Kai Diekmann (59) war von 2001 bis 2015 Chefredakteur von Bild. In seinem 2023 publizierten Buch Ich war BILD bekennt er freimütig: »Ich war ein Junkie. Und Bild war meine Droge.«
Am 9. Januar 2024 war Kai Diekmann mit Cato-Chefredakteur Ingo Langner zu einem Interview über die nationale und internationale politische, mediale und kulturelle Lage nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober 2023 verabredet
Foto: CATO/Vadim Derksen
Kai Diekmann (r.) und Ingo Langner in der Cato-Redaktion
Wir wollen heute über den 7. Oktober 2023 sprechen. In meinem Editorial in der Dezemberausgabe von Cato habe ich darauf hingewiesen, daß die Schlacht von Lepanto 1571 ebenfalls an einem 7. Oktober stattfand. Damals besiegte die abendländisch-katholische Flotte die bis dahin als unbesiegbar geltende türkische Flotte vor Lepanto im Mittelmeer. Und zwar, wie die katholische Kirche fest glaubt, mit Hilfe der Gottesmutter Maria, denn auf allen christlichen Schiffen wurde vor der Schlacht der Rosenkranz gebetet. Als ähnlich epochal wie der 7. Oktober 1571 wird vermutlich dereinst der 7. Oktober 2023 beurteilt werden, an dem in Israel 1 200 jüdische Zivilisten und Soldaten von aus dem Gazastreifen eingedrungenen Hamas-Terroristen niedergemetzelt und etwa 240 Geiseln entführt wurden.
Der 7. Oktober ist auch der Geburtstag von Wladimir Putin.
Der Jahrestag von Lepanto mag in einem höheren Sinne kein Zufall gewesen sein. Hat die Hamas ganz bewußt an Putins Geburtstag zugeschlagen?
Es ist natürlich ein Zufall, daß das der Geburtstag von Wladimir Putin ist, aber trotzdem wird Putin den Terrorüberfall der Hamas auf Israel als ein Geburtstagsgeschenk empfunden haben.
Warum?
Weil der brutale Überfall der Hamas den Überfall der Russen auf die Ukraine aus den Schlagzeilen verdrängt hat. Das, was Wladimir Putin vorher im grellen Lichte der Scheinwerfer und unter den Augen der Weltöffentlichkeit tun mußte, konnte er dann viel unbeobachteter fortsetzen. Und auch wenn ich davon überzeugt bin, daß es keine direkte Verbindung zwischen Putin und diesem Anschlag gibt, wissen wir, daß der Weg von Moskau über Teheran über Damaskus nach Gaza im Zweifelsfall recht kurz ist.
Was war Ihre erste Reaktion, als Sie die Nachricht vom Terrorangriff auf Israel bekamen?
Ich war geschockt. Ich habe mir das nicht vorstellen können. Ich war im vergangenen Jahr relativ häufig in Israel, habe natürlich auch die innenpolitischen Verwerfungen gesehen, die durch das Vorgehen von Benjamin Netanyahu und seiner Regierung ausgelöst worden sind. Aber ich hätte mir nicht vorstellen können, daß den Israelis, daß dem israelischen Geheimdienst ein solcher Angriff und seine Vorbereitung hätte entgehen können. Eine Lebensversicherung der Israelis ist, daß die arabischen Nachbarn zutiefst davon überzeugt waren, daß ihnen die Israelis am Ende immer überlegen sind, daß sie immer die bessere Technologie, immer das bessere Militär, immer die besseren Geheimdienste haben. Und diese Gewißheit ist mit dem 7. Oktober 2023 zutiefst erschüttert worden.
»Eine Gewißheit ist mit dem 7. Oktober
zutiefst erschüttert worden.«
Es gibt Stimmen, die behaupten, daß die Netanyahu-Regierung vorab vom Angriff der Hamas wußte und ihn hinnahm, um ihre Politik weiter fortführen zu können. Denken Sie das auch?
Das glaube ich überhaupt nicht! Das gehört für mich in das Reich der Verschwörungstheorien, so wie es ja auch nach 9/11 Theorien gab, daß das kein Angriff von arabischen Terroristen, sondern ein Angriff der CIA war, um Krieg gegen Afghanistan führen zu können.
War die Reaktion der Ampelregierung auf den 7. Oktober angemessen?
