Malendes Schauen und menschliche Augenblicke mit göttlichem Licht
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»Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, daß das Licht gut war« (Genesis 1,3–4).
Gott konnte von Anfang an sehen. Nachdem sein Befehl »Es werde Licht« ausgeführt worden war, sah er sogleich, »daß das Licht gut war«, wie das 1. Buch Mose berichtet. Später schuf Gott den Menschen »nach seinem Bilde«, wie geschrieben steht, und am Ende des Tages sah der Herr »alles an, was er gemacht hatte«, und »es war sehr gut«, wie Gott erneut befand. Gut war vor allem, daß er die Menschen mit der Fähigkeit zum Sehen ausgestattet hatte, da ihnen dieser Sinn die Einsicht erlaubte, in einer schönen Welt zu leben. Sie waren dabei nicht allein, wie sie wahrnehmen konnten und was ihr Bewußtsein öffnete. Mit diesen ästhetischen Fähigkeiten des Menschen – aísthēsis ist das griechische Wort für Wahrnehmung – hat Aristoteles ihren Willen erklärt, Wissen über die Welt zu erwerben, und am heutigen Ende der Anstrengungen, ein vernünftiges Verstehen des gern Geschauten zu erlangen, zeigen sich weltweit Bemühungen, ersten Maschinen mit künstlicher Intelligenz das Sehen beizubringen. Ziele der Bemühungen um »Computer Vision« bestehen darin, mit bildgebenden Verfahren Diagnosen zu ermöglichen und selbstfahrende Automobile oder Suchgeräte mit einer Software zu entwickeln, die dem überlasteten Personal in einem hektischen Krankenhausbetrieb helfen, die benötigten Instrumente zu finden.
Dieser Einblick zeigt, wie sich der Sinn des Sehens verschiebt, wenn der den Menschen zugedachte Lichtsinn in die von ihnen gebauten Apparate wandert. Am Anfang wollte Gott sehen, daß alles gut war. Dann sollten die Menschen sehen, daß die Welt schön war. Und künftig können Computer nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Das klingt fast wie die Dreiheit aus dem Guten, Schönen und Wahren, wobei hier die bescheidene Frage erörtert wird, was die Naturwissenschaften zu alledem beitragen können. Sie werden sich bedeckt halten, wenn man wissen will, wie Gott durch einen Sprachbefehl Licht in die Welt bringen und wie er mit dessen Energie umgehen konnte – ein Eingehen auf Atome und ihre Quantensprünge würde außerdem zu weit führen. Die Naturwissenschaften können sich hingegen zum menschlichen Sehen mit den Augen im Kopf äußern und beschreiben, wie die erworbenen Kenntnisse als Computer Vision umgesetzt werden.
Den paradigmatischen Hintergrund der interdisziplinären Sehforschung liefert der Gedanke der biologischen Evolution, wobei daran erinnert werden darf, daß der Urheber dieser bewegten Sicht, Charles Darwin, den von ihm aufgedeckten Mechanismus der Höherentwicklung lebender Formen als »Geheimnis der Geheimnisse« bezeichnet hat. Deshalb sollte es niemanden verwundern, wenn die Biologen auf ihrer Bühne zuletzt so dastehen wie die Schauspieler, die in Brechts Der gute Mensch von Sezuan abschließend deklamieren: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.«
Wer auf oder hinter diesen Vorhang sehen will, benötigt auf jeden Fall Augen, und diese Fensterlein im Kopf haben selbst Charles Darwin ins Grübeln gebracht. »Wenn ich an das menschliche Auge denke, bekomme ich Fieber«, wie der Naturforscher notierte, als er sich die evolutionären Schritte von einer anfänglichen Photosensitivität hin zum Organ des Sehens auszumalen versuchte. Es mag noch einfach sein, sich das Entstehen erster lichtempfindlicher Zellen vorzustellen, aber man kann nur staunen, wenn man sieht, wie viele verschiedene Photorezeptoren in Bakterien, Algen, Pflanzen und Tieren entstanden sind, mit denen sie das breite Spektrum an Licht einfangen und nutzen, das von der Sonne kommt. Im menschlichen Auge sind dafür Sehpigmente zuständig, die Rhodopsine heißen und in ihrem Aufbau so variabel sind, daß sich mit ihnen die Farben erklären lassen. Die Sehpigmente finden sich im Auge in zwei Arten von Zellen, die als Stäbchen und Zapfen unterschieden werden und am Tag und in der Nacht ihre besonderen Aufgaben übernehmen. Nachts sind tatsächlich alle Katzen grau.
