Zu seinem 125. Geburtstag sollte Bertolt Brecht endlich entzaubert werden
Am 14. August 1956, kurz vor Mitternacht, war Bertolt Brecht ein toter Mann. Noch auf dem Sterbebett machte der Dichter und Stückeschreiber gleich zweimal sein Testament. Im ersten setzte er seine Ehefrau, Helene Weigel, zur alleinigen Erbin aller Tantiemen ein. Im zweiten wurden seine Tochter Barbara sowie Käthe Reichel, Isot Kilian und Ruth Berlau mit einem Erbteil bedacht. Diese drei gehörten zur »Schwesternschaft«, vulgo Brechts Harem. Auch in der Todesstunde blieb dieser seiner Maxime treu, viele Frauen gleichzeitig im Spiel zu halten. Es gab sogar noch weitere letzte Verfügungen. Dieses Chaos nutzend, gelang es der weltberühmten Schauspielerin und Theaterdirektorin Weigel, die ihr mißliebigen anzufechten. Seitdem fließen die aus aller Welt zusammenströmenden Einnahmen vor allem auf das Familienkonto des Brecht-Clans. Man kann davon ausgehen, daß es sich dabei um Millionen handelt.
Schon zu seinen Lebzeiten war Bertolt Brecht reich. Mit dem überragenden Erfolg der Dreigroschenoper vom Sommer 1928 riß der Geldstrom aus Theater- und Rundfunkeinnahmen, Verfilmungen und Übersetzungen nie wieder ab. Gleichwohl hat es der 1898 in Augsburg geborene Großbürgersohn verstanden, jedermann einzureden, er wäre hilfsbedürftig. Ihm gelang dieses Kunststück durch sein erstaunliches Talent, den Menschen weiszumachen, in seinen Gedichten »vom armen B. B.« stünde nichts als die reine Wahrheit. Doch diese Verse sind bloß Zweckpropaganda. Agitprop sind auch Gedichte, in denen er seinen Klassenverrat und die Hinwendung zu den werktätigen Massen preist. Denn Brecht hat nie unter Arbeitern gelebt.
Wem es 1948 gelingen konnte, im ausgebombten, hungernden und sowjetisch besetzten Ostberlin ein subventioniertes Theater, eine auch im strengsten Winter wohlgeheizte 14‑Zimmer-Villa mit Seeblick, ein Automobil mit Chauffeur zu ergattern und dabei die Mär vom darbenden Schlucker aufrechtzuerhalten, der ist allerdings ein phänomenaler Bursche.
John Fuegi legt eine Betrugsstory vor,
die ihresgleichen sucht
Ein Phänomen war Bertolt Brecht also ohne Zweifel. Aber war er auch die literarische Ausnahmeerscheinung, für die er bis heute gehalten wird? Sein nur leicht angekränkelter Nachruhm scheint keinen Zweifel daran zu erlauben. Ob Geburt und Tod, jeder runde Jahrestag der Brecht-Vita wird noch immer mit einem beeindruckenden öffentlichen Aufwand gefeiert. Auch zu seinem 125. Geburtstag am 10. Januar wurde seiner wieder gedacht. Doch obwohl der Anteil der vorzeigbaren Bühnenwerke von Jahr zu Jahr kleiner wird, steht das Wort vom Jahrhundertgenie immer noch hoch im Kurs.
Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, daß die 1997 auf deutsch erschienene Biographie Brecht & Co. von John Fuegi von namhaften deutschen Journalisten niedergemacht wurde und seitdem als unseriös gilt. Bei ihrem Erscheinen in den USA 1994 war das noch ganz anders. »Fuegi bringt alle Vorstellungen über den größten dramatischen Dichter des 20. Jahrhunderts ins Wanken«, schrieb die Los Angeles Times. »Eine der wichtigsten Studien dieses Jahrhunderts«, meinte gar das New York Magazine. Auch in Europa registrierte man aufmerksam, was der 1936 in London geborene Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit Lehrstühlen an den Universitäten von Berlin, Mainz, Harvard, Wisconsin und Cambridge zu sagen hat.
Und das aus gutem Grund. Denn Fuegi legt eine Betrugsstory vor, die ihresgleichen sucht. Wenn »der Meister« in irgend etwas singulär war, dann im Aneignen von Urheberrechten. Schon der Titel »Brecht & Co.« deutet es an: Was der Autor B. B. ins Leben rief, war ein Kollektiv, und das bestand stets aus Frauen. Die Namen Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth Berlau sind in diesem Zusammenhang an erster Stelle zu nennen. Bis heute werden sie meist als »Mitarbeiterinnen« bezeichnet, und für manch Ahnungslosen waren sie »Groupies«, die froh gewesen sein müßten, von einem Genie begattet worden zu sein.