Es gibt ja vieles, wofür man die Ampelregierung kritisieren muß. Aber ich finde, daß in diesem Fall die deutsche Regierung sehr schnell und sehr klar reagiert hat. Und ich habe mich auch gefreut, daß Bundeskanzler Olaf Scholz einer der ersten westlichen Regierungschefs war, die vor Ort Solidarität gezeigt haben. Gerade vor dem Hintergrund dieser richtigen Reaktion war ich dann später enttäuscht, daß sich die Bundesregierung bei Abstimmungen in der UN enthielt, wo sie an der Seite Israels hätte stehen müssen.
»Bei Abstimmungen in der UN hätte die
Bundesregierung an der Seite Israels stehen müssen.«
Sofort nach dem 7. Oktober gab es in Berlin und anderen deutschen Großstädten Pro-Hamas-Demonstrationen, und diese Demonstrationen gibt es bis heute. Hat Sie diese innerdeutsche Reaktion überrascht?
Es war unerträglich – Punkt. Überrascht war ich, als ich anschließend lernen mußte, daß es tatsächlich noch Vorfeldorganisationen der Hamas in Deutschland gibt, die überhaupt erst verboten werden müssen.
Und dieses späte Verbot wurde im Deutschen Bundestag von Innenministerin Faeser sogar vorab angekündigt.
Für mich war Hamas schon immer eine Terrororganisation, deren einziges Ziel die Vernichtung des Staates Israels ist. Und deswegen gehen aus meiner Sicht viele der Appelle ins Leere, in denen es heißt, man müsse verhandeln, es müsse eine Waffenruhe geben. Eine wie auch immer geartete Friedenslösung liegt nicht im Interesse der Hamas – ganz im Gegenteil, Frieden ist für die Existenz der Hamas als Terrororganisation die größte Bedrohung überhaupt. Das ist auch der Grund, warum die Hamas zu diesem Zeitpunkt zuschlug: Israel war in seiner Geschichte mit der Normalisierung seiner Beziehungen zu den arabischen Nachbarn noch nie so weit wie just in diesem Moment. Wir haben die Abraham Accords, wir haben Vereinbarungen mit Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Marokko, mit Bahrain, die Saudis haben sehr konstruktive Verhandlungen mit den Israelis geführt … Genau diesen Prozeß wollte die Hamas mit ihrem Überfall stören, und wenn man sich die Reaktionen vieler arabischer Nachbarstaaten anschaut, ist ihr das zunächst auch gelungen. Diese Staaten können allerdings auch gar nicht anders reagieren, weil sie natürlich den Ressentiments auf ihren Straßen folgen müssen, wenn sie nicht selber weggefegt werden wollen. Die Muslimbruderschaften in Ägypten lassen grüßen.
Wo waren Sie am 7. Oktober?
Ich war in den Vereinigten Arabischen Emiraten und hielt einen Vortrag. Und das ist ja das Irre: daß sich am 7. Oktober Touristen aus Israel dort aufhielten, denen ich dort begegnet bin, mit denen ich gesprochen habe und die dort ohne Probleme, ohne irgendein Gefühl der Bedrohung ihre Kippa tragen und sogar in koschere Restaurants gehen konnten. Während all das in den Vereinigten Arabischen Emiraten möglich ist, muß die Innenverwaltung von Berlin eine Warnung für Touristen aus Israel aussprechen, es könne in bestimmten Berliner Bezirken gefährlich sein, sich als Israeli oder als Jude zu erkennen zu geben. Das ist einfach verkehrte Welt, das ist einfach unerträglich!
Wir haben letztes Jahr in der Oster-Ausgabe von Cato einen Artikel mit dem Titel »Kosher Pessach in Abu Dhabi« von dem israelischen Schriftsteller Chaim Noll abgedruckt. Für mich war das ein großes Hoffnungszeichen. Falls Israel mit Saudi-Arabien Frieden schließt – ist das für die Hamas das Worst-Case-Szenario überhaupt?
Ja klar! Ich sage noch einmal: Frieden ist die größte Bedrohung für das Geschäftsmodell der Hamas. Und natürlich: Saudi-Arabien ist nicht nur die wichtigste Regionalmacht im Nahen Osten, allein von den Dimensionen her. Sondern Saudi-Arabien ist auch der Gralshüter von Mekka und Medina, den heiligsten Städten des Islam. Deswegen kann man es gar nicht hoch genug einschätzen, auf welchem Weg die Israelis und die Saudis waren.
Der Spiegel titelte am 28. Oktober: »Sie wollen, daß wir Angst haben« und schreibt, Juden würden sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen.
