Eine bösartige Idee frißt sich seit fast eineinhalb Jahrhunderten durch die Institutionen der modernen westlichen Gesellschaften. Sie behauptet, daß es auf der Erde zu viele Menschen gebe und es daher notwendig sei, ihre Zahl auch mit brutalen, menschenfeindlichen Mitteln zu verringern. Die Gegenwart spricht leider dafür, daß diese Idee nach wie vor virulent ist
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»Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch in Schafskleidern, im Inneren aber sind sie reißende Wölfe« (Mt 7,15)
Quintus Fabius Maximus Verrucosus (ca. 275–203 v. Chr.) war ein Senator und Feldherr der römischen Republik. Den Beinamen »Cunctator« (»der Zögerer«) erwarb er im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) aufgrund seiner Taktik, den karthagischen General Hannibal nicht wie damals üblich direkt anzugreifen, sondern ihn in einem langen Guerillakrieg aus dem Hinterhalt zu zermürben. Hierbei mußten Fabius und die Römer viel einstecken. Mehr als einmal schien die Sache verloren. Doch Hannibal mußte am Ende abziehen und wurde 202 v. Chr. durch die Legionen von Scipio Africanus (ca. 236–183 v. Chr.) in der Schlacht von Zama (im heutigen Tunesien) geschlagen.
Am 4. Januar 1884, etwa ein Jahr nach dem Tod von Karl Marx (1818–1883), wurde in London eine Gesellschaft mit dem Ziel gegründet, den Sozialismus einzuführen. Im Gegensatz zu Marx setzten die Mitglieder dieser Gesellschaft, die sich aus Bewunderung für den römischen Feldherrn Fabian Society nannten, nicht auf Revolution, sondern auf langsame Reformation und Unterwanderung der demokratischen Institutionen. Ihr Signet war die Schildkröte, ihre Flagge schmückte ein Wolf im Schafspelz. Heute, fast 140 Jahre später, nach kommunistischen Revolutionen nicht nur in Rußland und China, sondern auch in vielen Ländern Asiens sowie in Mittel- und Südamerika, nach dem Aufblühen und Abebben, ja Absterben kommunistischer Parteien in fast allen Ländern der westlichen Welt, stellen wir verdutzt fest, daß der gradualistische Ansatz der Fabianer – die in der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet werden – unsere heutige Gesellschaft tiefer und nachhaltiger geprägt hat und immer noch prägt als aller revolutionäre Furor des vergangenen Jahrhunderts.
Deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, die Wurzeln dieser erstaunlichen Unterwanderung freizulegen, die Hauptakteure darzustellen und ihre Wirkung auf unsere Welt zu beschreiben. Darüber hinaus soll gezeigt werden, daß dieser Ansatz nur an der Oberfläche sozialistisch ist und in seinem Kern auf archaische oligarchische und feudalistische Welt- und Gesellschaftsmodelle zurückgeht, die weit in die Antike zurückreichen.
Den Kern der Fabian Society bildete das sozialistische Ehepaar Sidney (1859–1947) und Beatrice (1858–1943) Webb. Unter ihrer Führung wurde die Gesellschaft zur führenden »Denkfabrik« der nach König Edward II. benannten Edwardian Era (1901–10/14). Die Society existiert bis heute mit Niederlassungen in verschiedenen Ländern des ehemaligen britischen Weltreiches wie Australien, Kanada und Neuseeland. Auch die London School of Economics wurde von Fabianern, namentlich von Beatrice Webb, gegründet. Weitere bekannte Mitglieder waren der anglo-irische Schriftsteller und Dramaturg George Bernard Shaw (1856–1950) und der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872–1970), der mit den Webbs eng befreundet war. Ebenfalls einflußreiche, aber heute weniger bekannte Mitglieder waren der Sexualwissenschaftler Havelock Ellis (1859–1939)¸ die Gründerin der Bewegung für das Frauenwahlrecht, Emily Pankhurst (1858–1928), und der Politiker und Philosoph Richard Viscount Haldane (1856–1928). Auch der erste Labour-Premierminister des Vereinigten Königreichs, Ramsay MacDonald (1866–1937), war Mitglied. Die Fabian Society spielt in der britischen Politik bis heute eine wichtige Rolle. In Großbritannien hat sie etwa 7 000 Mitglieder, von denen etwa 5 500 gleichzeitig Mitglieder der Labour-Partei sind, die in etwa mit der SPD vergleichbar ist. Die Labour-Partei hatte traditionell etwa 200 000 Mitglieder – die derzeit hohe Mitgliederzahl von 500 000 verdankt sich der Momentum-Bewegung um Jeremy Corbyn (* 1949). Trotz dieses Zahlenverhältnisses waren die meisten Kabinettsmitglieder sowie alle bisherigen Labour-Premierminister Mitglieder der Fabian Society.
