Als einen »orthodoxen Künstler und unorthodoxen Historiker« bezeichnet ihn Martin Mosebach. Haralampi G. Oroschakoff, geboren 1955 in Sofia, entstammt der emigrierten russischen Adelsfamilie Haralamow-Oreschak und hat das Doppelkreuz in die westliche Malerei eingeführt. Auf seine orthodoxe Herkunft besinnt er sich in den achtziger Jahren. Und er stellt die Frage nach der Identität. Lange Zeit wird er ausgelacht, denn das Thema gilt als veraltet. 1989 kommt die Wende. Die Geschichte gibt Oroschakoff recht, aber sie belohnt ihn nicht.
Haralampi Oroschakoff 2016 auf einem Portraitfoto von Rudi Molacek
Irgendwann im Laufe des Jahres 1983 taucht er in München auf. Eine Coburger Prinzessin, ein Wesen aus Lachen und Licht, führt ihn im Schlepptau. Ein Künstler. Keine dreißig, großgewachsen, streng gescheitelt das rabenschwarze Haar, fremdblütig mit blauen Schlitzaugen, Brusttaschentuch und Budapester Schuhwerk. Mit Michael-Heltau-Bariton und immer mit der Aristokratie. Haralampi Oroschakoff, Gentleman, Dandy, das Gesamtkunstwerk in the making. Die grotesken, infantilen Siebziger machen gerade Platz für Ballermann, Friedensbewegte und Punk. Gottschalks Klospülung auf Bayern 3, der Deutsche Herbst, alles ist schon Vergangenheit. Die Zeit ist grausam. Aus Kunst wird Design; die Leute lernen Austern schlürfen und wie man Wein dekantiert. Wir ahnen, daß die Skala nach unten immer noch offen ist. Wer über Identität nachdenkt, ist hoffnungslos veraltet oder seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Oroschakoff denkt an nichts anderes.
Ich wollte die Stadt München in den Würgegriff nehmen. Dieselbe Stadt, in ihrer selbstgefälligen Schönheit verharrt und durch Nabelschau dumpf geworden (…), am Ende eines Jahrhunderts, in dem wir alle zu Emigranten gemacht worden waren und wie Möbelstücke in aufgelassenen Räumen hin und her geschoben wurden.
Er ist an seine Vergangenheit gekettet wie an eine Wand aus gefrorener Zeit. Aber es ist nicht seine eigene, seine persönliche. Sie gehört seiner Familie, und sie reicht für zwei oder für zwanzig. 1982 hatte er in der Lenbachhaus-Galerie mit seiner Performance-Installation »Der Heilige Berg« seinen ersten Münchner Auftritt. Die »Erschaffung einer Selbsttaufe in der Form einer griechisch-tragödischen Aufführung«, nackt und bandagiert und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Oroschakoff provoziert, und, das war nun wirklich infam, die Provozierten verstehen nicht gleich, warum und wieso. Im Schumann’s sitzt er nach der Aufführung …
… und da kommen sozusagen diese Münchener Künstler und gehen mich an. Beuys hätte doch die Frage längst geklärt, mit der Identität und was das soll und so weiter und so fort. Und jedes Argument von mir wird genommen als ein aggressiver Angriff auf ihr Selbstverständnis. Sie reflektieren nicht, sondern verteidigen bewußtlos ihr Modernsein.
Im Dunst dieser eigenartigen Deutschen sucht er den Weg zu sich selbst. Der ist verbaut. Durch einen Vater, der immer »zu mir gesprochen hat, nie mit mir«. Der, wenn er Haralampi sagte, »seinen eigenen Vater meinte, nicht mich«. Durch Vorfahren, die Minister waren und Generäle und Königsberater und Industrielle in ganz Süd- und Ostslawien. Durch eine Familie, die im Dunkel der Jahrhunderte immer wildere Blüten treibt. Stand an ihrem Ursprung der Knappe des Dschutschi, eines Sohns des Dschingis Khan, dessen Nachkommen mit der Goldenen Horde auf die Krim ziehen? Der Byzantiner Gavras, der vor den Türken flieht und im Süden eben jener Krim, in Haros Ljambos, zu deutsch Hammelstirn, ein Fürstentum errichtet? Oder der Diplomat Iwan Haralamov Oreschak, den Zar Peter I. auf eine Mission zum Brandenburger Kurfürsten schickt?
