Dreißig Jahre nach dem Mauerfall feiert der Sozialismus wieder Konjunktur. Enteignung ist en vogue. Staatliche Habgier und humanitäre Sentimentalität bilden eine Abwärtsspirale, die einmal mehr das Schlimmste befürchten läßt. Aber die gläubigen Jünger des Sozialismus sind unbelehrbar wie eh und je. Warum die linke Ideologie scheitert – und doch Erfolg hat

Eines der oft zitierten Worte von Margaret Thatcher lautete: »Die Tatsachen des Lebens sind konservativ.« Diese Bemerkung ist von umfassender Gültigkeit, denn sie trifft sowohl auf ganze Gesellschaften als auch auf einzelne Individuen zu. Konkret anwendbar ist diese These zweifellos auf die Wirtschaftspolitik. Hier zumal lehren die Tatsachen des Lebens, daß man – zumindest langfristig – nicht mehr ausgeben kann als man einnimmt. Und wer ein Darlehen aufnimmt, um ein Investment zu finanzieren, dessen Gewinn niedriger ist als der Darlehenszins, der läuft Gefahr, vor dem Konkursgericht zu enden. Für das Privat- und Arbeitsleben gibt der Realitätssinn dieselben Empfehlungen: Sorgfalt, Nüchternheit, Leistungsbereitschaft, Loyalität, Treue, Dankbarkeit und Anständigkeit. Viktorianische Mittelklassereformer, denen es gelang, ungebärdige, trunksüchtige, gewalttägige, kriminelle und promiske Slumbewohner in vorbildliche Bürger und Eltern zu verwandeln, waren zum Teil deshalb so erfolgreich, weil sie den Schulkindern aufgaben, in moralisierende Epigramme verpackte Lebensweisheiten im Schönschreibunterricht abzuschreiben. Diesem Verfahren verdanken wir Perlen wie »Wer ständig die Uhr im Blick behält, wird zu einem der Zeiger« und viele andere, weniger feierliche Lehrsätze.
Auf dieselbe Lehrmethode bezieht sich auch der Titel eines der vielleicht bekanntesten Gedichte von Rudyard Kipling (1865–1936), das Margaret Thatcher ebenfalls besonders wertschätzte: »The Gods of the Copybook Headings« [frei übersetzt »Die Hausregeln«; mit »Copybook Headings« sind die in Abschreibheften vorgegebenen Zeilen am oberen Seitenrand gemeint, ähnlich den Kolumnentiteln; Anm. d. ÜS]. Die »Götter«, um die es hier geht, sind jene Realitäten, die das tugendhafte, besonnene Benehmen respektiert. Wie Kipling bissig vermerkt, werden solche Regeln besonders von jenen verspottet, die ihnen vorwerfen, den direkten Weg zu einem besseren Leben zu blockieren, obwohl es doch schreckliche Konsequenzen haben kann, sie zu mißachten oder sich ihnen zu widersetzen: »But they always caught up with our progress, and presently word would come / That a tribe had been wiped off its icefield, or the lights had gone out in Rome.« (»Er holte den Fortschritt noch immer ein, und dann stellte sich heraus: / Ein Stamm in der Tundra ward ausgelöscht, in Rom gehen die Lichter aus.«)
Nichtsdestotrotz erzählt Kiplings Gedicht davon, daß funkelnde Verheißungen eines erfüllteren Lebens und einer besseren Welt die ganze Menschheitsgeschichte hindurch dazu führten, den Weg des Verderbens zu gehen. Er zeigt uns auch, was für entsetzliche Konsequenzen das anmaßende Selbstvertrauen jener »geläufig parlierenden Zauberkünstler« (»smooth-tongued wizzards«) hatte, die diese Visionen anpriesen. Zum Beispiel für die nationale Sicherheit:
When the Cambrian measures were forming,
They promised perpetual peace.
They swore, if we gave them our weapons,
that the wars of the tribes would cease.
