Die Wirklichkeit kann verstehen,
wer sich von ihr berühren läßt
und deshalb das Geheimnis fühlt,
das in den Dingen steckt
Foto: NASA/JPL-Caltech
Der Spinnennebel IC 417. Dieser Teil des Nebels Die Spinne und die Fliege ist reich an Sternentstehung, wie auf diesem Infrarotbild des Spitzer-Weltraumteleskops der NASA und des Two Micron All Sky Survey (2MASS) zu sehen ist.
Präzision kann gefährlich werden. Diese Erfahrung haben zum Beispiel die Naturforscher in den Zeiten vor Charles Darwin gemacht, die noch Naturtheologen hießen und bei der Suche nach einem Verständnis des Naturgeschehens vor allem an Gottes Herrlichkeit dachten. Eine ihrer Fragen lautete, wann Gott die Welt geschaffen haben könnte, und erste Analysen deuteten auf das Jahr 4004 v. Chr. hin. Das klingt zwar beim ersten Hören noch ziemlich gut, stellt dann aber eine Herausforderung an die wissenschaftliche Neugier dar, die jetzt Monat, Tag und zuletzt sogar die Stunde wissen will. Der Philosoph Hans Blumenberg hat berichtet, daß in Darwins Schiffsbibel etwas vom 28. Oktober um 9 Uhr morgens die Rede war, woraus der große englische Naturforscher nur einen Schluß ziehen konnte, nämlich daß die ganze Methode der Naturtheologie Unfug war und sich selbst ad absurdum geführt hatte. Der Ursprung der Welt mußte jetzt von anderen Disziplinen erkundet werden.
Wie gesagt, Präzision kann gefährlich werden. Diese Erfahrung wiederholte sich am Beginn des 20. Jahrhunderts, als es Albert Einstein zum einen gelang, die Wechselwirkung zwischen Licht und Materie in allen Feinheiten zu verstehen, und als er zum anderen ein Verfahren angeben konnte, mittels dessen sich die Zahl der Atome mit letzter Genauigkeit ermitteln ließ. In beiden Fällen hatte der physikalische Erfolg höchst merkwürdige philosophische Konsequenzen. Was das Licht angeht, so mußte Einstein seinen Kollegen mitteilen, daß ihre über Jahrhunderte gewachsene Überzeugung, dabei handele es sich ausschließlich um eine Wellenbewegung, unhaltbar war und das Licht sich auch als Partikel – als Photon – bemerkbar machen konnte. Und was die Atome anging, so begann mit Einsteins zählendem Zugriff von 1905 die Umwälzung der Physik, an deren Ende sich herausstellte, daß die Atome alles mögliche waren, nur nicht die Sorte Dinge, die sich selbst Einstein noch vorgestellt hatte, als er ausrechnete, wie viele es von ihnen in einem gegebenen Volumen gibt. Auch die Atome – so wurde im Verlauf der nächsten Jahrzehnte klar – können sowohl als Welle als auch als Teilchen in Erscheinung treten. Doch während diese beiden Tatbestände als Dualität von Licht und Materie ganz locker im Physikunterricht und in den Universitätsvorlesungen verkündet werden, übersieht man ihre eigentliche philosophische Brisanz. Denn immerhin haben Einstein und seine Kollegen die ersten naturwissenschaftlichen Fragen entdeckt, die keine eindeutige und klare Antwort haben. Diese Fragen lauten: Was ist Licht? Und: Was ist ein Atom? Oder, allgemeiner: Was ist Materie?
