden gute Mitglieder der Gesellschaft sein, weil sie dankbar sind für das, was sie von uns erhalten. Das war die Annahme und die Hoffnung. Die war aus meiner Sicht von Anfang an illusionär, weil es eben nicht nur Menschen sind, die geflohen sind, sondern auch solche, die ein besseres Leben in unserem Land wollten und wirtschaftliche Gründe hatten. Und weil diese Menschen aus Ländern kommen, die mit unserem Land in vielerlei Hinsicht gar nichts gemein haben. Sie kommen meistens aus den Ländern mit der höchsten Homosexuellenfeindlichkeit, mit religiösem Fundamentalismus, mit Gewaltprägung von der Familie bis zum Staat. Wenn du in den Herkunftsländern nicht tust, was die Polizei verlangt, dann sagst du dem Polizisten nicht: »Du Rassist!« Sondern dann guckst du, daß du schnell wegkommst, sonst bekommst du ein paar Fußtritte oder Schlimmeres. Die Migranten haben also logischerweise Erfahrungen, die unserer pazifizierten und liberalisierten Gesellschaft fremd sind. Und wenn man den Migranten gegenüber keine klaren Erwartungen formuliert, sondern die einfach machen läßt, dann geraten einige auf die schiefe Bahn. Denn die verstehen gar nicht, was erlaubt ist und verboten in der Gesellschaft, in die sie da hineinkatapultiert werden. Also mit anderen Worten, wenn du von einem Tag auf den anderen aus dem Mittelalter in die Moderne kommst, dann hast du immense Anpassungsleistungen zu erbringen. Und das passiert nicht von selber. Und das alles hat man ausgeblendet und die Schwierigkeiten dieses Transfers einfach unterschätzt und sich im Glauben, nur Gutes zu tun, erst mal nicht mit den Problemen befassen wollen. Das ist, glaube ich, eine menschliche Verdrängungsleistung, die jeder bei sich selber nachvollziehen kann. Wenn es schiefgeht, will man erst mal nicht sehen, was da passiert in Ehen, in Familien, in Freundschaften. Doch irgendwann am Ende kommt die Desillusionierung.
Ihre Analyse ist nachvollziehbar. Dennoch bleibt die Frage, warum es mit den Illusionen, mit der Verdrängung der Realitäten immer noch weitergeht. Die grüne Außenministerin Baerbock finanziert weiterhin die sogenannten Seenotrettungsboote, die im Mittelmeer nachweislich mit den kriminellen Schleppern zusammenarbeiten. Warum tut sie das?
Da gibt es noch eine zweite Erklärung, die, glaube ich, auch sehr wichtig ist. Es geht primär um Hilfe, um die Überzeugung, daß es richtig ist, aber es geht auch um eine moralische Dividende. Denn wenn man den Seenotrettern zuhört, dann sind es ja moderne Moralhelden. Das sind ja diejenigen, die gewissermaßen wie Jesus das von den europäischen Kolonialisten und Ausbeutern angerichtete Leid auf sich nehmen und dann unter Einsatz von Gefahr und Strafe und Haft in Italien arme, entrechtete Menschen retten, die kurz vor dem Ertrinken sind.
Ich kann verstehen, daß man mit zwanzig so denkt. Aber Frau Baerbock ist keine zwanzig mehr.
Wenn du die Moral und Wahrheit auf deiner Seite hast, dann wirst du auch bereit sein, vieles zu tun. Wenn du aber nur nüchtern auf die Sache schaust, dann ist es anders. Und das müssen wir, glaube ich, auch begreifen, daß es dabei um die moralischen Missionen geht. Ja, die Außenministerin ist nun tatsächlich nicht mehr zwanzig. Aber in der Partei gibt es viele, die die Seenotrettung immer noch genauso betrachten wie von mir beschrieben. Und vor allem die Finanzierung der Seenotrettung ist für die aus moralischen Gründen ein absolutes Muß. Denn wenn man die Seenotrettung nicht finanziert, dann sterben Menschen, das ist einfach die Argumentation innerhalb der Grünen-Mehrheit. Und wenn es darum geht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, dann sind auch Methoden der Bereitstellung von Geldmitteln legitim, die man sonst nicht wählen würde.
So einfach kann man das erklären?
Ja, so einfach kann ich das erklären.
Und wer das Gegenteil sagt, der wird in die rassistische rechte Ecke gestellt. Und an diesem Punkt stellt sich die Frage: Wie ist es mit der Meinungsfreiheit in Deutschland bestellt? Inzwischen werden Meldestellen für Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze eingerichtet. Das ist ein ideales Feld für Spitzel und Blockwarte. Wie ist da Ihre Position?