But when we disarmed,
They sold us and delivered us bound to our foe,
And the Gods of the Copybook Headings said:
»Stick to the Devil you know.«
Im frühen Quartär, da rief man uns auf, zum ewigen Frieden zu schwören,
Und geben wir unsere Waffen ab, werden alle Kriege aufhören!
Doch nach der Abrüstung wurden wir gefangengesetzt und verjagt,
Und der Gott der Fibelsätze, der sprach »Bleib bei dem, was dich
immer schon plagt.«
Oder über Religion und Familienpolitik:
On the first Feminian Sandstones we were promised the Fuller Life
(Which started by loving our neighbour and ended by loving his wife)
Till our women had no more children and the men lost reason and faith,
And the Gods of the Copybook Headings said: »The Wages of Sin is Death.«
Zu Beginn des Perm verkündete man den sinnlich strahlenden Leib:
Zuerst liebt man seinen Nächsten und später dann dessen Weib!
Die Frau gebar nicht mehr, der Mann vergaß Vernunft und Gebot,
Und der Gott der Fibelsätze, der sprach: »Der Sünde Sold ist der Tod.«
So schrieb Kipling 1919, zur Morgenröte des Sozialismus, nach dem Gemetzel und dem moralischen Chaos des Ersten Weltkriegs, in dem sein Sohn gefallen war, als der Kommunismus in Rußland siegte und scheinbar auch in weiten Teilen Europas. Kiplings persönliche Tragödie, der Zusammenbruch der europäischen Ordnung und die Aussicht auf die Grausamkeit der Linken, scheint ihm eine grelle Vision aller Übel, die aus dieser Richtung zu erwarten waren, eingegeben zu haben. Es ist gespenstisch, wie präzise Kipling immer wieder auf verschiedenen Feldern des Alltags und der Politik den bitteren Weg vorgezeichnet sah, der von Idealismus und Indolenz zu Schande und Scheitern führt, und das, bevor auch nur eine einzige sozialistische (oder faschistische) Regierung so fest im Sattel saß, daß sie ihre Ideologie umsetzen konnte.
Drei Unterscheidungen sind vonnöten. Erstens sind die Tatsachen des Lebens nicht dasselbe wie die oben skizzierten Tatsachen der menschlichen Natur. Wenn sie das wären, würden wir aus unseren Fehlern lernen, statt sie ewig zu wiederholen. Die menschliche Natur verführt uns dazu, die Risiken dummer und utopischer Versprechungen auszublenden; und sie ruft uns dazu auf, den häßlichen Konsequenzen ihrer Realisierung auszuweichen oder sie auszuschlachten. Die menschliche Natur bildet ein Set aus Hoffnungen, Ambitionen und Idealen, das den politischen Erfolg des Sozialismus erklärt, aber diese Hoffnungen, Ambitionen und Ideale erklären auch, warum der Sozialismus ökonomisch, sozial, moralisch und deshalb auch politisch letztendlich scheitert.
Die zweite Unterscheidung besagt, daß unsere Tugenden fast genauso tief in Aufstieg und Fall des Sozialismus involviert sind wie unsere Laster. Deshalb habe ich weiter oben von den »funkelnden Verheißungen eines erfüllteren Lebens und einer besseren Welt« gesprochen und danach von »Idealismus und Indolenz«. Der Sozialismus ist die zarteste Versuchung, die gröbsten Verbrechen zu begehen – eben deshalb, weil er an unser Mitgefühl appelliert und an unsere Sehnsucht nach sozialem Fortschritt. Er liefert uns die perfekte Rechtfertigung, auf gesetzlose und sogar mörderische Weise anderen unseren Willen aufzuzwingen.