Vielleicht sollte man den Sachverhalt etwas anders ausdrücken, um die Fragen an Darwins Erlebnis anzuschließen: Die konsequente Anwendung der klassischen Physik zur präziser werdenden Erfassung ihrer Objekte führte vor rund einhundert Jahren dazu, daß sich diese Forschung in eine Sackgasse manövrierte, aus der sie sich nur mit dem nachfolgenden berühmten Quantensprung befreien konnte, auch wenn sie den anfangs aus Verzweiflung unternommen hat. Dabei ist eine neue Wissenschaft entstanden – die Quantenmechanik –, deren Besonderheit einem ihrer Väter, dem großen Dänen Niels Bohr, zufolge in der Erfahrung steckt, daß man mit ihrer Hilfe zwar noch herausfinden kann, wie Atome sind, daß man aber zugleich nicht mehr in der Lage ist, mit einfachen Worten zu sagen, wie Atome sind. Laut Bohr lassen sich die Abläufe auf der atomaren Bühne nur in Bildern und Gleichnissen schildern, wobei es zu seinen Grundüberzeugungen gehörte, daß Poesie präzise sein kann. Den berühmten Satz seines Zeitgenossen Rainer Maria Rilke: »Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre« kannte Bohr ebenso wie sein bester Schüler, der geniale Werner Heisenberg, der in seinen Überlegungen Ordnung der Wirklichkeit versucht, »die Frage, wie denn die Wirklichkeit eigentlich sei«, ohne die neue Mathematik der Quantenmechanik und mehr mit dem Herzen zu beantworten, und dabei Zuflucht zu einem Märchen nimmt, in dem die Frage gestellt wird: »Wie lange dauert die Ewigkeit?« Heisenbergs poetische Antwort darauf lautet: »Am Ende der Welt steht ein Berg, ganz aus Diamant, und alle hundert Jahre fliegt ein Vögelchen dorthin und wetzt dort seinen Schnabel, und wenn der ganze Berg abgetragen ist, dann wird erst eine Sekunde der Ewigkeit vergangen sein.« Und die Wirklichkeit kann verstehen, wer sich von ihr berühren läßt und deshalb das Geheimnis fühlt, das in den Dingen steckt.
Die Lektion der Atome
Wer an dieser Stelle den Einwand erhebt, daß dies sehr mysteriös klinge, den kann man auf Bohrs Ansicht hinweisen, daß die Wahrheit doch nur so ausgedrückt werden kann, daß sie ihr Geheimnis behält. Wie soll sie uns auch anders locken? Bohr hatte dabei keine banalen »Wahrheiten« wie »Es ist Herbst« im Sinn. Er dachte vielmehr an »tiefe« Wahrheiten, wie sie etwa in einem Bekenntnis zu Gott stecken. »Gott existiert« ist eine solche Wahrheit, weil der Satz zum einen höchst unklar bleibt und weil sein Gegenteil ebenso wahr ist.
Was soeben geschildert wurde, hat Bohr gern »die Lektion der Atome« genannt, wobei wir an dieser Stelle konkreter werden und fragen wollen, ob diese Lektion Auswirkungen für die Geschichte der modernen Wissenschaft haben kann. Wenn wir bei dem Aspekt des Zählens bleiben, läßt sich feststellen, daß es heute die Gene sind, die man so präzise zu quantifizieren versucht wie vor einhundert Jahren die Atome. Und könnte es nicht sein, daß es bald auch eine analoge »Lektion der Gene« in dem Sinne gibt, daß in dem Augenblick, in dem die Biologen unserer Tage – etwa im Gefolge der zahlreichen Genomprojekte – genau festlegen, wie viele Gene ein Mensch (oder eine Mücke) hat, das Objekt ihrer Begierde als anschauliches Ding ebenso verschwindet wie einst die Atome? Wenn selbst die Fragen »Was ist ein Atom?« oder »Was ist Materie?« ohne eindeutige Antwort aus der Wissenschaft bleiben, wie kann man dann erwarten, daß die doch komplizierteren Fragen »Was ist ein Gen?« oder »Was ist Leben?« präzise und punktgenau geklärt werden können?
Romantisches in der Wissenschaft
Natürlich wird es mit den immer raffinierteren und einzelne molekulare Ereignisse erfassenden Methoden der heutigen genetischen Wissenschaften nicht nur möglich werden, mit höchster Genauigkeit zu sagen, wie viele Bausteine (Nukleotide) das Genom einer einzelnen menschlichen Zelle umfaßt – man wird sogar angeben können, in welcher Reihenfolge die Milliarden Moleküle angelegt und vorhanden sind. Aber kann man dann sagen, was ein Gen ist? Weiß man dann, wie viele Gene es braucht, um einen Menschen zur Welt zu bringen?
