Roger Köppel, 1965 in Zürich geboren, Verleger und Chefredakteur der Weltwoche. Harald Martenstein, 1953 in Mainz geboren, Journalist, Schriftsteller und Kolumnist für Zeit, Welt und Weltwoche
Unser Thema soll sein: die Medien und die wirkliche Wirklichkeit. Beginnen wir mit dem Correctiv-Skandal. Zur Erinnerung: Dem politisch-medialen Komplex ist es gelungen, ein privates Treffen in Potsdam im ersten Schritt in eine Wannseekonferenz 2.0 und im zweiten in eine allgemein akzeptierte Hyperrealität zu verwandeln. Die Hyperrealität verdrängt die Wirklichkeit und tritt an ihre Stelle, sie besetzt die Köpfe von zwei Millionen Menschen, die daraufhin in vielen deutschen Städten auf die Straße gehen, um »gegen rechts« zu demonstrieren, besser gesagt: um die Wiederkehr des Faschismus zu verhindern. Und nun frage ich: Was ist da los?
Roger Köppel: Ich möchte dazu zunächst den von mir hochgeschätzten deutschen Regisseur und Schriftsteller Werner Herzog zitieren. Herzog sagt nämlich: »Traue niemandem, traue keinem!« Ich glaube, wir müssen die innere Kläranlage wieder aktivieren, und wir müssen heute einfach allem mißtrauen. Und dieser Correctiv-Fall ist ein Lehrstück oder auch ein Augenöffner für viele. Denn daß jetzt wirklich alle das so geglaubt haben, wie es präsentiert wurde, das würde ich doch bezweifeln. Wage also, dich deines Verstandes zu bedienen!
Harald Martenstein: Was diese Veranstaltung in Potsdam angeht, ist das Erstaunliche und mich Erschütternde gewesen, daß Lesarten sich durchgesetzt haben und weiter publiziert werden, die nachweislich nicht der Realität entsprechen. Das Wort »Deportation« ist in Potsdam bekanntlich gar nicht gefallen. Gerade erst heute morgen habe ich wieder einmal den Berliner Tagesspiegel aufgeschlagen, da war erneut von einer Tagung die Rede, in der Deportationen beredet und geplant wurden. Das habe ich in dieser Drastik noch nicht erlebt, daß eine widerlegte Sichtweise in verschiedenen Medien einfach eisern durchgehalten wird. In der Vergangenheit hat sich, nach meiner vielleicht fehlerhaften Erinnerung, die Wirklichkeit immer allmählich durchgesetzt. Zum Beispiel daß die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht keine Kleinigkeit für die Lokalzeitung waren und nicht vergleichbar mit dem, was alljährlich auf dem Oktoberfest passiert. Ich bin gespannt, ob das auch bei der »Potsdamer Wannseekonferenz« im Lauf der Zeit so sein wird. Im Moment sehe ich dafür keine Anzeichen. Man schreibt die Wirklichkeit einfach um.
Was ist die Ursache für diese mediale Verdrängung der Realität?
Köppel: Deutschland ist in einer Art Kriegszustand, und zwar an allen Fronten. Gegen Außen, da geht es natürlich Richtung Rußland, aber auch gegen Innen, wo sehr große Auseinandersetzungen stattfinden und eine immense Polarisierung existiert. Und wenn so viel Druck im System ist, dann wäre es die wichtigste Aufgabe der Medien, etwas Abstand zu nehmen, nicht allen zu glauben und diesen offiziellen Erzählungen von Gut und Böse zu mißtrauen. Ich sehe das zum Teil auch in der Schweiz, aber im Moment scheint es mir gerade in Deutschland besonders ausgeprägt zu sein. Man beobachtet einfach, wie distanzlos Journalisten, die sich immer einbilden, die Robin Hoods der Gegenwart zu sein, diese offiziellen Erzählungen von Gut und Böse übernehmen. Niemand hat die Wirklichkeit auf seiner Seite, und schon gar niemand hat die Wahrheit auf seiner Seite. Aber du mußt immer versuchen, dich der Wahrheit oder der Wirklichkeit anzunähern. Ich bemühe mich, besonders in solchen Fällen Gegensteuer zu geben. Dafür werde ich oft auch kritisiert. Aber das ist für mich die gute alte Dialektik, und das ist das, was für die Weltwoche immer ausschlaggebend ist.