Und die dritte Unterscheidung besagt, daß unter den politischen Philosophien prinzipiell auch Konservatismus und Liberalismus für Dummheit und Bösartigkeit empfänglich sind, wenngleich weniger als der Sozialismus. Es ist evident, warum das so ist. Der Konservatismus lehrt Mäßigung, Vorsicht und Besonnenheit. Seine Freiheit ist geordnete Freiheit. Er mißtraut generell Regierungsprogrammen, sozialen Experimenten und jeder Art von Utopismus. Der Liberalismus teilt manche dieser Vorbehalte. Seine Vorliebe für so wenig Staat wie möglich begrenzt zugleich sein Interesse an staatlicher Unterdrückung. Aber der Hang des Liberalismus, die traditionelle Gesellschaft zu entzaubern und durch »rationale« politische Strukturen und frei gewählte soziale Beziehungen zu ersetzen, bedeutet auch, daß er unter dem optimistischen Banner der Reform mit naivem Lächeln in die Falle der Revolution tappt. In praxi teilen sich die Liberalen in Wirtschaftsliberale, die aus guten Gründen zum Konservatismus neigen, und in Sozialliberale, die dem radikalen Charme des Sozialismus nicht widerstehen können, um am Ende aber nicht die Industrie zu regulieren, sondern populäre gesellschaftliche Ansichten. Das hat dieselbe Konsequenz wie die Lehrmeinung, daß es der Zweck des Staates sei, die Gesellschaft nach den Maßgaben sozialer Gerechtigkeit zu reformieren: Die sozialen Konflikte werden um so größer.
Selbst wenn soviel Gerechtigkeit möglich wäre – was nun einmal nicht der Fall ist –, würde das Ziel einen erheblichen staatlichen Zwang bei der Umverteilung von Besitz und Rechtsansprüchen erfordern, um das Proletariat oder andere bevorzugte Gruppen in den Genuß von Vorteilen kommen zu lassen, während andere ihrer gewöhnlichen Rechte beraubt werden. Mit jeder »sozial gerechten« Enteignung würde der Widerstand wachsen, in Reaktion darauf der staatliche Zwang und in Reaktion darauf die Störung des Wirtschaftslebens … und immer so weiter.
Lauschen wir ein letztes Mal Kipling und seinem höchst aktuellen Thema:
In the Carboniferous Epoch we were promised abundance for all,
By robbing selected Peter to pay for collective Paul;
But, though we had plenty of money, there was nothing our money could buy,
And the Gods of the Copybook Headings said: »If you don’t work you die.«
Im Karbon versprach man uns bereits die ökonomische Reinheit:
Wir nehmen dem Einzelnen alles ab, das bekommt die Allgemeinheit!
Es gab reichlich Geld für alle, doch der Hunger, der zog uns krumm,
Und der Gott der Fibelsätze, der sprach: »Wer nicht arbeitet, der kommt um.«
Außerdem reicht es im Sozialismus nicht, wenn man arbeitet. Wie Trotzki hellsichtigerweise betont hat, muß man auch zustimmen. Und gehorchen. Und applaudieren. Und sein Leben verlieren kann man trotzdem. In der Sowjetunion wurden manche sogar ermordet, während sie immer noch applaudierten. Der konservative außenpolitische Experte Joshua Muravchik (* 1947) und der Ökonom Jeffrey Tucker (* 1963), ein Vertreter der Österreichischen Schule, beschäftigen sich im aktuellen Heft der National Review erschöpfend mit einigen technischen Gründen für Aufstieg und Fall des Sozialismus. »Praktiker« und soziale Visionäre wie H. G. Wells (1866–1946) befürworteten die sozialistische Planwirtschaft, weil sie diese für weniger verschwenderisch hielten als die freie Marktwirtschaft. Faktisch aber verzerrte natürlich die Planwirtschaft die Preissignale, die in der freien Wirtschaft sicherstellen, daß die Industrie das produziert, was die Leute kaufen wollen, und nicht das, was die Planung für nötig hält. Denn auf diese Weise waren die Läden voll mit überflüssigen Waren, die keiner brauchte; daneben leere Regale und lange Schlangen mit frustrierten Kunden. Die Planung sorgte für Waren, die zu keinem Preis irgend jemand haben wollte. Nikita Chruschtschow hat einmal beklagt, daß eine Fabrik, um ein rein quantitativ bestimmtes Soll zu erfüllen, Kronleuchter produzierte, die so groß und schwer waren, daß sie überall, wo man sie aufhängte, von der Decke fielen. Auf die Dauer verwandelte der »realexistierende Sozialismus« die ganze Sowjetunion zusammen mit Osteuropa in eine riesige ökonomische Wüste.