Unsere Mitarbeiter in der Berliner Geschäftsstelle von Yad Vashem waren so um ihre Sicherheit besorgt, daß sie vorübergehend ausgezogen sind. Wenn man sieht, was sich auf deutschen Straßen abgespielt hat, ist diese Angst alles andere als grundlos.
Diese Lage wird von vielen nicht unwichtigen Stimmen in Politik, Medien und Kultur nicht bestritten. Allerdings gibt es dann doch sehr oft eine Relativierung, verbunden mit Kritik an dem angeblich neokolonialen Staat Israel. Ich meine das berühmt-berüchtigte »Ja, aber«.
Allerdings, und das ist wirklich absurd und besorgniserregend. Denn nicht nur Politiker und Journalisten, sondern auch viele meiner bürgerlichen Freunde sind in diese »Ja, aber«-Haltung verfallen. Doch es gibt in diesem Konflikt keine »Ja, aber«-Haltung. Denn da sind auf der einen Seite Terroristen, und auf der anderen Seite sind Opfer. Auf der anderen Seite steht mit Israel eine funktionierende Demokratie, die nicht nur ihre Bürger verteidigen muß, sondern die auch unsere Werte, unsere liberalen demokratischen Werte verteidigt. Und wenn heute in Israel bereits darüber diskutiert wird, daß Benjamin Netanyahu den 7. Oktober und seine Folgen im Zweifelsfall politisch nicht überleben wird, dann zeigt das doch, wie lebendig und stark die Demokratie in Israel ist. Ich zitiere immer gern Golda Meir, wenn ich »Ja, aber«-Kritikern begegne: »Wenn die Araber die Waffen niederlegen, dann ist Frieden in der Region. Wenn Israel die Waffen niederlegt, gibt es kein Israel mehr.« Ich glaube, an dieser Beurteilung hat sich bis heute nichts geändert.
»Wir müssen jede Zahlung
an Palästina einstellen.«
Warum zahlt Deutschland überhaupt Geld für Palästina?
Es ist der dumme Glaube daran, daß die UN und ihre Organisationen schon wissen, was sie dort tun. Und es ist der unbedingte Wunsch, die Augen vor dem zu verschließen, was tatsächlich mit diesen Geldern passiert. Wir müßten eher gestern als heute jede Zahlung einstellen, weil unsere Gelder nicht dort ankommen, wo sie ankommen sollen, also nicht den Menschen zugute kommen, sondern tatsächlich zum größten Teil dazu dienen, den Hamas-Terrorismus zu finanzieren. Es ist ja interessant, daß es im Gazastreifen an allem fehlt, aber immer noch genügend Raketen da sind, um sie auf Israel abzuschießen.
An deutschen, aber auch an anderen westlichen Universitäten gibt es nicht einmal mehr eine »Ja, aber«-Haltung. Dort fordern Studenten offen die Auslöschung Israels von der Landkarte.
Wie verrottet muß man sein, wenn man Fotos von verschleppten Frauen und Kindern von den Wänden reißt, wie es an westlichen Universitäten geschehen ist! Das ist etwas, das ich mir nur schwer erklären und das ich nur so deuten kann, daß ein historischer Antisemitismus tiefer in unseren westlichen Gesellschaften verwurzelt ist, als wir uns das eingestehen wollen.
»Natürlich muß auf deutschen Schulhöfen Deutsch
gesprochen werden und keine andere Sprache.«
Sie sind seit Dezember 2015 nicht mehr Bild-Chefredakteur und seit Ende Januar 2017 auch nicht mehr Gesamtherausgeber der Bild-Gruppe. Gleichwohl werden Sie vermutlich am 12. Oktober 2023 das Bild-Interview gelesen haben, das Ihr damaliger Chef Mathias Döpfner mit Henry Kissinger geführt hat. Die Überschrift war: »Kissinger über Hamas-Jubel: Deutsche Asylpolitik war ein schwerer Fehler«. Und in Bild las man am 12. Oktober auch: »Experten warnen vor Terror: Haben ›Hunderttausende‹ Antisemiten zu uns gelassen.« Nun haben Sie sich bekanntlich 2015 mit Ihrer »Refugees Welcome«-Kampagne sehr eindeutig verhalten. In dieser Bild-Kampagne waren Sie klipp und klar für die Aufnahme von diesen Hunderttausenden, unter denen mit Sicherheit nicht wenige Antisemiten waren.