Urgroßvater Oroschakoff mischt als Minister bei der bulgarischen Staatsgründung nach 1878 mit. Der Großvater, gleichfalls Haralampi genannt, wird nach dem Militärputsch 1934 als Bürgermeister von Sofia abgesetzt; sein Leben endet später im kommunistischen Gulag. Dem Vater, einem begnadeten Ingenieur, gelingt 1959 mit der Familie die Flucht aus Sofia über Belgrad nach Wien, wo er als Fabrikant reich und erfolgreich wird. Haralampi, bei der Ankunft vier Jahre alt, durchlebt eine Jugend der Extreme. Slawisch-orientalischer Herkunft zu sein im Wien der Sechziger ist kein Zuckerschlecken. Als »Tschusch« verachtet, gerade noch als Mensch anerkannt, geschlagen mit einem Namen, der zu häßlichen Verballhornungen einlädt – dann wieder die Sommer in der eigenen Villa bei Cannes, Jeunesse dorée, der Park Club im Prater, Dritter bei den Wiener Tennismeisterschaften und immer spürbarer die elterliche Mißachtung des sich anbahnenden Künstlerschicksals.
Gleichzeitig habe ich gesucht die dunklen Ecken. Das Hawelka, wo sie [Josefine Hawelka] mich fast bemuttert hat. Und die Szene nimmt mich auf, obwohl ich so fremd aussehe für sie im Schulblazer. Diese harten, brutalen, aggressiven Typen spüren aber da irgendwas und sagen »komm eini«. Walter Pichler, Oswald Wiener, die ganze Wiener Gruppe. Deswegen gehörte ich als Jüngster, meiner eigenen Generation entfremdet, zu den alten Dandys und subversiven Elementen.
Jahre später, in München, bricht dann das Zeichen hervor, welches sein Künstler-Ich abgrenzt und definiert: das Doppelkreuz. Ein dreiachsiges, sechsschenkliges Balkenkreuz, mit dem er in die Fußstapfen der russischen Suprematisten tritt. Doch anders als Kasimir Malewitsch, der das moderne Denken mit seinem monochromen Quadrat frontal angeht, es vollendet und überwindet, läßt Oroschakoff es im Doppelkreuz, dem Heilssymbol der Orthodoxie, hinter sich wie einen Hund, der bellt, während die Karawane ins Jenseits zieht.
Foto: Gerhard Heller
»Alle Herrlichkeiten dieser Erde«, Performance in Wien (1984) mit
Kim, Haralampi und Robert Hunger-Bühler (v. l. n. r.)
Ihre Schlüsselwerke malen beide Künstler zweidimensional. Zweidimensional ist die asketische Ästhetik der Byzantiner; zweidimensional werden Ikonen gemalt, denn sie bedürfen der Vollkommenheit. Perspektive und Fokus unterwerfen das Abgebildete einem Betrachter, entwerten es zum Ingredienz eines Narrativs. Mit der dritten Dimension aber kommen auch die Fake News. Wo Oroschakoff eben noch ausweglos suchte, beschreitet sein Fuß schon den Weg nach Byzanz, zu den Stätten der verlorenen Zeit.
Die wollten die Marke. Ich war auf dem Weg zur Weltkarriere, auf allen internationalen Ausstellungen, Venedig, New York. In jeder Kunstzeitschrift. Die waren glücklich, daß es das Doppelkreuz gab und daß ich so war, wie ich war und wie ich aussah. Dagegen habe ich mich gewehrt und mir selbst die Karriere kaputtgemacht. Ich Trottel.
Sechs Oroschakoffs hängt Kurator Veit Loers im Herbst 1989 in die Rotunde des Kasseler Museums Fridericianum: die Installation »Dandolo«. Enrico Dandolo ist der venezianische Doge, der 1204 die dreitägige Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzritter aus dem Westen sanktioniert. Der Kunstbetrieb reagiert verwirrt. Wie kann von Plündern und Zerstören die Rede sein, wo am Horizont der ewige Friede lockt und das Ende der Geschichte?
»Dandolo« markiert Oroschakoffs Abschied vom Aufstieg. Dabei kommt ihm die Zeitenwende 1990 eigentlich entgegen – und bewirkt doch zugleich jenen entscheidenden Bruch, der Jahre in Anspruch nimmt und endgültig ist. Auslöser ist die aufkeimende Gier der Sieger. Der häßliche, westliche Hunger nach Weltordnung und Weltherrschaft, das Grinsen der Kreuzritter, ihr anschwellendes Triumphgeheul.