Wenn hier das Hohelied auf den stets distanzierten Journalisten gesungen wird, dann bin ich gespannt, was Roger Köppel und Harald Martenstein zu dem folgenden Zitat von Georgine Kellermann sagen. Frau Kellermann ist eine ehemalige Mitarbeiterin des WDR und schreibt auf X: »Wir müssen unsere Demokratie auch mit undemokratischen Mitteln gegen ihre Feinde verteidigen. Weil sie es wert ist.«
Martenstein: Eine Demokratie, die sich mit undemokratischen Mitteln verteidigt, was soll das sein? Ich würde Frau Kellermann gern fragen, welche undemokratischen Mittel sie da genau im Auge hat. Selbstverständlich ist es legitim, daß es einen Verfassungsschutz gibt. Selbstverständlich ist es richtig, daß Leuten, die gewaltsame Umstürze planen, das Handwerk gelegt wird. Aber ich habe den Verdacht, daß hier bei undemokratischen Mitteln an etwas ganz anderes gedacht wird. Ich habe es kürzlich so geschrieben: Ich hätte nie gedacht, daß der autoritäre, repressive Staat – das Feindbild vieler aus meiner Generation und auch mein Feindbild – in Deutschland noch einmal ein so glanzvolles Comeback erlebt. Er ist wieder da!
»Ich würde nicht sagen, daß Haltungsjournalismus überall triumphiert hat.«
Wie weit dominiert die deutschsprachigen Medien der »Haltungsjournalismus«, für den Fakten, die nicht ins eigene Weltbild passen, vernachlässigbar sind?
Martenstein: Ich würde nicht sagen, daß Haltungsjournalismus überall triumphiert hat. Es gibt zum Glück noch eine ganze Reihe von Kollegen, die dieser Idee nicht anhängen. Haltung, würde ich sagen, ist insofern für Journalisten sogar notwendig, als sie die Meinungsfreiheit und die Demokratie verteidigen sollten. Das ist ein Punkt, über den wir uns, egal wo wir als Journalisten politisch stehen, einig sein sollten. Ich bin nicht als Linksaußen bekannt, glaube ich. Aber wenn weit links stehenden Kollegen das freie Wort verweigert wird, würde ich mich für diese Kollegen einsetzen. Und das ist der Idealzustand, den ich mir für Medien vorstelle: daß man untereinander heftigen Streit führt, auch polemisiert. Aber wenn einem Kollegen der Mund verboten werden soll, dann steht man für diesen Kollegen ein, auch wenn man in der Sache ganz anderer Ansicht ist. Ein löbliches Bild gibt unter anderem die Weltwoche ab, muß ich sagen. Denn wenn man für die Weltwoche etwas schreibt, das Roger Köppel garantiert gegen den Strich geht, dann wird es trotzdem publiziert.