Davon habe ich auch nichts zurückzunehmen. Doch die Erkenntnis, daß bei uns in der Asylpolitik etliches falsch gelaufen ist, hat Bild nicht erst seit Oktober 2023, sondern darüber schreibt sie schon seit Jahrzehnten. Deswegen wurde Bild auch zu meiner Zeit immer als ausländerfeindlich verleumdet und beschimpft.
Warum?
Weil wir das eine getan, das andere aber nicht gelassen haben. Wir haben 2015 aus meiner Sicht zu Recht verlangt, daß Deutschland ein freundliches Gesicht zeigen muß, wenn Menschen an Leib und Leben bedroht werden und zu uns wollen, um ihre Kinder, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Auf der anderen Seite – und das gehört eben auch dazu – haben wir immer wieder und auch die ganzen Jahre zuvor unter meinen Vorgängern Versäumnisse in der Asylpolitik, vor allem in der Integrationspolitik, angeprangert.
Ist das so?
Allerdings. Bild hat enorm viele Rügen vom Presserat bekommen, weil wir uns mit unserer Berichterstattung immer wieder sehr bewußt gegen Regeln des Presserats gestellt haben, die wir mit unserer Glaubwürdigkeit für unvereinbar hielten. Ein Beispiel: Im Zusammenhang mit Straftaten haben wir nicht darauf verzichtet, den Migrationshintergrund eines mutmaßlichen Straftäters auch entsprechend zu benennen. Es ist nun mal auffällig und muß uns zu denken geben, daß der Anteil von Straftätern mit Migrationshintergrund, die in deutschen Gefängnissen einsitzen, überproportional zum Anteil in ihrer Bevölkerung ist. Oder: Wie kann es sein, daß der Anteil der jungen Menschen mit Migrationshintergrund, die ohne irgendeinen Schulabschluß die Schule verlassen, überproportional hoch ist im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil. Diese Mißstände klar zu benennen, dafür wurden wir im Einzelfall regelmäßig vom Presserat gerügt. Inzwischen folgen auch andere Medien der Berichterstattungspraxis von Bild, was Straftäter mit Migrationshintergrund angeht. Und auch der Presserat hat seine Regeln angepaßt, weil die Kollegen verstanden haben, wie abträglich das der eigenen Glaubwürdigkeit ist, wenn wichtige Zusammenhänge aus vermeintlicher Rücksicht verschwiegen werden. Die Bild-Zeitung hat das richtig gemacht. Wir waren weder ausländerfeindlich noch haben wir Ausländerhetze betrieben, sondern wir haben Mißstände klar benannt, die auch von der Politik viel klarer hätten benannt werden müssen.
Muß auf deutschen Schulhöfen Deutsch gesprochen werden?
Natürlich muß auf deutschen Schulhöfen Deutsch gesprochen werden und keine andere Sprache! Natürlich muß es Druck auf Menschen geben, die zu uns kommen, sich unseren Werten und Regeln verpflichtet zu fühlen. Und da haben wir natürlich viel zu lange zugeschaut, wie in diesen Milieus tatsächlich Parallelwelten entstanden, Parallelgesellschaften, die sich selber organisiert und die nach ihren eigenen Werten und Regeln in unserem System weitergelebt haben.
»Ich wollte keine Redaktion
im Elfenbeinturm.«
Dennoch: Für mich war 2015 Ihre »Refugees Welcome«-Kampagne vom ersten Tag an deswegen völlig falsch, weil die Leute, die da in Flüchtlingslagern in der Türkei oder dann in Griechenland waren, sich bereits in Sicherheit befanden. In Ihrem Buch Ich war BILD schreiben Sie ausführlich über Ihre Gefühle im August 2015. Sie fuhren damals mit Ihrer Frau und Ihren Kindern von der Türkei aus auf eine griechische Insel und wurden dort mit dem Flüchtlingselend konfrontiert. Und Ihre schockierten Kinder bitten Sie nun, diesem Elend nicht tatenlos zuzusehen. Und da sind Sie natürlich als Vater gefordert, und schlußendlich nehmen Sie einen Syrer, dessen Frau bei der Flucht übers Mittelmeer ertrunken ist, mit seinen zwei kleinen Söhnen in Ihrem Gästezimmer auf. Meine These ist: Auch Ihrer Kinder wegen inszenieren Sie in der Bild-Zeitung die »Refugees Welcome«-Kampagne, und schließlich können Sie sich sogar noch darüber freuen, daß Ihre medialen Feinde in der Taz, im Spiegel und so weiter jetzt Kai Diekmann dafür loben müssen, daß er die Antifa-Parole »Refugees Welcome!« in Bild übernimmt.
