Deutschland und Frankreich sind Nachbarn mit sehr unterschiedlichen Wurzeln. Frankreich hat seine eigenen Strukturen und Interessen, die es mit eigenen Methoden verfolgt. Daran kann keine deutsche Sonntagsrede etwas ändern – die Unterschiede sind zu groß
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Tradition schreibt die Marine der »Grande Nation« groß: In einer Zeremonie an der École navale erhalten die Offizierschüler ihre Säbel.
Erfahrungen aus mehr als einem halben Jahrhundert bieten hinreichend Stoff. Wie formuliert man aber, ohne Konflikte zu steigern? Diese Dauerfrage im Umgang mit Frankreich wurde durch die Schocknachricht verdrängt, die deutsche Außenpolitik wolle Goethe-Institute auch in Frankreich schließen. Die lauten Aufschreie des Protests beruhigten zwar nicht, gaben aber die Gewißheit, nicht allein zu stehen. Einer Gesprächspartnerin entfuhr der Ausruf: »Das ist eine Beleidigung für jeden denkenden Menschen!« Wie steht es also um die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich?
Der das Thema bestimmende Begriff »Freunde« hat seinen Ursprung in dem von den Medien seit Jahrzehnten bemühten Begriff vom »deutsch-französischen Freundschaftsvertrag«. Das kommt zwar dem verbreiteten deutschen Bild von Frankreich entgegen, das aus fröhlicher Lebensart im Urlaub gewonnen wurde. Wohlklingend, Sympathien und Erwartungen weckend, doch der Inhalt ist bescheidener. Der »Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit«, nach dem Ort seiner Unterzeichnung kurz »Élysée-Vertrag« genannt, ist nicht das Ergebnis umfangreicher Vorbereitungen, wie bei Staatsverträgen üblich, sondern sein Inhalt beruht auf den Unterlagen, die General de Gaulle 1963 für das Treffen mit Bundeskanzler Adenauer vorbereitet hatte. Man liest also kurzgefaßte Schritte für die künftige Zusammenarbeit. Das ist der eigentliche Schlüsselbegriff für die gemeinsamen Absichten. Oft genug ist klug hervorgehoben worden, daß Staaten keine Freundschaften pflegen, sondern ihre Interessen vertreten. Der blumige Überschwang, mit dem die Beziehungen beider Staaten medial begleitet werden, hat im Laufe der Jahrzehnte Erwartungen entstehen lassen, denen die politische Wirklichkeit leider nicht standhält.
Völkerrechtler wissen,
daß Staaten keine Freundschaften pflegen
Der Vertrag von 1963 folgte den Erkenntnissen aus den vorangegangenen Kriegen. Die Begegnungen während des Zweiten Weltkriegs, die im Feind den Menschen erkennen ließen, bereiteten das vor.
Dazu eigenes Erleben. Im Oktober 1957 besuchte das Schulgeschwader Ostsee unserer jungen Bundesmarine Cherbourg, das im Krieg als deutscher Marinestützpunkt unter alliierten Bombenangriffen litt. Beim ersten Landgang besuchten wir Kadetten eine Hafenkneipe und wurden mit den Worten begrüßt: »Ah, la Kriegsmarine est retour!« Ein Werftarbeiter nahm mir die Mütze ab und Madame brachte das erste Glas Rotwein. Es wurde ein Abend, der für das Leben prägte. Wir erfuhren bald, warum »retour«. Die menschliche Nähe mit dem deutschen Maschinenpersonal bei der Reparatur deutscher Kriegsschiffe wurde nicht zuletzt dadurch gefördert, daß die deutsche Bordverpflegung auch den französischen Familien zugute kam. Dies wurde uns mit wortreicher Gastfreundschaft vergolten. Und da war noch etwas. Als Madame mir das (wievielte?) Glas reichte, blickte sie mich eine Weile an, ihre Augen gewannen Glanz und ich hörte: »Ihr seht aus wie eure Väter.« Nicht das erste und nicht das letzte Erlebnis dieser Art …
Da ging es um unvergeßliche Begegnungen, über die man eigentlich nicht spricht. Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg hat einen Wandel bewirkt, den auch Präsident Mitterrand 1995 hervorhob. Schon der Kanzler und der General konnten unerwähnt darauf aufbauen. Diese Generation hat sich verabschiedet. »Frankreich« als Sammelbegriff kann dem deutschen Leser kein klares Bild vermitteln; es bedarf also einer differenzierenden Betrachtung, zu der hier beigetragen werden soll.