Aber mich interessieren mehr die Motive, die den Sozialismus befeuerten – was meist in eine große Enttäuschung mündete. Denn das Eintreten für die sozialistische Transformation der Gesellschaft speiste sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlichster Facetten der menschlichen Natur, worunter wir auch so offensichtlich widerwärtige Laster wie zum Beispiel Neid finden.
Wenn die Gier das kapitalistische Laster ist, dann ist der Neid das sozialistische. Allerdings führt auch der Neid zu den meisten unerfreulichen Begleiterscheinungen des Kapitalismus – er spaltet die Gesellschaft, schafft Konflikte, ermuntert zur Feindschaft gegen die Beneideten und demotiviert alle anderen, ihren Lebensstandard zu verbessern – ohne die rettende Gnade der Gier, die zu Arbeit, Sparsamkeit und Investitionen motiviert. Man vergleiche nur die gesellschaftlichen Schäden, die von den Verbrechen des Sozialismus bzw. des Kapitalismus angerichtet werden. Für die Verarmung ihrer Opfer sorgen beide, aber Verbrechen aus Neid können obendrein tödlich sein und versetzen die Gesellschaft in lähmende Angst. Madsen Pirie (* 1940), Mitbegründer und Präsident des Londoner Adam-Smith-Instituts, fragte einmal: »Wann hatten Sie das letzte Mal Angst, nachts aus dem Haus zu gehen, weil man Sie unterschlagen könnte?« (»When was the last time you were afraid to go out at night in case you were embezzled?«)
Eine andere Triebfeder des Sozialismus, nämlich seine mächtige Verehrung von seiten der Intellektuellen, stand mit dem Neid im Bunde. Literaturkritiker, gescheiterte Politiker, Provinzakademiker, »echte« Wissenschaftler und arbeitslose Künstler glaubten alle miteinander, daß sie die Gesellschaft und die Industrie besser und großherziger führen könnten als jene Kapitalisten und Manager, die bereits am Ruder waren. Sie glaubten, der Marxismus sei der Schlüssel zum Erfolg. Aber der Marxismus ist ein betrügerischer, intellektuelle Arbeit für unnötig erachtender Kunstgriff, der seinen Bekehrten die Illusion vermittelt, daß sie jedes soziale Problem verstehen und lösen könnten, ohne sich näher mit ihm zu beschäftigen. Die Vorlage, glauben sie, erkläre ihnen genug. Die marxistische Lehre zum Beispiel, daß das Eigentum an den Produktionsmitteln über die Klassenzugehörigkeit entscheide, war nicht geeignet, die Einführung und den Aufstieg des Managerwesens zu prognostizieren – und so hat man das Phänomen schließlich trotzig ignoriert. Im Endergebnis entsteht eine Art Lumpenintelligenz, die von der Landwirtschaft bis zur Musikwirtschaft nichts ausläßt, um das marxistische Dogma zu stärken, und dabei von der wirtschaftlichen Effizienz bis zum Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit allem nur im Wege steht. Wer widerspricht, wird bestenfalls an den Rand gedrängt und schlimmstenfalls ermordet – und die Bevölkerung der Sowjetunion litt jahrelang unter Lyssenkoismus und Mißernten.