Köppel: Ich publiziere es, weil ich heute meinen Auftrag als Journalist immer orthodoxer auf das zuspitze, was das älteste und das altmodischste Prinzip des Journalismus überhaupt ist: Bei den Regierungen, den herrschenden Mächten, den tonangebenden Kreisen, da muß man immer Gegensteuer geben. Und da gehe ich jetzt auch in die Themen hinein, die Ingo Langner hier heute in diesem Interview offenbar nicht so ansprechen möchte. Natürlich muß man die offiziellen Narrative zu einem Rußlandkrieg genauso in Frage stellen wie das Evangelium des Klimas, wie das Evangelium des Wokismus, wie das Evangelium des angeblichen Genozids, den Israel im Gazastreifen begeht. Ich finde sowieso, das Wort »Genozid« kommt mir in letzter Zeit den Leuten viel zu häufig über die Lippen. Aber ich würde hier auch immer – und ich wähle bewußt dieses Wort – die Narrenfreiheit des Journalisten verteidigen, alles in Frage zu stellen, selbstverständlich auch das, was der Chefredaktor redet. Denn genau das ist ja die Haltung, die meines Erachtens die einzige sein sollte, die einen Journalisten auszeichnet: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Fakten sind auch gern und oft schon mal Konstruktionen. Was kann ich glauben, was kann ich nicht glauben? Und es wird nicht einfacher, sich da ein Bild zu machen, auch angesichts neuer Technologien. Ich kann im Zeitalter von KI nicht mehr sagen: Ist das eine authentische Wortmeldung, die ich im Internet höre, oder kommt das von der KI? Das heißt, du bist radikal auf die Skepsis zurückgeworfen. Und ich sehe, daß der angebliche Haltungsjournalismus oftmals einfach bloß ein reiner Bequemlichkeitsjournalismus ist. Man verständigt sich dann auf gewisse Schablonen. Aber was ich am Journalismus faszinierend finde, ist, in jeder Diskussion dasjenige Argument aufzudecken, das zuwenig berücksichtigt wird. Wenn alle auf dem Ingo Langner und auf dem Harald Martenstein herumhacken, dann wird die Weltwoche als Pflichtverteidiger kommen. Und wenn ihr beide hochgejubelt werdet und ihr bekommt nur noch Life-Achieves, die euch zu Kopf steigen, dann werde ich kommen und euch die Luft rauslassen. Jetzt könnt ihr sehen, was für ein einsamer Mensch ich bin. Ich muß mich immer in Widerspruch zu allem setzen. Aber ich glaube, das ist für mich auch die Faszinationskraft des Journalismus. Und ein Harald Martenstein verkörpert das, und ihr beim Cato macht das, indem ihr darauf beharrt, auch die Kultur ernst zu nehmen und nicht permanent in dieser Seifenoper herumzusurfen, sondern indem ihr statt dessen in gehaltvolle Stoffe eintaucht. Das ist ja auch eine Art Gegensteuer zu dem, was läuft. Früher hatte ich auch oft das Gefühl, ich müßte eine bestimmte Denklinie vertreten. Aber das ist passé. Und ich freue mich, wenn der Harald Martenstein wieder mal sagt: »Mein Gott! Köppel – was der wieder zu Rußland schreibt! Nehmt ihm den Computer weg!«
Martenstein: Mir ist nicht bewußt, daß ich das mal gesagt hätte.
Köppel: Schon klar. Das ist dann ein verdeckter Anstoß. Denn euch Deutsche muß man immer ein bißchen aus der Reserve locken.
Martenstein: Roger Köppel spricht vom »Pflichtverteidiger«, das Wort gefällt mir sehr gut. So sehe ich mich auch oft. Wenn alle Kommentatoren in eine Richtung laufen, dann mußt du dir als Kolumnenautor die Frage stellen: Gibt es eigentlich überhaupt keine Gegenargumente? Wieso erwähnt die keiner? Mir ging das 2015 bei der Migration so. Ich habe damals meinen Augen nicht mehr getraut. Ich hatte zeitweise das Gefühl, es gibt nur noch eine einzige Zeitung im Land. Und das hat mich stark motiviert, es anders zu sehen. Die Gegenargumente lagen ja auf der Hand und werden heute auch von den meisten akzeptiert. Bei Corona war es dann leider wieder ähnlich.
»Opposition ist
eine Art Fehlerkontrolle.«
Was ist heute in den Medien anders als vor zwanzig oder dreißig Jahren?
Martenstein: Da sehe ich zwei wichtige Veränderungen. Das eine ist die herrschsüchtige und illiberale woke Ideologie, die in den letzten Jahren in vielen Redaktionen auf dem Vormarsch ist und mancherorts auch schon wichtige Positionen erobert hat. Und das andere ist die »Klimakatastrophe«. Es gibt Leute, für die »Klima« eine Art Ersatzreligion geworden ist, mit Verdammnis, mit Heiligen, mit Ketzern und mit Dogmen, die auf keinen Fall in Frage gestellt werden dürfen. Und mit dem Weltuntergang, dem Armageddon, als der ultimativen Strafe für Sünden, die man begangen hat. Wobei ich – das sage ich nur fürs Protokoll – den Klimawandel nicht bestreite. Ich finde nur, daß über alle Probleme ergebnisoffen gestritten und diskutiert werden muß. Aber das findet nur unter größten Mühen statt.