Am Anfang steht eine Frage, für die auch nach sechzig Jahren Élysée-Vertrag keine Antwort erkennbar ist: Welche Auswirkungen haben die weitgespannten Verbindungen zwischen Institutionen aller Art unterhalb der Regierungsebene auf die Zusammenarbeit der Regierungen? Hier seien nur andeutend das Deutsch-Französische Jugendwerk genannt, das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg und Paris, die Deutsch-Französischen Gesellschaften sowie die Partnerschaften zwischen Kommunen.
Aus gutem Grund hat Präsident Macron am 25. Januar 2022 in Berlin gesagt: »Wir sind nicht gleich, wir waren es aber auch nie.« Frankreich hat andere innere Strukturen und geopolitische Interessen. Deutscherseits werden die entscheidenden Unterschiede der politischen Systeme beider Staaten nur selten scharf herausgearbeitet. Frankreich, durch seine Bündnispartner in den Kreis der Sieger des Zweiten Weltkriegs aufgenommen, ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Der Präsident der Französischen Republik ist Oberbefehlshaber einer Nuklearmacht. Das bestimmt Frankreichs Selbstverständnis und Handeln. So sah man Präsident Mitterrand 1985 beim Besuch von Ernst Jünger in Wilflingen auch in Begleitung des Adjutanten mit dem Befehlskoffer.
Die deutschen Darstellungen des politischen Frankreich weisen meist ein erhebliches Defizit auf: Die Armee als Säule des Staates kommt nicht vor, weil die Streitkräfte auch im deutschen politischen Denken nur – wenn überhaupt – am Rande und dann als zu hoher Etatposten erscheinen. Frankreich hat ein anderes Staatsverständnis und denkt in anderen politischen Kategorien. Jüngstes Beispiel: Während man in Deutschland noch stotternd »BRICS« buchstabierte, lud Präsident Macron den indischen Premierminister zum 14. Juli 2023 ein und ließ dessen exotische Truppen in Bataillonsstärke mit schultergelenkstrapazierendem Armschwung paradieren. Das ist Außenpolitik: den anderen verstehen und ihn gewinnen.
Beispielgebend waren die Beziehungen zwischen Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl. Mitterrand hatte seine ganz eigenen Methoden. Neben der Diplomatie und ihren Konferenzen war es »Mitterrands Praxis, mehrere Personen über das gleiche Thema arbeiten zu lassen«. So beschrieb es Hélène Miard-Delacroix 1999 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte. Und Frederike Schotters gab 2019 ihrem Buch Frankreich und das Ende des Kalten Krieges den Untertitel »Gefühlsstrategien der équipe Mitterrand 1981–1990«. Das Jahr 1984 markiert den Beginn aktiven Handelns des Präsidenten gegenüber Deutschland, das Bild vom Treffen bei Verdun erinnert daran.
Mitterrand dachte in weiten Zeiträumen
und geopolitischen Dimensionen
Es gab aber mehr. Im Sommer 1984 begegnete ich auf einer Tagung zufällig einem Emissär des Präsidenten, der in seiner Unauffälligkeit schon wieder auffällig war. Man kann an Hegels »List der Geschichte« denken, denn wir beide waren »zuständig«. Unser Gespräch endete mit seinen freundlichen Worten: »Vous recevrez une invitation.« So fand ich mich im September in Paris in der Sorbonne auf der Tagung »Défense et recherche universitaire«. Um mich kümmerte sich Professor Louis Pilandon (1932–1998), Wirtschaftshistoriker der Universität Clermont-Ferrand II, vom Präsidenten im Secrétariat général de la Défense nationale mit Blick auf Deutschland eingesetzt. Ihn hatte sein Vater geprägt, der als Offizier aus der Kriegsgefangenschaft mit den Worten nach Hause kam: »Das sind auch Menschen.« Unsere beiderseitigen Sprachkenntnisse waren eine der Voraussetzungen für mehr als nur enge Zusammenarbeit, in die auch die damaligen Hochschulen und heutigen Universitäten der Bundeswehr einbezogen waren.