Wer Gene verstehen will, kann nicht bloß auf das Geschehen in einer einzelnen Zelle starren. Gene sorgen nicht nur mit ihren Produkten für den dort nötigen Stoffwechsel, und sie koordinieren auch nicht nur unsere Entwicklung vom befruchteten Ei zum ausgewachsenen Baby. Gene haben darüber hinaus eine lange evolutionäre Geschichte und haben in diesem Zusammenhang zunächst einmal dafür gesorgt, daß unsere Art überhaupt möglich wurde. Gene müssen also etwas sein, das zugleich ist und werden kann, und es ist anzunehmen, daß die vielen unbenutzten und scheinbar überflüssigen Bausteine eines Genoms – oft Schrott (»junk«) genannt – es sind, die diese Dynamik erlauben. Gene haben also einen ähnlich doppelten Charakter wie die Atome, und man kann diese Dopplung sogar noch doppeln. Denn Gene stammen aus der Natur und bringen sie zugleich hervor. Gene sind – mit einem Begriffspaar der Romantik – Natura naturans (hervorbringende Natur) und Natura naturata (hervorgebrachte Natur) zugleich, wobei ihr Eins-und-doppelt-Sein unmittelbar an der Doppelhelix erkennbar wird.
Mit dem Stichwort »Romantik« ist der Schlüssel zur Lösung der offenen Fragen in der Wissenschaft gefallen, denn die Vertreter der im Anschluß an die Aufklärung unter dieser oft mißverstandenen Bezeichnung entwickelten Einstellung des Denkens haben als erste versucht, zwei Arten von Fragen zu unterscheiden. Während die Aufklärung noch annahm, es gäbe nur Tatsachenfragen, die sich irgendwann durch geeignete Informationen – heute aus dem Internet – präzise und eindeutig beantworten lassen, erkannten die Romantiker, daß es daneben immer auch Wertfragen gibt, die ohne solch eine Festlegung bleiben. Die Romantiker hatten dabei Fragen nach der Lebensführung im Auge: Soll ich an Gott glauben? Soll ich gehorsam sein? Sie erkannten dabei, daß Werte nicht in der Natur gefunden, sondern geschaffen werden, und zwar durch den Menschen selbst, der zwar aus der Natur stammt, aber seine Natur selbst erfindet. Der Romantiker erlebt die Natur doppelt: als etwas, das ihn in einem biologischen Prozeß hervorbringt, und als etwas, dem er in einem künstlerischen Prozeß Form verleiht.
Die eigentliche Sensation der wissenschaftlichen Revolution, die mit Einstein, Bohr und Co. in die Gänge kam, besteht nun darin, daß die romantische Idee nicht nur bei moralisch-ethischen, sondern bereits bei materiellen Fragen eine Rolle spielt, wenn ich nur genau genug hinschauen kann und will. Die Physiker erkannten zum Beispiel, daß die Bahn eines Elektrons in einem Atom erst dadurch zustande kommt, daß Menschen sie beobachten. Mit anderen Worten, wir kreieren die Natur, aus der wir stammen – ganz wie die Romantiker gesagt haben. Wir erfinden auch die Gene, die uns hervorbringen, was heißt, wir entwerfen so lange Modelle von ihnen, bis sie uns gefallen. In der Präzision der Modelle sehen wir dann unsere Kreation, also uns selbst. Was könnte uns auch mehr interessieren? Und könnte es nicht sein, daß dieser Weg neben dem Hirn auch das Herz erreicht und damit den ganzen Menschen?
Die Definition des Novalis
Wer sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, daß die Werke der Wissenschaft wie die der Kunst etwas anderes sind als die Natur, die sie darstellen, wer also akzeptiert, daß Menschen die Natur verstehen, indem sie ihr eine Form geben, könnte insgesamt auf die Idee kommen, daß sich in der Wissenschaft nicht nur das Gedankengut der Aufklärung, sondern gleichberechtigt das der Romantik zeigt. Man kann das prüfen, wenn man sich den Satz des Novalis vornimmt, den Rüdiger Safranski als »die beste Definition des Romantischen« bezeichnet hat. Bei Novalis heißt es: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.«
Mit dieser Festlegung läßt sich zeigen, daß gerade die Naturwissenschaften die Welt romantisieren, zum Beispiel wenn es der Physik gelingt, »dem Bekannten die Würde des Unbekannten« zu geben. Es mag zwar überraschen, aber genau darin besteht ein wesentlicher Aspekt des Unternehmens, das wir als Naturwissenschaft kennen. Naturwissenschaftler erklären das, was sie sehen – das Bekannte –, durch das, was sie nicht sehen – das Unbekannte. Das (sichtbare) Fallen eines Steins etwa wird seit Isaac Newton durch die (unsichtbare) Gravitation erklärt, die von Massen ausgeht, und das (sichtbare) Ausrichten einer Kompaßnadel kann auf das (unsichtbare) Magnetfeld der Erde zurückgeführt werden. Das Bekannte – das Fallen und das Drehen – bekommt sogar die Würde des Unbekannten, denn wie das Schwerefeld der Erde die Gravitationskraft zustande bringt und wie unser rotierender Planet zu seinem Magnetfeld kommt, bleibt der Forschung so verborgen wie am ersten Tag, auch wenn die fraglichen Phänomene quantitativ vollkommen beherrscht werden.