Deren Einfluß läßt sich aber nicht allein auf ihre parteipolitische Bedeutung zurückführen. Vielmehr muß man die Society, die enge Kontakte zur Wissenschaft, zur Kultur und nicht zuletzt zur Hochfinanz unterhielt, als Teil eines kulturellen Netzwerks, ja beinahe eines kulturellen Ferments verstehen, in dem bestimmte gesamtgesellschaftliche Ideen formuliert und propagiert wurden, deren Konturen erst in den letzten Jahren, dafür aber mit um so mehr Wucht sichtbar geworden sind. Besonders ein Strang aus diesem Ideengeflecht scheint für unsere Zeit zu den wichtigsten zu gehören. Er ist mit diesem nicht nur britischen, sondern spezifisch englischen Biotop aufs engste verbunden. Die Rede ist vom Malthusianismus.
Während der Renaissance und noch mehr während der Aufklärung hat eine Idee aus dem Griechenland der Antike Verbreitung gefunden, die besagt, daß die Geschichte allen Rückschlägen zum Trotz eine grundsätzlich positive Richtung kennt, wodurch das Los des einzelnen Menschen sich nach und nach verbessere. So schrieb der Vertreter des deutschen Idealismus Friedrich Schiller (1759–1805) in seinem 1790 veröffentlichten Aufsatz »Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon« über die diametral entgegengesetzte Vorstellung des Menschen in den Stadtstaaten Sparta und Athen. Während in Sparta der Mensch ein austauschbarer Teil des mächtigen Staates war: »Lykurgus begriff wohl, daß es nicht damit getan sei, Gesetze für seine Mitbürger zu schaffen, er mußte auch Bürger für diese Gesetze erschaffen«, war für den Athener Solon der Mensch das Maß aller Dinge: »Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen […].«
Derart optimistische Vorstellungen gingen einigen in der Tradition der calvinistischen Prädestinationslehre stehenden englischen Philosophen zu weit. In seinem 1798 erschienenen Buch An Essay on the Principle of Population stellte der englische Kleriker der anglikanischen Kirche und Ökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834) die These auf, daß eine Zunahme der Lebensmittelproduktion zunächst die Not vor allem der ärmeren Gesellschaftsschichten lindere, diese aber, anstatt ihren Lebensstandard zu erhöhen, auf diese Zunahme an Nahrung mit einer erhöhten Kinderzahl reagieren würden, so daß nach einer gewissen Zeit für jeden nur dieselbe mangelhafte Menge an Nahrung zur Verfügung stehe und damit nichts gewonnen werde. Weil noch dazu das Wachstum der Bevölkerung geometrisch, das der Nahrungsmittelproduktion lediglich arithmetisch erfolge, seien ohne Bevölkerungskontrolle Hungersnöte und Seuchen eine ständige Begleitung des menschlichen Schicksals auf Erden.
»Alle Kinder, die in einer Zahl geboren werden, die der für den Erhalt einer gewünschten Bevölkerung übersteigt«, so Malthus, »müssen notwendigerweise sterben, wenn für sie durch den Tod von erwachsenen Menschen kein Platz gemacht wird. Wir sollten nicht auf törichte und nutzlose Art versuchen, die Natur an der Herbeiführung dieses Sterbens zu hindern, sondern ihr dies ermöglichen. Wenn wir Angst vor einer zu häufigen, schlimmen Form der Hungersnot haben, sollten wir die anderen Formen der Zerstörung, zu deren Vollzug wir die Natur zwingen, unermüdlich unterstützen. Anstatt den Armen die Reinheit zu empfehlen, sollten wir sie unterstützen, das Gegenteil anzustreben. Wir sollten in unseren Städten die Straßen enger machen, mehr Menschen in die Häuser hineinzwingen und uns um die Wiederkehr der Pest bemühen. Auf dem Lande sollten wir die Dörfer in der Nähe von Tümpeln mit stehendem Wasser errichten und vor allem die Besiedelung von möglichst sumpfigen und ungesunden Gegenden befürworten. Aber vor allem sollten wir spezifische Behandlungen für dahinraffende Krankheiten verurteilen und die wohlwollenden, aber stark irregeleiteten Menschen zurückhalten, die durch die Einführung von Plänen zur Ausrottung spezifischer Erkrankungen der Menschheit einen Dienst zu erweisen gedenken.«
