Nachdem der EuGH jahrzehntelang den Versuch der allmählichen Erstickung des nationalen Gedankens in Europa im Wege einer unauffälligen Salamitaktik verfolgt hatte, geht er jetzt im Falle Ungarns zum Generalangriff über
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Das Recht der Europäischen Union genießt insgesamt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht, nach dem Anspruch des EuGH auch unterschiedslos vor dem nationalen Verfassungsrecht. Allerdings steht das nirgendwo geschrieben. Im Gegensatz zum Jüngsten Gericht. Rogier van der Weyden hat es gemalt.
Das Recht der Europäischen Union besteht erstens aus dem sogenannten Primärrecht. Dies sind die völkerrechtlichen Verträge, durch die die EU überhaupt erst ins Leben kommt, also der EU-Vertrag (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), die man zusammenfassend als den Vertrag von Lissabon bezeichnet, ergänzt um die EU-Grundrechtecharta. Zweitens kommt das Sekundärrecht hinzu, also diejenigen Rechtsnormen, die die EU selbst erlassen hat. Die EU ist – auch wenn sie dies ungern hört, will sie doch eigentlich eine völkerrechtliche Gemeinschaft sui generis und neuer Art sein – erstens eine internationale Organisation, nicht bloß ein Staatenbund. Internationale Organisationen (die größte und übergreifende sind die Vereinten Nationen) haben im Gegensatz zu bloßen Staatenbünden nicht nur die Aufgabe, die Zusammenarbeit von Staaten irgendwie zu institutionalisieren, sondern dienen speziell der Produktion von neuen, überstaatlich geltenden Rechtsregeln. Die EU ist aber nicht nur eine internationale, sondern vor allem eine supranationale Organisation. Das heißt, ihre rechtlichen Regeln, ihre Gesetze (die »Verordnungen« heißen), Beschlüsse und natürlich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) oder des Gerichts erster Instanz (EuG) binden die betroffenen Bürger unmittelbar, ohne daß es auf einen mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt oder Anwendungsbefehl ankommen würde. Sie durchbrechen den »Souveränitätspanzer« der Nationalstaaten.
Das Recht der Europäischen Union genießt – insgesamt – Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht, nach dem Anspruch des EuGH auch unterschiedslos vor dem nationalen Verfassungsrecht. Aber wo steht das geschrieben? Antwort: Nirgendwo. Im seinerzeitigen Vertrag über eine Verfassung für Europa (2004) wollte man diesen Grundsatz auch positivrechtlich kodifizieren (Art. I‑6), aber dieser scheiterte ja an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. An seine Stelle trat 2008 der Vertrag von Lissabon, der wesentlich ähnliche Inhalte hatte, jedoch sämtliche Verfassungssymbolik, also nicht nur Fahne und Hymne, sondern auch die positivrechtliche Anordnung des Vorgehens des Unionsrechts wegließ.
Aber warum geht das Unionsrecht dennoch vor? Es handelt sich dabei um eine Erfindung des EuGH, zudem eine Erfindung in eigener Sache. Der Vorrang geht auf zwei spektakuläre Rechtsentscheidungen zurück, nämlich van Gend & Loos (Rs. 26/62) aus dem Jahr 1963 und Costa/ENEL (Rs. 6/64) aus dem Jahr 1964. Vor der Entscheidung van Gend & Loos glaubte man, der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag), einer der drei Römischen Verträge von 1957, der etwa den Abbau von Zollschranken und die schrittweise Errichtung des gemeinsamen Marktes zum Gegenstand hatte, sei ein zwischenstaatlicher völkerrechtlicher Vertrag, auf den Bürger sich ohnehin nicht berufen könnten (sondern eben nur die Vertragsstaaten). Der EuGH urteilte demgegenüber, die Rechtsordnung der Gemeinschaft sei eine neue Rechtsordnung eigener Art, die dem immer engeren Zusammenschluß der Völker Europas diene; als solche gehe sie nicht nur naturgemäß dem nationalen Recht vor, sondern es könne sich auch jeder Bürger vor jedem Gericht jedes Mitgliedstaates (und vor dem EuGH sowieso) jederzeit darauf berufen. Zur Begründung dieses Vorrangpostulats, das zunächst noch nicht näher ausbuchstabiert wurde, hätte sich der EuGH (was er aber jedenfalls explizit nicht tat) auf die sogenannte Implied-Powers-Doktrin berufen können, eine in der angelsächsischen Welt verbreitete Völkerrechtslehre, nach der eine internationale Organisation mit denjenigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet zu denken ist, die sie zur Erfüllung der in ihrem Gründungsvertrag festgeschriebenen Aufgaben eben benötigt. Allerdings steht diese Doktrin in völligem Gegensatz zu einem Kernsatz des deutschen und kontinentaleuropäischen Verfassungsrechts, nämlich dem Verbot des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis. Das unionale Primärrecht ist – anders als viele unkritische Europarechtler meinen – gerade keine Verfassung, weil eine Verfassung Machtausübung limitiert und die eigenständige und schrittweise Ergänzung, Fortentwicklung und Neuinterpretation der eigenen Befugnisse durch hoheitliche Stellen (wie sie gerade der EuGH als »Motor der Integration« immer praktiziert hat) ausschließen und nicht ermöglichen will.