Präsident Mitterrand dachte in weiten Zeiträumen und geopolitischen Dimensionen. Als ich 1985 in Bonn über die Fragen des Präsidenten berichtete, aus denen spürbare Unruhe hinsichtlich der weiteren Entwicklung in Europa sprach, erntete ich mildes Lächeln. Auch die weitere Zusammenarbeit mit Paris auf diesem Feld neben den Angelegenheiten des Élysée-Vertrages fand kein besonderes Interesse – wer geht schon aufs Eis, wenn er keine Schlittschuhe hat. Hier zeigte sich die bis heute alles überwölbende Schwierigkeit in der Zusammenarbeit: das Fehlen der Sprachkenntnisse als Voraussetzung für ein gegenseitiges Verstehen. Die aktuellen Statistiken weisen aus, daß jeweils nur 15 Prozent der Schüler die Sprache des Nachbarn lernen.
So fanden wir einen anderen Weg der Zusammenarbeit: Wir gründeten den Deutsch-Französischen Arbeitskreis Sicherheit und Zusammenarbeit, im Klang angelehnt an die KSZE. Die Satzung beschränkte sich auf die Formel »Nur Wirklichkeit und Wahrheit – niemals Diplomatie« (»Seulement réalité et vérité – jamais diplomatie«). Es gab auch keine Protokolle oder Vermerke. Kein einziges unserer Vorhaben hatte ein Aktenzeichen oder gar einen Verschlußgrad. Es ging um den Austausch von Informationen auch zu schwierigen Themen, wobei das deutsche Kerninteresse darin lag, bestmöglich zum Deutschlandbild des Präsidenten beizutragen. Wir erlebten zwei Höhepunkte. Im März 1988 fand in Frankfurt am Main eine Tagung statt mit dem Thema »Wege zur Überwindung der Teilung Europas – Wege zur Überwindung der Teilung Deutschlands«. Die 27 hochrangigen französischen Teilnehmer hörten die Bemerkung: »Wir glauben an die Wiedervereinigung Deutschlands. Wir wissen nicht, wann sie kommt, aber wir tun alles, damit sie kommt.« Der französische Bericht dazu löste im Quai d’Orsay ein Beben aus, wie wir später mit Genugtuung erfuhren. Und anderthalb Jahre später waren wir zur Gegenveranstaltung in Paris, als die Mauer geöffnet wurde. Nie werde ich den bitteren Blick des Dekans einer der Pariser Fakultäten vergessen, als er mich mit den Worten begrüßte: »Vous avez gagné.« Ich entgegnete ihm aber: »Wir alle haben gewonnen.« Heute bedaure ich, daß wir in Frankfurt die Medien nicht beteiligt haben, damals war diese Zurückhaltung aber richtig.
Die Dokumentation Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (München 1998) läßt den Leser an der Entwicklung teilhaben. Die Protokolle der Gespräche zwischen Kanzler und Präsident vermitteln einen guten Einblick in dessen politisches Denken. Die Gespräche am Strand der Biskaya bei Latche, einfühlsam vom Dolmetscher Zimmermann unterstützt, dienten dem intensiven Austausch abseits vom Konferenztisch. Werner Zimmermann hat den Bleistift gespitzt, mit dem Geschichte geschrieben wurde. Madame Mitterrand belohnte seinen Einsatz mit einem Glas selbstgekochtem Confit de canard.