Sozialisten zerstören die ökonomische
Eigenständigkeit der unteren Sicht
Es sind aber soziale Tugenden, die in einer höchst widersprüchlichen Beziehung zum Sozialismus stehen. Das zeigte sich im so-zialdemokratischen Großbritannien der siebziger Jahre ebenso wie unter den wirklich sozialistischen Regimen. In freien Gesellschaften fühlen sich gute Menschen bemüßigt, den Sozialismus zu unterstützen, weil sie den Armen helfen, junge Leute vom Materialismus abbringen und ihr eigenes schlechtes Gewissen beruhigen wollen, das sie wegen ihres – wie sie meinen – unverdienten Wohlstands plagt. Die ersten beiden Motive sind ausgesprochen ehrbar, aber das heißt noch lange nicht, daß sie die Lage der Benachteiligten wirklich verbessern. Beim dritten Motiv handelt es sich in der Regel schlicht um ein Mißverständnis, aber wenn man darauf beharrt, kann es sich auch zu einer richtigen Neurose auswachsen.
Überhaupt sind die Motive der Geber weniger wichtig als die Frage, ob das Geben den Empfängern etwas nützt. Prüfen wir jedes Motiv der Reihe nach, zuerst die Nächstenliebe. Die Not der Armen zu lindern ist ein reines Gut, sofern sie am Ende aus eigener Kraft leben können. Auch wenn dieses Ziel nur teilweise erreicht wird, ist das besser als nichts. Wenn es allerdings dazu führt, daß ein unabhängiger, wenn auch armer Arbeiter zu einem apathisch-abhängigen Almosenempfänger absinkt, ist der Schaden größer als der Nutzen. Zwei Jahrhunderte lang wurde sehr viel gedankliche Arbeit auf Programme gegen die Armut verwendet, die den Betroffenen ein eigenständiges Leben ermöglichen sollten. Anders als die »ethischen Sozialisten« der frühen Arbeiterbewegung lehnen zeitgenössische Sozialisten es eher ab, Sozialhilfe an Bedingungen zu knüpfen (»workfare«) und propagieren stattdessen das »bedingungslose Grundeinkommen«. Das wirkt großzügig. Aber es stößt die Armen nicht nur in langfristige Abhängigkeit; es untergräbt auch das, was Shirley Letwin, eine konservative Mitarbeiterin Margaret Thatchers, die tatkräftigen Tugenden (»vigorous virtues«) der Nachbarschaftshilfe nannte.
Gelegentlich bedienen sich Regierungen einer Gruppe von Testpersonen, um die Machbarkeit bzw. den potentiellen Erfolg ihrer Politik auszuloten. Im Großbritannien der achtziger Jahre gehörte dazu ein junges Ehepaar. Die beiden erzählten stolz, daß sie genug Geld gespart hatten, um ein Darlehen zu beantragen und sich ein Haus zu kaufen. Sie sahen allerdings ziemlich alt aus (und fühlten sich auch so), als ihre schlauen Nachbarn ihnen verrieten, wie sie das System austricksen und von der Regierung ein billigeres Haus bekommen könnten. Wenn Sozialisten ein Programm auflegen, um Benachteiligten zu helfen, lassen sie sie am Ende erst recht in die Armutsfalle tappen. Im Endstadium dieser kollektivistischen Version von William Hogarths The Rake’s Progress verurteilen die oberschlauen Mitglieder dieser Lumpenintelligenz die Tugenden der Selbstverantwortung und der harten Arbeit als schändlich-individualistische Strategie, die das sozialistische Kollektiv betrüge – oder sie bezeichnen sie im Rahmen der amerikanischen Rassismusdebatte als »typisch weiß« (»acting white«).