Der Vorrang des Unionsrechts ist eine Erfindung des EuGH, zudem eine Erfindung in eigener Sache
Im Fall Costa/ENEL präzisierte der EuGH seine Doktrin vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts dahingehend, daß dieser auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht bestehe und daß es sich dabei um einen Anwendungsvorrang handele. Also nicht um den Geltungsvorrang, der seit der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison des U.S. Supreme Court (1803) im nationalen Verfassungsrecht begegnet und festlegt, daß ein einfaches Gesetz, das der Verfassung widerspricht, nichtig ist, wobei das Recht zu dieser Feststellung üblicherweise bei einem Höchstgericht (in Deutschland eben dem Bundesverfassungsgericht, Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz) monopolisiert wird. Anwendungsvorrang bedeutet, daß bei einem Gegensatz von nationalem und Europarecht, der im Wege der europarechtsfreundlichen Auslegung nicht zu beseitigen ist, das nationale Recht und Verfassungsrecht zwar nicht nichtig ist, aber eben einzelfallbezogen nicht angewendet werden darf. Diesen Anwendungsvorrang kann man dann aber auch, da es ja nicht um Normvernichtung geht, vor jedem Gericht jederzeit geltend machen; sogar Behörden sollen, jedenfalls in »Evidenzfällen«, von der Anwendung nationalen, immerhin demokratisch legitimierten Rechts (was beim Unionsrecht ja sehr fragwürdig ist!) Abstand nehmen dürfen.
Der durch den EuGH beanspruchte Vorrang des Unionsrechts auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht kann jedoch nicht unbeschränkt gelten. So unterscheidet das Grundgesetz zwischen den verfaßten Staatsgewalten der verfassungsgebenden Gewalt, also dem Volk; auch der verfassungsändernde Gesetzgeber darf nicht die nationale Identität als solche oder den Kernbereich der Verfassung aus Fortschritts- und Modernisierungsgründen einfach aufgeben. Aber auch für alle anderen mitgliedstaatlichen Verfassungen gilt, daß sie formeller Ausdruck des dahinterliegenden Selbstbestimmungsrechts der Völker sind, über das die Union nicht zu disponieren hat (Art. 4 Abs. 2 EUV).
Der EuGH hat Ungarn nun im Zusammenhang mit Asyl- und Zuwanderungsfragen bereits zum dritten Mal im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 ff. AEUV) verurteilt. Um des Zustroms von Asylbewerbern über die Balkanroute Herr zu werden, hatte Ungarn zunächst als extraterritorial gedachte Transitzonen bei den Grenzorten Röszke und Tompa eingerichtet, in denen Asylbewerber auf die Entscheidung in ihrem Verfahren warten sollten, wobei der Zugang zu den Transitzonen bei Überfüllung auch beschränkt werden konnte. Der EuGH urteilte demgegenüber bereits 2020 (C‑808/18), das Ersteinreiseland-Prinzip der Dublin‑III-Verordnung berechtige Asylbewerber unbeschränkt zu Einreise und Aufenthalt jedenfalls im Ersteinreiseland. Ungarn schloß unverzüglich die Transitzonen, wollte nun allerdings das nationale Asylrecht auf Botschaftsasyl umstellen: Die Einreise eines Asylbewerbers nach Ungarn sollte nur noch aufgrund einer erfolgreichen Vorprüfung in einer ungarischen Auslandsbotschaft zulässig sein. Der EuGH erklärte auch dies für unionsrechtswidrig (C‑823/21), was zweifelhaft ist – denn ein gemeineuropäisches materielles Asylrecht gibt es eigentlich nicht, das unionale Asylrecht hat hauptsächlich Zuständigkeiten und Fristen zum Gegenstand, in materieller Hinsicht gilt weithin das nationale Asylrecht des Ersteinreisestaates. Aber müßte der nationale Gesetzgeber es dann nicht auch ändern können?
Dem zweiten Urteil folgte die ungarische Regierung nicht mehr so prompt wie dem ersten. Grund: Sie selbst hatte dem nationalen Verfassungsgericht eine wichtige Frage vorgelegt. Die ungarische Regierung weist darauf hin, daß die konsequente Anwendung der seitens des EuGH hochgehaltenen Asylverfahrensgrundsätze zu einem durch Regierung und Gesetzgeber nicht mehr kontrollierbaren Massenzustrom führt – was stimmt und was man insbesondere in Deutschland gut beobachten kann –, wobei zugleich die endgültige Abschiebung rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber vielfach unmöglich wird. Nach ungarischer Auffassung läuft die unbedingte Gefolgschaft gegenüber dem EU-Asylrecht daher auf eine Erosion der nationalen Identität Ungarns hinaus, wodurch eine verfassungsrechtliche Integrationsgrenze berührt wäre.
Daraufhin folgte die neue Verurteilung Ungarns durch den EuGH vom 13. Juni 2024 (C‑123/22). Das drakonische Zwangsgeld in Höhe von 200 Millionen Euro (das 200fache des ursprünglich von der Kommission beantragten Betrages) ist dabei eine Reaktion auf den Umstand, daß die ungarische Regierung überhaupt das nationale Verfassungsgericht mit der Frage befaßt hat, ob der Schutz der nationalen Identität dem Gehorsam gegenüber dem EU-Rechts hier im Wege steht. Nachdem der EuGH jahrzehntelang die Ausweitung der EU-Kompetenzen und den Versuch der allmählichen Erstickung des nationalen Gedankens in Europa im Wege einer unauffälligen Salamitaktik verfolgt hatte, geht er jetzt im Falle Ungarns zum Generalangriff über. ◆
ULRICH VOSGERAU,
promovierter und habilitierter Rechtswissenschaftler, lehrte als Hochschullehrer an mehreren Universitäten Staats- und Verwaltungsrecht. Heute Rechtsanwalt und Autor in Berlin. 2018 erschien sein Buch Die Herrschaft des Unrechts über die Rolle von Staat und Medien in der Asylkrise.