Mitterrands Blick auf Deutschland wurde von überragendem Wissen und darauf gestützter Klugheit geschärft. Diese Klugheit befähigte ihn, Gegensätze zu überprüfen. Er stellte auf diskretem Wege Fragen, die auf deutscher Seite gar nicht verstanden wurden. Er war in der Lage, sich zu korrigieren, und kam zu neuen Erkenntnissen. Von deutscher Seite kann nicht hoch genug anerkannt werden, welches Vertrauen in Deutschland der Präsident bewies, als er 1987 die vierte Bronzetafel der Siegessäule in Berlin, jene der französischen Niederlage von 1871, Kriegsbeute von 1945, zurückgab. Und seine ehrenden Worte zum deutschen Soldaten in der Abschiedsrede 1995 in Berlin sichern ihm dankbares Andenken. Derzeit werden in Deutschland viele Straßenschilder ausgewechselt, da sollte auch eine Straße gefunden werden, die seinen Namen tragen kann. Er ist nicht nur Machtinteressen gefolgt, sondern hat in Zusammenhängen gedacht.
Ob die Jahre zwischen 1984 und 1995 die Bezeichnung »Freundschaft« verdienen, mögen andere entscheiden. Ich habe ein Jahrzehnt gegenseitigen Vertrauens erlebt, in dem die Zusammenarbeit im Dunstkreis der Politik Freude machte. Wer sich in der Außenpolitik versuchen will, sollte Bismarck und Mitterrand lesen.
Zurück zu den Goethe-Instituten. Angesichts der vielfältigen Krisen die deutsche kulturelle Präsenz im Ausland zu vernichten ist eine Handlung, die rechtliche Würdigung verdient, weil sie deutschen Interessen schadet. Während wir an die Zukunft denken, dürfen wir nicht vergessen: In Frankreich gibt es eine deutsche Präsenz aus drei Kriegen. Eine Million deutscher Gefallener liegen in auf ewig zerstörten Landstrichen. Wieweit dieses Erbe das Bewußtsein im Lande bestimmt, vermag ich nicht zu sagen. Was wissen deutsche Politiker aus eigenem Erleben vom Nachbarn, seiner Sprache, seinem Geschichtsverständnis, seinen Lebensformen? In dieser, wie so oft, schwierigen Phase der Beziehungen zu Frankreich sind selbstgewisse Urteile unangebracht. Es bleiben aber Fragen: Welches auf Kenntnisse gegründete Verständnis von Frankreich haben Verantwortung tragende deutsche Politiker? Welcher Rat wird angenommen?
Das Handelsblatt vom 11. Oktober 2023 titelte: »Deutschland und Frankreich nähern sich an«. Sechzig Jahre Annäherung! Da denke ich an Himmelskörper, die sich annähern und dennoch Lichtjahre entfernt bleiben. Die FAZ vom 19. Oktober spricht von einer »enormen Stärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit« durch »ein neues bilaterales Freundschaftsabkommen«. Gemeint ist der Vertrag von Aachen aus dem Jahre 2019. Daran kann ich nicht glauben. Frankreich hat seine eigenen Strukturen und Interessen, die es mit eigenen Methoden verfolgt. Daran kann keine deutsche Sonntagsrede etwas ändern – die Unterschiede sind zu groß. Hier sehe ich nur einen Weg: hellwach mit nüchterner Sorgfalt den Nachbarn beobachten, vielfältige enge Verbindungen pflegen und Vertrauen schaffen, um die eigenen Interessen einzubringen.
Kritik am Thema ist meist wenig überzeugend. Aber hier müßte die Antwort »Nein« lauten und würde damit nachteilig wirken. Deshalb etwas anders formuliert: Deutschland und Frankreich sind Nachbarn mit sehr unterschiedlichen Wurzeln, die sich um enge politische Zusammenarbeit bemühen. Und da bleibt zum Schluß noch die Frage an die Kulturnation Frankreich, warum sie die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates von 1992 zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat. ◆
HERBERT PLOETZ,
geb. 1936 in Berlin, Fregattenkapitän a. D. Nach der Seefahrt Ausbildung zum Admiralstabsoffizier an der Führungsakademie der Bundeswehr. Referent im Bundesministerium der Verteidigung u. a. für den Élysée-Vertrag, Berater für das Secrétariat général de la Défense nationale in Paris, Officier de l’Ordre national du Mérite.