Insbesondere die Fabianer haben diesen zutiefst menschenfeindlichen Impuls von Malthus dankbar aufgegriffen. So sagte George Bernard Shaw nach einem Besuch im Jahr 1931 in der Sowjetunion (die er vorbehaltlos unterstützte) folgendes: »Sie alle werden mindestens eine Handvoll Menschen kennen, die in dieser Welt nutzlos sind, die nur Ärger machen. Lassen Sie sie auftreten und sagen Sie folgendes: ›Mein Herr, meine Dame, wären Sie so nett, Ihre Existenz zu rechtfertigen? Wenn Sie Ihre Existenz nicht rechtfertigen können, wenn Sie nicht Ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten [Original: »pulling your weight in the social boat«], wenn Sie nicht soviel produzieren, wie sie verbrauchen, oder vielleicht nur etwas mehr als das, dann ist es offensichtlich, daß wir die Institutionen [Original: »organisations«] in unserer Gesellschaft nicht einsetzen können, um Sie am Leben zu erhalten. Denn Ihr Leben hat für uns keinen Nutzen und vermutlich auch für Sie nicht sehr viel.‹«
Daß diese Aussage kein Einzelfall war, sondern Programm, wird an der folgenden, nicht nur malthusianistischen, sondern offen rassistischen Aussage des Fabianers Bertrand Russell in dessen 1951 erschienenem Buch The Impact of Science on Society (dt. EA: Wissenschaft wandelt das Leben, München [List] 1953) sichtbar: »Bald wird die weiße Bevölkerung der Welt nicht mehr zunehmen. Die asiatischen Rassen, und vor allem die Schwarzen [Orig. »Negroes«] werden länger brauchen, bevor ihre Anzahl sich ohne die Hilfe von Krieg oder Pest stabilisiert. Ich sage nicht, daß Geburtenkontrolle die einzige Art ist, die Zunahme der Bevölkerung zu verhindern. Es gibt auch andere, die den Gegnern der Geburtenkontrolle vermutlich lieber sind. Krieg […] hat bisher in dieser Hinsicht enttäuscht, aber vielleicht wird die bakteriologische Kriegführung sich als effektiver erweisen. Wenn es gelänge, den Schwarzen Tod einmal pro Generation auf der Welt zu verteilen, könnten die Überlebenden sich frei fortpflanzen, ohne die Welt zu voll zu machen. […] Diese Situation ist vielleicht etwas unappetitlich, aber was soll es? Wer wirklich von edler Gesinnung ist, dem ist das Glück, vor allem das Glück anderer, egal.«
Solche Gedanken fanden nicht nur in England sondern in der ganzen westlichen Welt und darüber hinaus immer mehr Verbreitung. In seinem wirkungsreichen Buch The Population Bomb aus dem Jahr 1968 (dt. EA: Die Bevölkerungsbombe, München [Hanser] 1971) schrieb der amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich (* 1932) folgende Sätze: »Ein Krebs ist eine unbegrenzte Vermehrung von Zellen, die Bevölkerungsexplosion die unbegrenzte Vermehrung von Menschen. Nur die Krebssymptome zu behandeln mag für den Patienten zunächst eine Linderung bringen, aber am Ende wird er auf eine oft furchtbare Weise sterben. Das gleiche Schicksal erwartet eine Welt, die nur die Symptome einer Bevölkerungsexplosion behandelt. Statt die Symptome zu behandeln, müssen wir den Krebs herausschneiden. Die Operation wird viele Entscheidungen erfordern, die herzlos und brutal erscheinen. Der Schmerz mag stark sein. Aber die Erkrankung ist so weit fortgeschritten, daß der Patient nur mit einer Radikaloperation eine Überlebenschance hat.«
Diese Ideen wurde auch von dem US-amerikanischen Soziologen und Systemtheoretiker Dennis Meadows (* 1942) aufgenommen und in dem 1972 erschienenen Buch The Limits to Growth (Die Grenzen des Wachstums) des Club of Rome folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: »Schon sieben Milliarden Menschen sind für diesen Planeten zuviel […]. Wenn wir allen das volle Potential an Transport, Nahrung und Selbstentwicklung zugestehen, dann liegt die Grenze bei ein oder zwei Milliarden.« Inzwischen sind solche Gedanken nicht nur hoffähig, sondern hofpflichtig geworden. So beantwortete der im April 2021 verstorbene Prinz Philip von Edinburgh 1980 in einem Interview mit der Zeitschrift People die Frage nach der größten Bedrohung für die Menschheit so: »Das Wachstum der menschlichen Bevölkerung ist wahrscheinlich die größte Bedrohung für das Überleben auf lange Sicht. […] Je mehr Menschen es gibt, desto mehr Ressourcen werden sie verbrauchen, desto mehr werden sie die Umwelt verschmutzen und desto mehr werden sie Krieg führen. Wenn wir [die Bevölkerung] nicht freiwillig begrenzen, wird sie unfreiwillig durch Krankheit, Hunger und Krieg begrenzt. Sollte ich je wiedergeboren werden, dann am liebsten als tödliches Virus, um einen Beitrag zum Ende der Überbevölkerung zu leisten.«