Meine Meinung ist, daß die Meinungsfreiheit von zwei Seiten in Frage gestellt wird. Einerseits von denen, die sie völlig überstrapazieren. Was ich mir alles schon anhören mußte, das ist wirklich sehr schwer zu ertragen. Also besser ist eigentlich immer, man hält sich aus der Politik raus, weil sofort, wenn jemandem irgend etwas nicht paßt, auf die Personen Vernichtungsangriffe gezielt werden. Und das führt auch dazu, daß sensible Menschen nicht mehr Politik machen, das kann man eigentlich nicht wollen. Also erst einmal sind diese überbordenden, grenzenlosen, diffamierenden Angriffe das Hauptproblem.
»Ich halte von diesen Meldestellen überhaupt nichts, sie sind nicht neutral«
Man darf unterhalb der Strafbarkeitsgrenze sagen, was man will.
Genau. Da komme ich jetzt hin. Auf der einen Seite versuchen vor allem Rechtsextreme den Korridor des Sagbaren immer weiter auszudehnen. Auf der anderen Seite ist das Problem, wenn man über das Strafrecht hinausgehende Versuche macht, die Meinungsfreiheit oder die Meinungsäußerung zu kanalisieren. Und deswegen halte ich von diesen ganzen Meldestellen überhaupt gar nichts. Es ist mir völlig unverständlich, daß so was öffentlich finanziert werden kann. Und sie sind halt auch nicht neutral, sondern sie sind ganz klar in einer bestimmten politischen Richtung. Man merkt es ganz deutlich daran, wenn die AfD solche Meldestellen für unliebsame Lehreräußerungen fordert, dann sind zu Recht alle auf den Bäumen und sagen, das geht nicht. Aber dann kann man dasselbe auch nicht gegenüber unliebsamen Äußerungen von anderen Bürgern machen. Dieses zweierlei Maß, das ist ja immer ein Indiz dafür, daß jemand bereits die eigene Position vorab gegenüber anderen als die einzig richtige ansieht. Und das sollte man in der Demokratie einfach lassen. Man sollte erst mal davon ausgehen, daß die anderen genauso blöd sind wie man selber und genauso viel falsch machen wie man selber, und dann gucken, daß man im Sinne von Habermas mit dem besseren Argument vorankommt. Und nicht mit diesen Methoden, wo ich von vornherein schon sage, die anderen denken falsch.
Wie halten Sie es mit der AfD? Soll man die Brandmauer weiter hochhalten, oder sollte man es jetzt einmal mit Realpolitik versuchen? In Thüringen ist die AfD der Wahlsieger und müßte demnach den Ministerpräsidenten stellen.
Aber die AfD hat nicht die absolute, sondern nur die relative Mehrheit. Sie haben also einfach nicht genügend Sitze, um alleine ohne Partner zu regieren. Und zur Demokratie gehört auch: Du mußt dich halt so verhalten, daß du noch Partner findest. Wenn du keine Partner findest, hast du Pech. Du bist dann auch als stärkste Kraft in der Opposition. Und deswegen ist mein Gedanke, zu sagen: Gut, die sind zwar stärkste Kraft, aber die müssen einen Preis bezahlen, wenn sie Partner finden wollen. Höcke hat sich halt in letzter Zeit mit einer Menge von Hitler-Zitaten geäußert, und wenn man dauernd Hitler zitiert, wird es schwer, einen Koalitionspartner zu finden.
»Die AfD ist in unserem politischen System ein Symptom für ungelöste Probleme«
Zitiert Höcke wirklich ständig Hitler?