Köppel: Da möchte ich noch etwas unterstreichen: Was ist der Auftrag des Journalismus in einer Demokratie, ohne uns jetzt allzu ernst zu nehmen? Wenn du eine Diskussion führst, die nur noch in eine Richtung läuft, dann prägst du damit die ganze öffentliche Debatte über ein Thema. Und die Ergebnisse einer Diskussion, die so einseitig verlaufen ist, können nie gut sein, und die daraus abgeleiteten Entscheidungen einer Regierung oder einer Gesellschaft in ihren demokratischen Verfahren hat dann eben auch Schlagseite. Das ist das Grundproblem. Also sind wir – wenn man dieses hochklingende Ideal immer wieder mal beschwören will – in der Demokratie auch gefordert, dafür zu sorgen, daß die Diskussionen so laufen, daß uns die Ergebnisse überzeugen. Da ist unser Tummelfeld, das ist unser Auftrag, da dagegenzuhalten. Opposition ist eine Art Fehlerkontrolle. Ein autoritäres System, das Gegenstimmen nicht zuläßt, ist nach meiner Überzeugung fehleranfälliger. Das sieht man ja auch an Rußland: Das ist eine Gesellschaft, in der eine offene Debatte nicht möglich ist.
Martenstein: Ich möchte noch etwas zur Woke-Ideologie sagen, die ja quer zu den Ideen der Aufklärung steht. Also quer zur Grundidee aller Demokratien, die da lautet: Gleiches Recht für alle. Wenn ich anfange, Menschen zu sortieren, wenn ich sage, Menschengruppen, die vor fünfzig oder zweihundert Jahren Leid erlitten haben, müssen heute in Form von Privilegien dafür eine Prämie bekommen, dann steht das natürlich vollkommen quer zu den Ideen einer aufgeklärten Gesellschaft. Wenn ich mir diese Quotierungen anschaue – und es kommen ja immer wieder neue dazu –, dann sehe ich das Bild einer Ständegesellschaft vor mir. Ständegesellschaften sind das Gegenteil von Leistungsgesellschaften.
Köppel: Hier muß ich jetzt entschieden dagegenhalten und eine kleine Ehrenrettung der »Woke-Kultur« einstreuen. Beim Skilanglauf habe ich das Buch Herrschaft. Die Entstehung des Westens vom Historiker Tom Holland gehört. Es handelt vom Siegeszug des Christentums. Dort gibt es eine sehr intelligente Schlußpassage. Tom Holland schreibt, daß diese »Woke Culture« – ich nenne sie einfach die »Political Correctness« –, die sich jetzt auch noch über die Biologie erheben möchte, daß dieses »Woke« im Ansatz eigentlich etwas Uraufklärerisches ist, denn dessen Vertreter möchten ja Ungerechtigkeiten beseitigen. Sie möchten beseitigen, daß jemand aufgrund seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner geschlechtlichen Orientierung diskriminiert wird. Dafür sind wir natürlich alle. Aber in ihrer Art und Weise, wie sie das übertreiben, führen sie eben etwas vor Augen. Und dann ist mir der Buchtitel »Dialektik der Aufklärung« von Theodor Adorno und Max Horkheimer in den Sinn gekommen. Die Autoren beschreiben den Moment, wo das aufklärerische Ideal der Emanzipation und der Gleichheit in sein Gegenteil umkippt und in einen repressiven, voraufklärerischen, ständestaatlichen Wahnsinn zurückfällt. Und für mich ist interessant, daß man in der Tinte sitzt, wenn man die nobelsten, ja vielleicht gerade die allernobelsten Ideale übertreibt und verabsolutiert und sie zur Religion oder zur Ideologie erklärt. Und das ist das Problem der heutigen Zeit: daß jedes Gute massiv übertrieben wird. Also die Gegenaufklärung schlummert auch in der Aufklärung.