Der unendliche Schein und der hohe Sinn
Eine weitere Forderung von Novalis läßt sich ebenso leicht mit naturwissenschaftlichen Erfahrungen erfüllen, seit Albert Einstein 1905 zeigen konnte, daß Licht als Welle wie als Teilchen in Erscheinung treten kann. Zwar nimmt die Gegenwart diese Einsicht ohne Aufregung zur Kenntnis und zähmt sie mit dem Wort vom »Dualismus« des Lichts. Für Einstein brach damals aber das ganze Gebäude der Physik zusammen; schließlich hatte er nicht das Licht erklärt, sondern erklärt, daß Licht sich nicht erklären läßt. Denn wenn Licht Welle und Teilchen zugleich sein kann, kann man zwar alles mögliche darüber herausfinden – seine Wellenlänge, Geschwindigkeit, Polarisation und vieles mehr –, man kann nur nicht mehr sagen, was es eigentlich ist.
Mit anderen Worten, Einstein hat »dem Gewöhnlichen« – dem Licht des Tages – »ein geheimnisvolles Ansehn« gegeben. Er hat gezeigt, daß Licht bei aller wissenschaftlichen Durchleuchtung ein Geheimnis bleibt. Wenn ihn das zunächst auch verwirrt und geärgert hat, so hat er zuletzt doch mit dieser Romantisierung seinen Frieden gemacht, indem er sagte: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Wissenschaft und Kunst steht.« Und wem muß man eigens sagen, daß das Leben der Menschen darin besteht, mit den Produkten beider kreativen Lager in Berührung zu kommen?
Novalis’ Forderung, »dem Endlichen einen unendlichen Schein« zu geben, kann erfüllt werden, indem die Theorie der Physik, die den Namen Quantenelektrodynamik trägt, auf die Reflexion von Licht angewendet wird. Damit rückt zuletzt die erste Forderung in den Blickpunkt, die warten mußte, weil es um den schwierigen Begriff des Sinns geht, den die Naturforschung gern meidet. Für einen Naturforscher hat es nur Sinn, über Sinn zu sprechen, wenn das Ganze, dem man seine Aufmerksamkeit widmet, bekannt und verstanden ist. Wer von Sinn spricht, stellt eine Verbindung her zwischen der Sache, um deren Sinn es geht, und der Absicht, diese Verbindung herzustellen. Das klingt zwar leicht, bereitet einem Naturwissenschaftler aber Sorgen, weil er nicht sicher ist, daß er die Sache so ganz und gut kennt, wie er es sollte.
Man kann aber annehmen, daß dies gelungen ist, zum Beispiel wenn man als Historiker die Wissenschaft selbst betrachtet und dabei nicht nur ihre Leistungsfähigkeit, sondern auch ihren Sinn erkennt. Die Naturwissenschaften sind in ihrer modernen Form im 17. Jahrhundert aufgekommen, und die Absicht ihrer Vertreter bestand darin, die Lebensbedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern. So läßt Brecht es seinen Helden in Leben des Galilei sagen, und so dachten viele der damaligen Wegbereiter der Wissenschaft von Francis Bacon über Johannes Kepler bis zu René Descartes. Konkret beschäftigt waren die Herren mit gemeinen Dingen: Glas schleifen, Erbsen zählen, Berechnungen anstellen, Volumen messen, Entfernungen bestimmen. Tatsächlich geschaffen haben sie etwas Sinnvolles, nämlich die westliche Wissenschaft, die Europa auf seinem Sonderweg zu dem Wohlstand gebracht hat, den Menschen gern genießen, ohne sich zu bedanken. Die Wissenschaft betrifft und berührt sie jeden Tag. Sie wird sich bedanken, wenn man sein Herz für sie öffnet. ◆
ERNST PETER FISCHER,
geb. 1947, diplomierter Physiker, promovierter Biologe, habilitierter Wissenschaftshistoriker, ausgezeichneter Buchautor und Vermittler, Professor (apl.) für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Heidelberg. Jüngste Publikation: Die Stunde der Physiker, München (C.H.Beck) 2022