Es ist ein langer Tisch, und da sitzen sie alle, die Münchener Crème, und der L. schwadroniert von der neuen Zeit und vom tollpatschigen russischen Bären, und in die Pause hinein sage ich: »Diese geradezu lächerliche Eurozentrierung wird vom slawischen Wall ebenso aufgehalten wie Dschingis Khan und Napoleon und Hitler.« Ich sage auch noch »Unterschätze nicht den Bären, wecke ihn nicht«. – Und das Gespräch erstirbt.
Er spürt, daß er der Parteinahme nicht entkommt und schlägt sich auf die Seite der Verlierer. In der Folge regnet es rufschädigende Komplimente: weißrussischer Revanchist, orthodoxer Fanatiker. Ruhelos reist er jenseits von Bug und Karpaten, diskutiert nächtelang in wodkaschwangeren Küchen und begeistert sich für den spätsowjetischen Moskauer Konzeptualismus.
Einerseits mit den hooliganischen Künstlern die wunderbarsten Alkoholexzesse meines Lebens, andererseits eine Welt, in der es kein Licht gibt, kein Wasser, keine Cafés, keine Restaurants. Da erinnere ich mich, daß mein Vater gesagt hat: »Du wirst ein Fremder unter Fremden bleiben.« All das macht, daß ich zum slawischen Rächer werde – und ich stoße hier im Westen alle vor den Kopf. Auch die, die für mich sind. Als ich 1994/95 in München das große Festival mache, »Kräftemessen« mit vier Generationen russischer Kunst und alle internationalen Zeitungen kommen, die Documenta-Macher – da bin ich schon isoliert.
»Kräftemessen« ist eine der großen Werkschauen zeitgenössischen russischen Schaffens. Über fünfzig Künstler, darunter alle bekannten Namen, in drei großen und zahllosen kleineren Ausstellungen, außerdem Symposien, Performances, Vorlesungen. Doch Oroschakoffs byzantinisch-slawischer Mystizismus, die Dimension jenseits des Zeichens, kommt nicht an in einem Betrieb, in dem alle nur postmodern spielen wollen. Er stört, so wie Jahre später das ganze Rußland stört, als klar wird, daß man es dort ernst meint mit dem Anderssein, dem Postulat der eigenen Identität. Doch Ernsthaftigkeit geht gar nicht, schließlich beginnt das 21. Jahrhundert. Und überhaupt Identität – wie anachronistisch, abgeschmackt, peinlich geradezu.
Seither trennt er die Schrift vom Zeichen, gräbt schreibend in der Vergangenheit und malt nur mehr sechs bis acht Bilder im Jahr, weil man von Büchern nicht leben kann. 2007 erscheint die Geschichte des Urgroßvaters: Die Battenberg-Affäre: Leben und Abenteuer des Gawriil Oroschakow. Es ist die Frucht aus zehn Jahren Arbeit. Seit 1998 lebt er in Berlin, in der Frontstadt, von der nur die Politiker glauben, daß sie im Westen liegt. Cannes und Wien, die beiden Konstanten dieses Emigrantenlebens, bleiben wichtige Fluchtpunkte. Die Rache hat er den Slawen überlassen; bei denen ist sie gut aufgehoben. Jeder dort weiß, daß der große Ausverkauf nach 1990 sich nicht wiederholen wird. In Berlin verfolgt Oroschakoff das Ende der Nachkriegs-Narrative, die neue Suche der europäischen Völker. Die Geschichte ist zurückgekehrt. Nach dem jahrzehntelangen Primat des Allgemeinen tritt erneut das Eigene, das jeweils Besondere ins Licht. Erst am Eigenen definiert sich das Andere und gründet das Recht und die Freiheit des Emigranten, Fremder unter Fremden zu sein. Vor allem: zu bleiben. ◆
Fotos: Diana Hohenthal
»Wanderer: Muzik« von 1996 (nach Nikolai Bogdanoff-Belsky, 1866–1945) | »Skeophylax«, 1988 | Doppelkreuz »Côte d’Azur«, 2016 | »Doppelkreuz/Berlin 4«, 2015
THOMAS FASBENDER,
geb. 1957, in Hamburg aufgewachsen, ist Kaufmann, Journalist und promovierter Philosoph. Von 1992 bis 2015 lebte er in Moskau als Manager, Unternehmer und Publizist. 2014 erschien von ihm das Buch Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens, Waltrop/Berlin (Manuscriptum). Thomas Fasbender berät die Berliner Denkfabrik »Dialog der Zivilisationen«