Die Verbindung zum Klima- und Umweltaktivismus der Gegenwart ist unübersehbar. In seinem Buch Stakeholder-Kapitalismus (Weinheim [Wiley-VCH] 2021) beschreibt der Ingenieur, Wirtschaftswissenschaftler und Gründer des World Economic Forums in Davos, Klaus Schwab (* 1938), die positiven Entwicklungen, die Äthiopien in den letzten Jahren gemacht hat, mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, den Fortschritten in der Landwirtschaft und dem Projekt Grand Ethiopian Renaissance Dam, das 6,45 Gigawatt Strom liefern wird – nur um solchen Entwicklungen dann mit den folgenden Worten ihre Berechtigung abzusprechen: »Dieselbe Kraft, die Menschen hilft, der Armut zu entkommen und ein menschenwürdiges Dasein zu führen, ist diejenige, die die Lebensfähigkeit unseres Planeten für zukünftige Generationen zerstört. Die Emissionen, die zum Klimawandel führen, sind nicht nur das Ergebnis einer egoistischen Generation von Industriellen oder westlichen Babyboomern. Sie sind die Folge des menschlichen Wunsches, eine bessere Zukunft für sich selbst zu schaffen.«
Daß solche menschenfeindlichen Gedanken von der Umweltbewegung als Ganzes, am sichtbarsten in Organisationen wie BirthStrikers oder Extinction Rebellion, getragen werden, läßt sich nicht mehr ernsthaft bestreiten.
Wahr ist an solchen Untergangsszenarien wenig bis nichts. Die Weltbevölkerung beträgt heute etwa 7,9 Milliarden. Selbst die Vereinten Nationen, die seit Jahren hartnäckig das Ziel einer Bevölkerungsreduktion verfolgen, geben eine Bevölkerungszahl von maximal 11,2 Milliarden im Jahr 2100 als Medianprognose an. Die meisten Projektionen dieser Organisation ergeben jedoch eine geringere Zahl. Zum Beispiel rechnen die Vereinten Nationen vor, daß mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent die Weltbevölkerung ein Maximum von etwa zehn Milliarden Menschen bereits im Jahr 2080 erreichen und die Zahl danach wieder abfallen wird. Andere Experten, etwa der österreichische Bevölkerungsforscher Wolfgang Lutz (* 1956), halten dieses optimistischere Szenario für wahrscheinlicher.
Liest man den Bevölkerungsbericht der Vereinten Nationen genauer, stellt man fest, daß das mittelfristige Problem nicht die Überbevölkerung ist, sondern der Kindermangel und die Überalterung. Im Jahre 2100 wird es nämlich weltweit kaum ein Land mehr geben (die Länder des afrikanischen Kontinents eingeschlossen), in dem die Geburtenrate die Reproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau übersteigt, die zum Erhalt der Bevölkerung benötigt wird. Die falsche Angst vor einer »Bevölkerungsexplosion« ist nicht neu. Ihr liegt leider allzuoft ein unterschwelliges Unbehagen gegenüber Fremden zugrunde (wie oben an den Ausführungen von Bertrand Russell erkennbar), die der französische Demograph Hervé Le Bras (* 1943) in seinem Buch Les Limites de la planète (»Die Grenzen des Planeten«) 1994 dargelegt hat.
All die Schwarzmalereien, etwa die von Paul R. Ehrlich, haben sich bisher nicht bewahrheitet. So hat Ehrlich eine berühmte, 1980 mit dem Wirtschaftsprofessor der Universität Maryland Julian L. Simon (1932–1998) geschlossene Wette verloren. Ehrlich sagte bevölkerungsbedingte Ressourcenknappheit voraus und prophezeite starke Preissteigerungen bei Kupfer, Chrom, Nickel, Zinn und Wolfram. Simon prognostizierte dagegen fallende Preise und behielt recht, weshalb Ehrlich ihm im Oktober 1990 einen Scheck über 576,07 Dollar schicken mußte.