Martenstein: Jede totalitäre Bewegung, jeder repressive Staat kann nur Erfolg haben, wenn er bei etwas anknüpft, das vielen Leuten als Grundgedanke erst mal vernünftig erscheint. Das war ja auch schon beim Marxismus der Fall, der dann in letzter Konsequenz zum Stalinismus führte. Die Lage der Arbeiterklasse war zur Zeit von Marx und Engels erbärmlich. Die Idee, daß die Arbeiterklasse aus dieser Lage befreit werden muß, war eine naheliegende und zutiefst humane Idee. Das führte dann in letzter Konsequenz zu Lenin und Stalin. Auch der Klima-Extremismus knüpft ja an einem tatsächlichen Problem an, das ist ja alles keine Erfindung. Aber die totalitären Bewegungen blenden alles aus, was jenseits dieses schmalen Fokus der Bewegung liegt. Sie sind wie ein Punktscheinwerfer, der sich auf ein Problem richtet und alles, was sich jenseits dieses Scheinwerferkegels befindet, nicht abbildet. Bei Corona hat der Lichtkegel nur das Virus und seine Folgen gezeigt, nicht die Folgen von Schulschließungen, nicht, was die Beseitigung von bürgerlichen Freiheiten für eine Gesellschaft bedeutet. Abwägung war unmöglich. Man sah nur noch dieses eine Ding. Wenn du nur noch das Klima siehst oder nur noch Rassismus, dann blendest du einen großen Teil der Realität aus und triffst falsche Entscheidungen.
»Man sitzt in der Tinte, wenn man die nobelsten Ideale verabsolutiert und zur Ideologie erklärt.«
Wir sollten auch über Geld reden. Auf der einen Seite wird ein Medium wie Correctiv mit Millionen Euro aus öffentlichen Geldern unterstützt, und auf der anderen Seite wissen wir von der durchaus prekären finanziellen Lage der »traditionellen« Journalisten. Ist das – neben dem ideologischen Motiv – möglicherweise auch ein Grund für den Haltungsjournalismus?
Martenstein: Die prekäre Lage von Journalisten hat natürlich stark mit sinkenden Auflagen und sinkendem Anzeigenaufkommen zu tun. Daß die Auflagen sinken, hat natürlich nicht nur, aber auch damit zu tun, daß viele Leute sich nicht mehr von diesem Angebot repräsentiert fühlen. Es gibt ja durchaus Medien, deren Auflage steigt. Der Zusammenbruch der Auflage ist also nicht unbedingt ein Naturgesetz. Wenn man ein großes Lesersegment nicht nur ignoriert, sondern geradezu zum Feindbild erklärt, dann kann man nicht von denen erwarten, daß sie aus Dankbarkeit diese Zeitung kaufen. Was mich übrigens seit Jahren wundert: Warum schleust sich eigentlich kein neuer Wallraff undercover in eine NGO ein? Ich habe noch nie eine kritische Reportage aus dem Inneren einer NGO gelesen. Vielleicht habe ich etwas übersehen. Das jedenfalls sind Themen, um die man als Haltungsjournalist einen Bogen macht.
Köppel: Ich komme aus den achtziger, neunziger Jahren, und ich habe noch die ganz goldenen Zeiten des Journalismus miterlebt, daß wir bei der NZZ schon im Februar mit den Anzeigen ausverkauft waren. Das war eine Situation, in der die Medien nahezu eine absolute Monopolstellung in der Öffentlichkeit hatten. Und jetzt erleben wir natürlich einen massiven Strukturwandel. Ich durfte vor über zwanzig Jahren Ben Bradlee, den Chefredakteur der Washington Post, interviewen. Diese Zeitung hat bekanntlich den Watergate-Skandal aufgedeckt. Und ich habe ihn gefragt: »Was ist das Wichtigste im Journalismus?« Bradlees Antwort war: »Sie müssen erstens einen guten Eigentümer haben. Und zweitens: Glauben Sie nie etwas, was die Regierung sagt.« Fertig. Das waren seine Grundsätze.
»Staatliche Medienförderung
ist der Untergang.«
Über Geld zu reden heißt auch, über staatliche Medienförderung zu reden.