Er zitiert wörtlich Hitler. Dazu hat die Zeit nachweislich eine ganze Seite Dokumente gebracht. Und ich glaube einfach nicht, daß die zufällig in sein Gehirn rutschen. Da steckt irgendeine Absicht dahinter. Und wenn man so was macht, dann ist man halt erst mal bei den anderen unten durch, und ich finde, zu Recht. Ich kann nicht in seinen Kopf reingucken, aber ich will nicht ständig jemanden vor mir haben, der Hitler zitiert. Da ist bei mir halt Schluß. Und der wird dann auch nicht Ministerpräsident. Also muß die AfD den Preis bezahlen. Sie haben mich jetzt gefragt: Wieso stellt die relativ stärkste Fraktion nicht den Ministerpräsidenten? Da sage ich: Ja, weil die anderen das auf keinen Fall machen werden. Sie machen ja wahrscheinlich nicht mal, was ich vorschlage, nämlich zu sagen, okay, die CDU stellt die beiden Positionen, die für den Schutz der Verfassung wesentlich sind. Das ist der Ministerpräsident und der Innenminister. In Frage steht der Verdacht, daß die AfD die Verfassung abschaffen will. Dann kann ich ihr die beiden Positionen nicht zugestehen. Aber ansonsten macht man einen Koalitionsvertrag und guckt mal in fünf Jahren, ob die vielleicht eine Läuterung erfahren wie der Kretschmann vor fünfzig Jahren und sich einigermaßen in unserer Demokratie einfügen, oder ob sie wirklich Nazis sind, dann muß man sie halt verbieten. Oder ob sie, was ich vermute, weitgehend untaugliche Dilettanten sind, dann werden sie wieder abgewählt. Der Punkt ist aber, daß ich glaube, die AfD weiter auszugrenzen und zu diffamieren sorgt nur dafür, daß sie bei der nächsten Wahl 50 Prozent haben und sich die Frage halt nicht mehr stellt. Mit anderen Worten, ich bin der Meinung, die AfD ist in unserem politischen System ein Symptom für ungelöste Probleme. Ich bin aber nicht der Meinung, daß man gut daran tut, diese Leute moralisch abzuwerten, vor allem die Wählerschaft, und ihnen gegenüber mit zweierlei Maß zu messen und ungerecht aufzutreten, weil das nur eine Wagenburgmentalität erzeugt und die AfD stärker macht. Ich finde, die AfD sollte auf ihren rechtsextremen Kern zusammengeschmolzen werden. Der liegt bei vielleicht 8 oder 5 Prozent. Viel mehr Rechtsextreme gibt es nicht in Deutschland. Gefährlich ist, wenn 30 Prozent der Leute eine Partei wählen, die Rechtsextremen auch eine Heimat gibt. Und das würde ich gerne mit einem strategischen Ansatz in den Griff kriegen. Ich glaube, der strategische Ansatz Brandmauer ist gescheitert. Zumindest zeigen die Wahlergebnisse nicht, daß es weniger wird. Und meine Strategie wäre: die Leute mal machen lassen, damit alle sehen können, wie sich das in der Wirklichkeit auswirkt. Denn in der Opposition läßt sich leichter irgendwas fordern. Und meistens wird man nur in der Regierung entzaubert. Man muß ja nur gucken, wie schnell die Ergebnisse von Christian Lindner gesunken sind. In der Opposition hat er die FDP auf 15 Prozent hochgeschraubt, und in der Regierung hat er sie hinter die Tierschutzpartei in ostdeutschen Ländern gebracht.
Ich habe kürzlich Alice Weidel interviewt, und Frau Weidel sagt, das Parteiprogramm der AfD sei nicht rechts. Haben Sie sich mal mit dem Programm der AfD beschäftigt?
Um ehrlich zu sein, ich lese Parteiprogramme sehr ungern, weil man nach zwei Seiten schon einen rauchenden Kopf hat und, um es interpretieren zu können, eigentlich immer wissen muß: Wie kam das Programm zustande? Wer hat da was reinverhandelt? Das heißt, mit bloßem Lesen werden Sie nicht schlauer. Das ist mir beim AfD-Programm genauso gegangen. Deswegen sage ich auch, ich möchte mir da kein abschließendes Urteil erlauben. Aber daß es Menschen gibt in der AfD, die klar rechtsextreme Positionen vertreten, kann ich Ihnen schon deswegen sicher sagen, weil die mir viele Mails schreiben. Was da drinsteht, ist ganz klar rechtsextrem. Und daß es diese Menschen in unserer Gesellschaft gibt, ist auch unbestritten. Und daß die AfD diese Leute willkommen heißt und niemanden von denen rausschmeißt, ist auch offensichtlich. Deswegen bleibe ich dabei: Daß es eine klar rechte Partei ist, kann man den normalen Äußerungen entnehmen. Aber es gibt auch rechte Parteien in Schweden, die dort regieren, und in Italien auch und in noch ein paar anderen Ländern, in Ungarn und Polen hat es das gegeben. Also dagegen kann ja nun nichts einzuwenden sein. Meine These ist, es ist eine rechte Partei, in der Rechtsextreme problemlos unterkommen. Und deswegen will ich nicht, daß so eine Partei Deutschlands Geschicke bestimmt. Und das muß eigentlich auch ein Konservativer sagen: Das will ich nicht. Die klar europafeindlichen Positionen, die letztlich dazu führen, daß die deutsche Industrie ihren wichtigsten Absatzmarkt verliert, wenn man das zu Ende denkt, sind wirtschaftsfeindlich. Das merken die zwar nicht, aber das sind klar wirtschaftsfeindliche Positionen, das kann kein anständiger Konservativer wollen. Deswegen ist die AfD für mich keine Alternative für Deutschland.