Zur Erforschung der Lichtempfindlichkeit von Augen hat die biologische Wissenschaft die Strategie gewählt, die Spur einzelner Signale von außen nach innen zu verfolgen. Um aus Licht Sehen zu machen, müssen Strahlen zunächst in ein Auge fallen und hier bis zu dessen Rückwand vordringen, die Netzhaut heißt und das Licht einfängt. Dies passiert in den Zellen mit den Sehpigmenten, die dabei helfen, das physikalische Signal der Außenwelt in ein elektrisches Signal der Innenwelt umzuwandeln. Dies gelingt auf eine Weise, die immer noch verblüfft: Solange kein Licht ins Auge fällt, zirkulieren elektrische Ladungen in den Sehzellen der Netzhaut, was einen Dunkelstrom bewirkt. Er wird unterbrochen, wenn es hell wird und die Chemie der Pigmente in Bewegung gerät. Anders als zu Hause sieht man im Kopf paradoxerweise dann etwas, wenn ein Strom ausgeschaltet wird. Immerhin kann auf diese Weise aus dem physikalischen erst ein biochemisches und dann ein elektrisches Signal werden, das schließlich mit Hilfe von Nervenzellen seinen Weg ins Gehirn findet, um in diesem neuronalen Gewebe an geeigneter Stelle einem schauenden Subjekt endlich das bewußte Sehen der Welt zu ermöglichen, um das es geht und das Staunen und Freude auslösen kann (wobei hier nicht beschrieben wird, wie und wo die Namen der Objekte zu finden sind, von denen Licht in die Augen gefallen ist, die zudem noch ausgesprochen werden müssen).
Es gibt bei alldem offenbar noch genug zu erkunden, nicht zuletzt weil selbst kleine neuronale Verschaltungen aus Hunderten von Nervenzellen mit vielen Tausenden von Verbindungen bestehen. Der lange Weg vom Licht zum Sehen, vom sehenden Auge zum wahrnehmenden Gehirn, steckt folglich voller biochemischer Raffinessen, für deren detaillierte Beschreibung Lehrbücher mit bis zu tausend Seiten erforderlich sind. Hier sollen als Beispiel nur ein Blick – ein Augenblick – auf die Frage gelenkt werden, wie die Evolution die menschlichen Augen beeinflußt hat. Ihre Empfindlichkeit ist ziemlich genau dem Licht angepaßt, das die Atmosphäre der Erde durchläßt. Augen sehen daher (sinnvollerweise) nur dort etwas, wo es etwas zu sehen gibt, und sie unterscheiden Farben im Laufe der Stammesgeschichte erst, seit bunte Nuancen in der sich entwickelnden Welt diese Anstrengung lohnen. Als vor Millionen von Jahren die damals vor allem aus Palmen und Feigenbäumen bestehenden und eher gleichfarbigen Wälder durch eine farbenprächtige Vielfalt von anderen Pflanzen und Baumarten bereichert wurden, paßte sich das Sehen diesem Angebot der Umwelt an und im Auge entwickelten die Zapfen die Fähigkeit, Rot von Grün und Gelb von Blau zu unterscheiden, wobei die Relevanz dieses Spektrums seit je viele Farbenlehrer – nicht nur Newton und Goethe – beschäftigt hat, die zwischen physikalischen und psychologischen Aspekten unterscheiden (vgl. z. B. Karl August Müller, »Das Auge ist für das Licht da«, Cato 2/2022). Sie müssen sich sowohl mit den Wellenlängen des Lichts als auch mit Sehpigmenten und ihren Genen und zuletzt mit neuronalen Empfindlichkeiten befassen, was die Farben so geheimnisvoll macht wie das Licht, während beide dem Menschen die Schönheit der Welt zugänglich machen, die, wie gern gesagt wird, im Auge des Betrachters liegt.
»Das Auge ist für das Licht da«
Darwin sorgte sich vor allem um das menschliche Auge, weil er sich nicht vorzustellen vermochte, wie im Laufe der Evolution ein derart komplexes Gebilde zusammengewürfelt werden konnte. Seiner skeptischen Sicht stand der Befund gegenüber, daß Augen offenbar mehrmals entstanden sind. Es mußte einen Weg hin zu diesem Organ geben, auf dem auch der Beitrag von halben oder unfertigen Augen zur Fitneß eines sich damit umschauenden Lebewesens verstanden werden konnte. Die Lösung kann die Beobachtung liefern, daß Strukturen in Lebewesen eine Doppelfunktion übernehmen können, wie Insekten erkennen lassen, deren Beine nicht nur zum Laufen, sondern auch zum Erzeugen von Geräuschen und als Grabschaufeln dienen.