Die Welt ist viel größer, als die meisten glauben. Hongkong ist sicherlich dicht besiedelt und verfügt dennoch über Strände und luftige Parkanlagen. Würde die ganze Weltbevölkerung so dicht wohnen wie die Menschen in Hongkong, würden wir alle in den Bundesstaat Texas passen, während die übrige Welt vollkommen menschenleer wäre. Wie der schwedische Arzt Hans Rosling (1948–2017) in seinem posthum erschienenen Buch Factfulness (Berlin [Ullstein] 2018) eindrucksvoll zeigt, ging es der Menschheit trotz der starken Zunahme der Weltbevölkerung noch nie annährend so gut wie heute. Seit langem hat die »Grüne Revolution« in der Landwirtschaft die Thesen von Malthus widerlegt. Sicherlich ist Hunger noch ein großes Problem; 820 Millionen Menschen gelten als unterernährt. Doch diese Zahl schrumpft nicht nur relativ zur (noch) wachsenden Bevölkerung, sondern auch absolut. Sie wird zudem von der Anzahl der Menschen, die weltweit an Übergewicht leiden, deutlich übertroffen. Die Lebenserwartung liegt derzeit weltweit bei 73 Jahren, eine Zahl, die (West-)Deutschland erst 1974 erreichte. Im übrigen hatte Afrika 2018 ein Wirtschaftswachstum von fast vier Prozent, nicht so viel wie China (sieben Prozent), aber mehr als die Europäische Union (zwei Prozent) oder die Vereinigten Staaten (drei Prozent). Die »Bevölkerungsexplosion« ist ein Mythos, und ein schädlicher noch dazu. Zusammen mit der Klimabewegung bildet er die Rechtfertigung und Grundlage für eine Politik, insbesondere in Deutschland, aber letztlich weltweit, die darauf abzielt, die enormen Fortschritte, die gerade in den ärmeren und ärmsten Regionen dieser Erde gemacht wurden, abzuwürgen und sogar rückgängig zu machen. Diese Vorgehensweise zynisch zu nennen wäre eine Untertreibung. Zutreffender sind Begriffe wie menschenfeindlich und bösartig.
Die entsprechenden Ideen entstammen einer veralteten mechanistischen, stark vereinfachten Sicht auf die Geschichte. Im Kern gehen sie auf uralte Muster der Naturverehrung zurück, die stets mit einer pessimistischen statischen oder zyklischen Deutung der Geschichte ohne wahren Fortschritt verbunden waren. Die Götter von Kulturen, in denen solche Kulte herrschten – seien es die Kanaaniter (ca. 1300 v. Chr.) auf dem Gebiet des heutigen Israels mit ihrer Göttin Astarte, die Chaldäer (ca. 1000 v. Chr.) am Persischen Golf mit der Göttin Ishtar, die ägyptische Zivilisation mit Isis und ihrem Bruder und Konsorten Osiris (300–30 v. Chr.) oder der griechische Delphi-Kult (ca. 1400 bis ca. 400 v. Chr.) mit der Erdgöttin Gaia und ihrem Drachensohn Python –, zeichneten sich durch Willkür aus sowie durch das Ziel, Kontrolle über die Menschen durch Manipulation ihrer niederen hedonistischen Instinkte zu erlangen.
Die Parallele zu aktuellen Entwicklungen, da eine massive Konzentration von Geld und Macht stattfindet und Tendenzen zur Ausbildung neofeudalistischer Strukturen unübersehbar sind, ist frappierend. Für feudale Herrscher war ein statisches und damit fatalistisches Weltbild stets von Vorteil, denn jede optimistische Bewegung im Volk konnte eine Gefährdung ihrer Macht bedeuten. Die Lektion für unsere Zeit ist klar: Die Menschen täten gut daran, weniger auf die neuen Machthaber zu hören und mehr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit zu entwickeln, auch in Zukunft große Herausforderungen zu meistern. Immer wenn irrationale Ängste geschürt werden, muß die Frage gestellt werden: Cui bono? Die Beantwortung dieser Frage ist ein entscheidender Schritt zur Rückgewinnung der Kontrolle über das eigene Leben und zur Wiedererrichtung einer humaneren Welt. ◆
PAUL CULLEN
Paul Cullen, geb. 1960 in Dublin; Internist, Labormediziner, Molekularbiologe und Leiter eines medizinischen Labors in Münster. Vorsitzender des Vereins »Ärzte für das Leben«. Cullen publiziert regelmäßig Bücher und Aufsätze zu Fragen der biomedizinischen Ethik.