»Ich will in Tübingen bleiben und nicht Minister in Baden- Württemberg werden«
Cem Özdemir möchte als Nachfolger von Kretschmann der nächste grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. Doch derzeit stehen die Grünen in den Umfragen bei 18 Prozent. Die CDU kommt auf 34 Prozent. Das wird also für Özdemir kein leichter Wahlkampf werden. Wie beurteilen Sie das? Und denken Sie darüber nach, Minister in einer grünen Landesregierung in Baden-Württemberg zu werden? Oder wollen Sie lieber weiter Oberbürgermeister von Tübingen bleiben?
Also das Zweite ist leicht zu beantworten. Ich bin gewählt bis 2031. Ich habe ja eine Aufgabe, die mir viel Freude bereitet und die auch für Debatten, wie wir sie jetzt führen, Glaubwürdigkeit verleiht. Weil ich einfach sagen kann: Ich weiß, wie es ist. Ich habe das Problem auf dem Tisch. Ich muß mich nie über Parteiprogramme streiten, sondern ich muß Probleme vor Ort lösen. Und dieser sozusagen geerdete, kommunale Pragmatismus, der scheint mir eher wertvoller für die Debatte als irgendein Ministerposten im Land Baden-Württemberg. Also klar geantwortet: Ich will hierbleiben. Was jetzt die Kandidatur von Cem Özdemir angeht, da bin ich sicher, daß er die beste Chance ist, die die Grünen haben.
Das Lebensmotto Ihres Vaters, der ein Obstbauer war, kam aus der Pomologie und lautet: »Die Oberen stutzen, damit die Unteren Licht bekommen!« Ist das auch Ihr Lebensmotto?
(Lacht) Nein, mein Lebensmotto ist das nicht. Aber ich kann Ihnen noch eine zweite Geschichte erzählen. Mein Vater ist verurteilt worden, weil er Leitplanken versenkt hat. Die waren in den siebziger Jahren mit sogenannten U‑Nasen abgeschlossen. Und diese U‑Nasen haben dazu geführt, daß regelmäßig, wenn Autos von der Straße abkamen, die Leute davon aufgespießt wurden, sie sind also von der Leitplanke nicht geschützt worden. Da hat mein Vater, zusammen mit einem Trupp von Leuten, mit Hammer und Säge die Dinger abgeschrägt und in den Boden reingestampft, so daß man, wenn man daraufkommt, drübergelenkt wird. So sind Leitplanken heute überall in Deutschland. Das hat mein Vater quasi erfunden und einfach selber gemacht. Der deutsche Staat hat ihn dann aber zu Strafen verurteilt, und ein Richter hat in eines dieser Urteile reingeschrieben: »Palmer muß besonders hart bestraft werden, weil er uneinsichtig ist, daß Mißstände nur durch Behörden beseitigt werden können.« Und diese fehlende Einsicht meines Vaters, die habe ich mir bewahrt, und als Behördenleiter versuche ich das jetzt erst recht so zu machen, daß ich mir nicht vorschreiben lasse, wie ein Problem gelöst wird und wer dafür zuständig ist, sondern daß ich versuche, das Problem in den Griff zu kriegen. Also von daher gibt es da schon eine familiäre Prägung. Und vielleicht ist es dann auch besser, wenn man so eigensinnig und schwäbisch dickköpfig ist, damit nicht eine Partei zu behelligen, sondern sich halt von der Seite zu melden und zu sagen: Ich habe zwar die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, aber denkt mal bitte nach, ob es nicht auch so sein könnte, wie ich es sage. Und genau das haben wir beide jetzt heute auch versucht.
Herr Oberbürgermeister Palmer, vielen Dank für das Gespräch! ◆

INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato. In Heft 1/2024 erschien sein Beitrag »Kunst oder Künstler«. »Zu einer Kultur, in der die Lüge unter der Maske der Wahrheit und der Information auftritt, zu einer Kultur, die nur das materielle Wohlergehen sucht und Gott leugnet, sagen wir nein«