Doppelfunktionen lassen Entwicklungen erkennen, wenn Hauptfunktionen Schritt für Schritt durch Nebenfunktionen abgelöst werden. Das gelingt beim Auge wie folgt: Am Anfang entsteht die Fähigkeit von empfindlichen Molekülen, das Licht der Sonne einzufangen. Einzellige Formen des frühen Lebens können sich mit ihrer Hilfe besser durchsetzen, da der Lichteinfang zum Gewinn von Energie dient. Dies war seine Hauptfunktion. In einem zweiten Schritt gelingt es Organismen mit vielen Zellen, die lichtempfindlichen unter ihnen nebeneinanderzulegen, was die Richtung des Lichteinfalls zu erkennen erlaubt und eine Möglichkeit zur Orientierung bietet. In weiteren Schritten wird erst dafür gesorgt, daß die für die neue Hauptfunktion verantwortlichen Zellen eingestülpt und als Grube angelegt werden, was die Richtungserkennung verbessert und nach einer Verkleinerung der Öffnung zu der Möglichkeit führt, die Außenwelt abzubilden. Ein Verschluß macht aus den lichtempfindlichen Zellen etwas wie eine Lochkamera, die ein umgekehrtes Bild auf die Rückseite der Grube projiziert.
Natürlich sind winzige Öffnungen durch Verunreinigungen gefährdet, und es lohnt die Mühe, sie mit durchsichtigen Deckeln zu verschließen. Dieser Hauptfunktion tritt die Nebenfunktion an die Seite, eine Linse zu sein, die ein besseres Bild der Welt liefert als die alte Lochkamera. Und so weiter und so fort, bis die Erzählung bei den Schlußsteinen des Sehsystems ankommt, mit denen dieser Text gelesen wird. Es würde seinen Rahmen sprengen, wenn in ihm versucht würde, die vollständige Geschichte des Auges zu schildern, die mindestens noch zu erklären hätte, warum es zwei Organe des Sehens im Kopf gibt – dies hängt mit der zweiseitigen (bilateralen) Grundstruktur von Organismen und ihrer Bewegungsrichtung zusammen –, und die darüber hinaus verständlich machen müßte, warum die Verschiebung der beiden Augen von der Seite des Kopfes, wie sie etwa bei Pferden zu finden ist, nach vorn vonstatten gegangen ist und welche Vorteile dieser gezielte Blick liefert. Die Idee der Selektion ist dabei – wie stets – nicht die Lösung der Aufgabe, sondern das Werkzeug, mit dem eine gebastelt werden kann, und das Konzept der Doppelfunktion hilft dabei manchmal sogar entscheidend, wobei man sich immer wieder wundern und fragen kann, wer sich das alles ausgedacht hat.
Wenn man sich sagt, daß die biologische Entwicklung Augen hervorgebracht hat, damit Texte wie dieser gelesen werden können, dann dauert es nicht lange, bis man merkt, daß man den Rahmen der biologischen Evolution verlassen hat. Sie hat mehr geliefert, als von den Organismen bestellt werden konnte, während sie um ihr Überleben kämpften. Sehen führt aus der Natur heraus und in die Kultur hinein, weshalb es nicht überrascht, daß Menschen Computer in die Welt blicken lassen wollen. Man kann sich daneben fragen, ob der Sehsinn nicht zugleich auch den Sinn des Sehens zu offenbaren vermag (wenn es erlaubt ist, dieses große Wort zu benutzen). Naturwissenschaftler gehen in kleinen Schritten vor, und die ersten schauen genauer in ein Auge hinein.