Unsinn! Der Chefredakteur von Bild mag tatsächlich mächtig sein, aber nicht so mächtig, daß er im Alleingang, gegen seine Redaktion, der Marke eine Haltung aufzwingen könnte.
Einspruch: In Ihrer Redaktion waren doch alle begeistert! Dort hat man, wie Sie selber schreiben, vor Rührung über die eigenen guten Taten geweint.
Lassen Sie mich doch die Sache erläutern. Natürlich habe ich von meinen Kollegen und auch von mir selber immer erwartet, daß wir in der Bild-Zeitung Themen behandeln, die wir selbst erleben und die uns selbst beschäftigen. Ich wollte keine Redaktion im Elfenbeinturm. Die Situation, die Sie schildern, hat sich im Sommer 2015, als wir uns entschieden, die »Refugees Welcome«-Kampagne zu machen, etwas anders dargestellt als von Ihnen beschrieben. Da ging es nicht um Flüchtlinge in türkischen Camps, die schon in Sicherheit waren. Sondern es ging um Flüchtlinge in erbärmlichem Zustand, die wir auf Bilder aus Ungarn sahen. Es ging um Flüchtlinge in schwierigsten Lagerverhältnissen in Griechenland. Es ging um Schlepper, die mit Lkws zu uns gekommen sind, in denen dann dreißig oder vierzig Menschen ums Leben gekommen sind, ganz erbärmlich erstickt. Also es ging ganz konkret um Situationen, in denen Menschen alles auf sich genommen haben, nur um ihr nacktes Leben zu retten.
Aber die Flüchtlinge waren auch in Griechenland und Ungarn bereits in Sicherheit. Aber sie wollten unbedingt weiter nach Deutschland, weil wir ihnen hier mehr Geld geben als überall sonst.
Nein, ich glaube nicht, daß das zu diesem Zeitpunkt die entscheidende Rolle gespielt hat. Angela Merkel sagte seinerzeit zu Recht: Für eine solche Situation hatten wir keine Blaupause in der Schublade. Helmut Kohl hat, wenn er auf Fehler im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung angesprochen wurde, immer gesagt: »Sie haben vollkommen recht – bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir alles anders.«
»Für eine Situation wie 2015 hatten wir
keine Blaupause in der Schublade.«
Ja, damit hatte Helmut Kohl auch völlig recht. Aber Frau Merkel nicht. Sie mußte am 16. Juli 2015 ein mediales Desaster hinnehmen. Sie hatte einer jungen Palästinenserin, die mit ihrer Familie in Deutschland kein Bleiberecht mehr hatte und sich deswegen beklagte, die deutsche Gesetzeslage erklärt. Und als das Mädchen dann vor den Pressekameras weinte, wurde sie von der Bundeskanzlerin tröstend gestreichelt. Worauf die Süddeutsche Zeitung schrieb: »Angela Merkel streichelt die Wirklichkeit tot.« Andere linksliberale und linke Medien bliesen in dasselbe Horn. Dieser Stachel saß bei Frau Merkel ganz tief. Und meine These ist: Nur deswegen kam dann die Grenzöffnung für die Flüchtlinge in Ungarn. Merkel wollte von den Medien geliebt werden. Übrigens hat die Kanzlerin 2015 nur mit dem österreichischen Kanzler telefoniert – mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nicht.
Ich weiß nicht, mit wem Frau Merkel telefoniert oder nicht telefoniert hat. Wir haben uns auch nicht nach Frau Merkel gerichtet. Wir haben in einer Situation, in der solche Bilder um die Welt gingen – und dazu gehört dann auch das Bild von dem kleinen Flüchtlingskind, das tot am Strand von Bodrum lag –, es für absolut richtig gehalten, daß das reichste und wirtschaftlich stärkste Land Europas mit seiner besonderen Geschichte ein freundliches Gesicht zeigt, wenn Menschen, die an Leib und Leben bedroht werden, zu uns kommen wollen. Das ist das eine. Das andere, worauf wir ja auch immer wieder gedrungen haben, und deswegen war meine Erfahrung mit dem syrischen Flüchtling bei uns zu Haus so hilfreich …
… der Ihre Frau herablassend behandelt und nach zehn Monaten freie Kost und Logis ohne persönlichen Abschied und ohne Dank Ihr Haus verlassen hat.