Die sozialistische Mangelwirtschaft zwingt
zu einem Materialismus der Not
Dasselbe gilt für hochgesinnte Rechtfertigungen des Sozialismus vornehmlich durch christliche Führungspersönlichkeiten, die der Meinung sind, daß er dem materialistischen und selbstsüchtigen Kapitalismus moralisch überlegen sei. In Wahrheit macht die Knappheit an Waren des täglichen Bedarfs in der sozialistischen Wirtschaft die Leute noch materialistischer als sie es unter dem westlichen Markenfetischismus sind. Um die Bedürfnisse zu befriedigen, die der Sozialismus leugnet, blüht außerdem die Korruption. Im Endstadium des Sowjetkommunismus war eine Frau bereit, sich sogar für ein paar Jeans zu verkaufen. Im Venezuela der Gegenwart werden Familienerbstücke gegen kleine Mahlzeiten getauscht. Aber für die sozialistischen Eliten gibt es immer Läden, wo sie mit Hartwährung einkaufen können, erst recht für die Mitglieder des Politbüros. Als ich 1974 einen Gast der neoliberalen Mont Pelerin Society nach seinem Beruf fragte, bat er mich um Verständnis dafür, daß er mir seine Tätigkeit nur grob andeuten könne: »Ich manage die westlichen Hartwährungskonten von Sowjetführern«, sagte er.
Derartige Widersprüche und Heucheleien bleiben nur denen verborgen, die sich nicht dafür interessieren. Sobald man derartige Probleme nicht länger leugnen kann, verurteilen die wohlhabendsten ausländischen Bewunderer sozialistischer Regime sie förmlich, um dann weiterzumachen wie gehabt. Ihre Bewunderung für linken Despotismus ist wirklich nichts anderes als ein verdrehtes neurotisches Ressentiment gegen die eigene Gesellschaft und als solches nicht ernstzunehmen. Leute dieser Art sind das politische Äquivalent jener Dame der Gesellschaft, die sich als Domina verkleidet; so zeigt man seine Verachtung für die trüben Vorlieben der Mittelklasse. Als ernsthafte Revolutionäre erfinden sie entweder verquere Rechtfertigungen für die Skandale der Sozialisten – Tugenden werden in ihrer Theorie zu Lastern und Laster zu Tugenden – oder sie leugnen einfach den Beweis, der ihnen unübersehbar ins Auge sticht: Obwohl sich noch jedes sozialistische Paradies als kleptokratischer Moloch erweist, zieht die Karawane der »Sandalisten« [= Freunde der Sandinistas] ohne Abbitte zu leisten weiter zum nächsten Schauplatz.
Die Unbeirrbaren stehen in einem trivialen und nichtswürdigen Kontrast zu jenen, die bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gespürt und prophezeit haben, daß ihre linken Gesellschaftsordnungen Genozid, Tyrannei und Verarmung zu gewärtigen haben. Bevor auch nur ein einziges sozialistisches Regime an die Macht gekommen war, ließen Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski (1821–1881), William H. Mallock (1849–1923) und natürlich Rudyard Kipling bereits die Schrecken ahnen, die von Anfang an im humanitären sozialistischen Versprechen verborgen lagen. Ihre Zukunftsvisionen widerlegten in einem Land nach dem anderen die ausgefranste Entschuldigung, daß der Sozialismus noch gar nicht wirklich ausprobiert worden sei. Selbst ohne daß er jemals erprobt worden wäre, war es offenbar möglich, seine Konsequenzen mit geradezu gespenstischer Präzision vorherzusagen. ◆
Dieser Beitrag erschien unter dem Titel »Of Socialism and Human Nature« am 3. Juni 2019 in »National Review«. Aus dem Englischen übertragen von Andreas Lombard. Die deutsche Fassung der Verse Rudyard Kiplings folgt der Übersetzung von Joachim Kalka.

JOHN O’SULLIVAN
John O’Sullivan, geb. 1942, ist Journalist und Präsident des Budapester Danube Institute. Er war Berater und Redenschreiber in Downing Street 10 und bis zu deren Tod ein enger Weggefährte Margaret Thatchers.