Wer dies nach und nach unternimmt, wird sich bald fragen, ob dabei alles mit rechten – evolutionär verständlichen – Dingen zugeht. So verbirgt sich zum Beispiel die lichtempfindliche Netzhaut hinter einem dichten Nervengestrüpp, so daß die Sehzellen eher diffus gestreutes Licht verarbeiten müssen. Das Gehirn bekommt alles mögliche geliefert, nur kein klares Abbild der Welt, wie es etwa in einem Photoapparat auf einem Film oder im iPhone mit Sensoren entsteht. Das menschliche Sehen ist so organisiert, daß viele Sehzellen zusammenarbeiten, um ihre eher unordentlichen Meldungen über das Licht einem einzelnen Neuron als Information über ein Muster zuzuleiten. Die Fachwelt spricht vom »rezeptiven Feld« der Sehzellen und meint damit sensitive Empfangsbereiche, die geometrische Formen wie Striche, Punkte, Winkel und Kreise bilden. Sie sind so, wie Menschen sie beim Zeichnen einsetzen, wenn sie Papier mit Bildern bemalen wollen.
Dem Gehirn wird nicht alles weitergeleitet, was im Auge ankommt, sondern nur, welche Empfangsfelder mit welchen Formen beim Lichteinfall angeregt werden. Man kann auch sagen, daß visuelle Wahrnehmung mit Kategorien (Grundmerkmalen) operiert, um dem Gehirn zu ermöglichen, die unzähligen Details, die eine betrachtete Szene bietet, in ein diskretes Konzept umzusetzen, mit dem die Schauenden sich nicht lange abplagen müssen, so daß sie sofort reagieren können.
Das in einem menschlichen Kopf verfügbare Bild der Welt ist keinesfalls eine Photographie, sondern eine produktive Leistung des Gehirns. Ein Mensch malt die Welt, die er vor Augen sieht, und das Wissen, von dem Aristoteles gesprochen hat, beginnt mit diesem malenden Schauen. Die inneren Bilder regen das weitere Denken an, wie Albert Einstein stets betont hat, und Theorien der Wissenschaft fangen vermutlich allgemein mit dem malenden Schauen ihrer Protagonisten an. Große Einsichten der Wissenschaft können dabei auch dank der Urbilder entstehen, die als Archetypen im Inneren neugieriger Menschen darauf gewartet haben, durch sinnliche Erfahrung hervorgelockt zu werden, wobei niemand zu sagen weiß, wie sie dahin gekommen sind (siehe Ernst Peter Fischer, Die aufschimmernde Nachtseite. Kreativität und Offenbarung in den Naturwissenschaften, Lengwil 2004).
Damit erlaubt sich der Autor, eine Quintessenz zu formulieren: Der Sehsinn liefert innere Bilder der Welt, und der Sinn des Sehens besteht darin, Menschen in die Lage zu versetzen, äußere Bilder als Gegengabe anzubieten – in der Kunst als Zeichnung oder Gemälde und in der Wissenschaft als Theorie oder im kontemplativen Schauen. Kreative Menschen vollziehen als bewußten Vorgang der Bildgestaltung den Schritt, den jede einzelne Person innerlich unbewußt unternimmt. Kunstwerke und Theorien zeigen, was in Gehirnen angelegt ist und kreative Menschen ausdrücken können. »Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild«, wie Caspar David Friedrich empfohlen hat, der auch wußte: »Ein Bild muß nicht erfunden, sondern empfunden sein« (Die Kunst als Mittelpunkt der Welt. Ausgewählte Briefe und Schriften, München 2023).
Wer über das Sehen schreibt, wird dazu gebracht, die Welt im Modell der Kunst zu sehen. Das kann, wie es Galileo Galilei vorgeschlagen hat, mit Gott beginnen, der kein Mathematiker war. Gott war ein Künstler, dem es gefallen hat, die Menschen Künstler werden zu lassen, um ihnen das Glück des Geheimnisvollen zu gewähren. Jetzt sind einige von ihnen dabei, den Maschinen beizubringen, so mit Bildern umzugehen, wie sie es tun, wenn sie mit offenen Augen in die Welt blicken, während sie heranwachsen. Die künstliche Intelligenz verhilft den Apparaten dazu, auf Bildern die Gegenstände zu erkennen, die Menschen in ihrem realen Leben sehen. Erfassen die Maschinen dabei ebenso wie ihre Schöpfer die Schönheit der Welt und empfinden sie in diesem Augenblick (!) etwas wie Glück im Dasein? Das Geheimnis bleibt, und das ist gut so. ◆
ERNST PETER FISCHER,
geb. 1947, diplomierter Physiker, promovierter Biologe, habilitierter Wissenschaftshistoriker, ausgezeichneter Buchautor und Vermittler, Professor (apl.) für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Heidelberg. Jüngste Publikation: Die Stunde der Physiker, München (C.H.Beck) 2022