Doch diese Machismo-Sicht auf die Dinge geht ebenso am Kern der Recherchen Fuegis vorbei wie die naiv-euphemistische Annahme, Brecht habe aus den Frauen der Schreibwerkstatt gewissermaßen ihre Kreativität herausgekitzelt. Was John Fuegi massiv bezweifelt, ist die alleinige Autorschaft Brechts bezüglich zentraler Teile des offiziellen Werkes. Mit anderen Worten, wo Brecht draufsteht, ist nicht nur Brecht drin!
Hierzu nur die wichtigsten aus einer Fülle von Details, die Fuegi aus lange unzugänglichen Archiven und Gesprächen mit Zeitzeugen zusammengetragen hat: Ruth Berlau verfaßte Szenen zum Kaukasischen Kreidekreis, trug entscheidend zu Herr Puntila und sein Knecht Matti bei und hatte einen großen Anteil an Die Gesichte der Simone Machard.
Nicht nur gebrochene Frauen pflastern Brechts Weg, sondern auch Lug und Trug
Ohne Margarete Steffin hätte es, so Fuegi, weder Leben des Galilei noch Der gute Mensch von Sezuan oder Furcht und Elend des Dritten Reiches gegeben. Auf das Konto von Elisabeth Hauptmann sollen Die Ausnahme und die Regel, Gedichte aus dem Lesebuch für Städtebewohner sowie noch einiges andere gehen. Happy End galt lange Zeit als Brecht-Stück und ist doch tatsächlich ausschließlich von Elisabeth Hauptmann geschrieben worden, was Brecht nicht daran hinderte, die Filmrechte an Happy End zu verkaufen, ohne die Autorin zu fragen, geschweige denn mit ihr zu teilen.
Brecht sah sich als Herr einer Literaturmanufaktur, deren Erträge nur unter seinem Namen veröffentlicht werden durften. Denn er allein war, nach eigenen Aussagen, »eine Marke«. Schon bei der Dreigroschenoper, seinem ersten Welterfolg, ging er in Vertragsangelegenheiten mit einer Skrupellosigkeit vor, die bestens als Lehrstück für Raubtierkapitalisten geeignet ist.
Elisabeth Hauptmann war es nämlich, die den historischen Stoff entdeckt, übersetzt und in eine erste deutsche Theaterfassung gebracht hatte. Alle Ingredienzien, die später zum Welterfolg beitrugen, hatte sie bereits zu einem Paket verschnürt, als sich die Gelegenheit bot, es zu verkaufen. Brecht schnappte zu, bat Kurt Weill um die Musik für das Stück und hatte die Stirn, ohne die Autorin, allein mit Weill, zur Unterzeichnung eines Vertrages zu gehen, der für Hauptmann 12,5 Prozent, für Weill 25 Prozent und für ihn selbst 62,5 Prozent vorsah.
Immer noch wird an linken Stammtischen gern mit klammheimlicher Freude Brechts Satz von seiner »grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums« zitiert. Es mag ja sein, daß für einen Revolutionär die »bürgerliche« Ehrlichkeit überholt ist. Doch dann hätte Brecht die Einnahmen auch in seinem Schreibkollektiv gerecht verteilen sollen. Das aber hat er gerade nicht getan. Im Gegenteil! Was Brecht 1928 begann, das hat er von da an im großen Stil weiterverfolgt. Nicht nur gebrochene Frauen pflastern seinen Weg, sondern auch Lug und Betrug.
Was also war Bertolt Brecht für ein Mensch? Aus welchem Stoff ist jemand gewebt, der sein gesamtes Leben auf Lüge und Ausbeutung seiner Nächsten aufbaut, der sogar jene Menschen betrügt, die ihm auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben gerettet haben, und dabei dreist die Larve des wohlmeinenden Weltrevolutionärs zur Schau trägt? In seinen Gedichten hat Brecht oft den kalten Egoisten herausgekehrt. Dort singt er allerdings auch das Marschlied des selbstlosen Kämpfers für die »gerechte Menschheitssache«. Sind das nur »dialektische Widersprüche«?
Vielleicht sollte Brechts originäres Werk gerade jetzt wieder gelesen werden. Wir sagen voraus, daß man dabei, gewissermaßen unter dem Schleier der Brechtschen »Verfremdung«, auf ganz Erstaunliches stoßen wird. Stellvertretend für diese neue Lesart mag hier das Gedicht Die Maske des Bösen stehen, das sehr gut zur Selbstentblößung Brechts taugt: »An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk / Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack. / Mitfühlend sehe ich / Die geschwollenen Stirnadern, andeutend / Wie anstrengend es ist, böse zu sein.« ◆
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato. In Heft 1/2023 erschien sein Beitrag »Immer sind wir allein«. »Die Maske des Bösen« ist in aktualisierter Form ein aufklärungsrelevantes Kapitel in Langners Kriminalroman Letzte Ausfahrt Stockholm. Friedhovens zweiter Fall, Bernadus-Verlag, Aachen 2019.