Köppel: Richtig. Denn ganz gefährlich ist es, wenn der Staat sich massiv einmischt. In der Schweiz wollen sie immer die Medienförderung nach vorn bringen. Eigentlich ist das ein Projekt der Linken. Doch jetzt spricht sich sogar die SVP, also die konservative Partei der Schweiz, für die Medienförderung aus. Das ist dann der Untergang. Es gibt Leute, die behaupten, daß man mit staatlichen Subventionen die Unabhängigkeit der Medien finanziert. Das ist einfach lächerlich, denn mit den staatlichen Subventionen finanzierst du die Abhängigkeit der Medien vom Staat.
»Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.« Das ist ein Zitat von Hannah Arendt. Sind wir mit Blick auf die wirkliche Wirklichkeit 2024 schon an diesem Punkt angekommen?
Martenstein: Ich bin nicht pessimistisch genug, um zu sagen, daß es diesen »Widerstand durch Wirklichkeit« nicht mehr gibt. Unsere Aufgabe als Journalisten ist es natürlich, dieser Widerstand durch Wirklichkeit zu sein. Unsere Aufgabe ist es, uns bei den Mächtigen unbeliebt zu machen. Zu den Mächtigen gehören heute auch die Grünen, die NGOs, die Meldestellen, die Beauftragten der Bundesregierung für alles und jedes. Wenn wir unseren Auftrag ernst nehmen, dann bilden wir den Teil der Realität ab, den die Mächtigen nicht so gern herzeigen möchten. Genau das ist der Job.
Köppel: Ich sage immer »Viel Glück!« zu jenen, die glauben, gegen die Wirklichkeit Krieg führen zu können. Wenn ich heute nach Deutschland blicke, dann erinnert mich das an die Schweiz in den neunziger Jahren. Ein politisches Establishment am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie spüren, daß ihnen die Felle davonschwimmen. Die Medien, die sich immer eingebildet haben, sie wären die unabhängigen Gralshüter der Wirklichkeit, stellen jetzt fest, daß sie mit den Mächtigen im selben Bett, oder besser: im selben Sumpf gesessen haben. Jetzt merken sie plötzlich, daß die Wirklichkeit in Form einer Partei, deren Namen man nicht einmal auszusprechen wagt, in diesen geschützten Garten eindringt. Und jetzt haben alle heillose Panik.
Der Journalist Alexander Wendt schreibt, den Realitätsverlust, die totale Entwirklichung der öffentlichen Sphäre gab es vor einigen Jahrzehnten schon einmal auf deutschem Boden. Und Wendt meint damit natürlich die DDR. Sind wir auf dem Weg in eine DDR 2.0?
Köppel: Die DDR hatte Selbstschußanlagen und einen Todesstreifen. Jetzt kann man sagen, es ist zwar unangenehm, wenn du gecancelt wirst und ausgegrenzt, aber es ist immer noch ein zivilisatorischer Fortschritt gegenüber dem, daß du an einer Grenze erschossen wirst. Aber was ich an diesem Befund interessant finde: Es steckt doch in jeder Demokratie auch mehr Despotismus drin, als eine Demokratie zuzugeben bereit ist. Auch in einer Demokratie kann es totalitäre, tyrannische und despotische Fehlentwicklungen geben, wenn eben zum Beispiel eine Mehrheit glaubt, die Minderheit ausgrenzen zu müssen.
Martenstein: Die DDR war oldschool. Der Prototyp einer erfolgreichen modernen Diktatur ist eher China. Da hast du es in vielen Fällen gar nicht mehr nötig, gegen Dissidenten vorzugehen, weil du ihre Dissidenz schon in einer frühen Phase erkennst, durch umfassende Kontrolle. Du merkst sofort, wenn jemand in eine politische Richtung abdriftet, die du nicht haben möchtest, und kannst die Person frühzeitig ausschalten. Ich glaube, ein Zukunftsmodell besteht auch darin, unerwünschte Personen nicht mehr ins Gefängnis zu stecken, sondern diese Personen einfach in eine niedrige gesellschaftliche Position zu drücken. Du mußt sie nicht einsperren, du mußt lediglich dafür sorgen, daß sie vollkommen einflußlos sind und ganz unten.