Es geht nicht um Dankbarkeit – die haben wir nicht erwartet und nicht gewollt. Nein, es ging darum, daß wir diese Flüchtlinge ganz anders bei uns einbinden und auf unsere Werte hätten verpflichten müssen. Diesen Teil von »Wir schaffen das!«, den hat es bedauerlicherweise nicht gegeben.
Was sind Ihre Schlußfolgerungen daraus?
Es erschüttert mich, daß wir augenscheinlich aus der Situation von 2015 nichts gelernt haben. Wieder kommen heute Flüchtlinge zu uns – und wieder machen wir die gleichen Fehler. Ich habe mich seinerzeit intensiv mit Regierungsverantwortlichen über die sehr konkreten Erfahrungen ausgetauscht, die ich im Zusammenhang mit der Aufnahme eines Flüchtlings gemacht habe, zum Beispiel was unverhältnismäßige materielle Zuwendungen angeht. Da haben wir Riesenfehler gemacht – und machen sie noch immer! Wir setzen die völlig falschen Anreize. Ist es eigentlich so schwer zu begreifen, was wir mit dem Arbeitsverbot anrichten, das wir diesen Menschen auferlegen? Das nimmt einem Menschen die Würde. Grundsätzlich ist es an der Zeit, in der Asylpolitik, der Ausländer-, der Migrations- und Integrationspolitik dringend neue Parameter zu entwickeln.
»Die Entscheidung, Ukrainern
Bürgergeld zu zahlen, ist falsch.«
Welche wären das?
Eine Gesellschaft, die in einer solch falschen Demographie lebt wie in Deutschland – wir haben wesentlich mehr alte Menschen als junge –, kommt ohne Zuwanderung überhaupt nicht aus. Wenn ich in Frieden und glücklich alt werden will, muß es Menschen geben, die zu uns kommen und die bereit und in der Lage sind, eine Vielzahl von Tätigkeiten zu übernehmen, für die es bei uns keinen Nachwuchs mehr gibt. Wir erleben ja jetzt gerade schon, auf wieviel Wohlstand wir in vielen Bereichen des Alltags verzichten müssen, weil wir die entsprechenden Fachkräfte, weil wir die Arbeitnehmer nicht mehr haben. Ich sage Ihnen gern, was wir in Deutschland bisher aus meiner Sicht falsch gemacht haben: Auf der einen Seite haben wir die geringste Rückführungsquote für abgelehnte Asylbewerber, die höchsten Sozialleistungen und das liberalste Asylgesetz. Das führt in der Summe dazu, daß wir wie ein Magnet wirken für Menschen in Lebensverhältnissen wie auf dem afrikanischen Kontinent, denen man überhaupt nicht verdenken kann, daß sie den Wunsch verspüren, zu uns und in den Genuß unseres Sozialsystems zu kommen. Und viele von denen, die sagen, sie wollen nach Europa, meinen am Ende natürlich, sie wollen nach Deutschland – und formulieren vorgeblich politische Gründe. Diejenigen, die sich hier zum Teil auch sehr bewußt in unserem Sozialsystem einrichten, die empfangen wir mit offenen Armen und von denen verlangen wir schlicht zu wenig. Da müssen wir uns neu aufstellen, da müssen wir uns anders aufstellen. Auf der anderen Seite lassen wir Menschen, die ihre Lebensverhältnisse ändern, die etwas leisten wollen, die für sich in ihren Ländern keine Chance sehen, aber hier ihren Lebenstraum mit harter Arbeit verwirklichen wollen, die gar nicht auf die Idee kämen, sich als politische Flüchtlinge auszugeben – die lassen wir gar nicht erst ins Land oder weisen sie trotz guter Integration, Job oder Studium wieder aus. Die bestrafen wir für ihre Ehrlichkeit. Das ist absurd.
Gilt dieser Kurs auch für die Flüchtlinge aus der Ukraine?
Ja. Ich halte die Entscheidung, Ukrainern Bürgergeld zu zahlen, für falsch. 220 000 junge Männer bekommen bei uns Bürgergeld, die gleichzeitig in der Ukraine für den Wehrdienst fehlen. Da setzen wir die völlig falschen Anreize. Um es noch einmal zu sagen: Die Bundesregierung traf 2015 eine menschliche Entscheidung, und die haben wir gern publizistisch unterstützt. Sehr gern! Das eine – Fördern – geht aber nicht ohne das andere – nämlich Fordern. Und das ist der Fehler, den wir begangen haben: Wir haben zuviel gefördert und zuwenig gefordert.