E. T. A. Hoffmann war kein geistesgestörter Psychopath und überreizter Erzähler unsinniger Märchen. Alle, die ihn so diskreditierten, wollten die realen Probleme ihrer Zeit verdrängen
Im Karolinger Verlag ist unlängst das Buch E. T. A. Hoffmann und das Übernatürliche erschienen, erstmals vollständig aus dem Englischen übersetzt sowie mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Till Kinzel. Dies vorweg: Den Übersetzer und Herausgeber Kinzel kann man gar nicht genug dafür rühmen, daß er uns diesen Aufsatz in einer vorbildlichen Edition zugänglich gemacht und ein sehr lesenswertes Nachwort geschrieben hat. Und da fragt sich natürlich sogleich so mancher, warum uns dieser alte Text denn heute überhaupt noch interessieren und warum man ihn, wenn man kein Literaturwissenschaftler mit historischem Interesse ist, lesen soll.
So viel sei hier zu Beginn verraten: Alle, die sich heute schnell und gern empören und canceln, die also auslöschen und vernichten wollen, die schnell beleidigt sind und Hetzjagden veranstalten, haben hier ein wunderbares frühes Beispiel für eine solche Ungeheuerlichkeit der Hinrichtung eines Autors, und sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß ihre Cancelei nun keineswegs eine Erfindung unserer Zeit ist, sondern schon hier beispielhaft exekutiert wurde. Der schottische Schriftsteller Walter Scott, zu seiner Zeit mit seinen historischen Romanen und Schauergeschichten einer der meistgelesenen Autoren in Europa, knöpft sich E. T. A. Hoffmann vor, und zwar fünf Jahre nach dessen Tod, und macht ihn fertig. Er tut, als würde er einen literaturkritischen Aufsatz schreiben; was er aber liefert, ist in seinem Furor und seiner Gemeinheit eine Vernichtung. Er benutzt dafür eine alte rhetorische Formel: das Argumentum ad hominem. Und das heißt, er tut nur so, als würde er ästhetisch argumentieren und begründen. In Wirklichkeit verurteilt er rigoros und metzelt den Verstorbenen in einem bemerkenswerten Blutrausch. Er konstatiert, daß sich »eine gewisse geistige Störung« andeute. Er erklärt Hoffmann kurzerhand für verrückt.
Und ein Verrückter kann natürlich nur so einen Unsinn zusammenschreiben, wie Hoffmann das gemacht hat, den immer dann seine Muse verließ, wenn er vielleicht am meisten ihren Beistand ersehnte. Das könne zwar einem jeden passieren: daß er in Situationen kommt, daß er seine »üblichen Tätigkeiten nicht mehr mit der üblichen Zügigkeit ausüben kann«, aber in »solchen Fällen greifen weise Männer auf Sport oder einen Wechsel ihrer Studien zurück«, schreibt Scott, »um den Krampf abzuwenden«. »Aber das, was für die Person mit einem gesunden Geist nur ein vorübergehendes, wenn auch unangenehmes Gefühl ist, wird tatsächlich zu einer Krankheit im Geist von Leuten wie Hoffmann, die dazu verdammt sind, in zu lebendigen Sinneswahrnehmungen den Einfluß einer übererregten Phantasie zu erleben.«
Lediglich Fieberträume eines Wahnsinnigen?
Der Bestsellerautor Walter Scott bricht
über E. T. A. Hoffmann den Stab
Scott legt als Beispiel seine Interpretation der Erzählung »Der Sandmann« vor und kommt zu dem Schluß: »Es ist unmöglich, Erzählungen dieser Art der Kritik zu unterziehen. Sie sind keine Visionen eines poetischen Geistes, sie haben kaum den poetischen Anschein der Authentizität, den die Halluzinationen des Wahnsinns dem Patienten vorspiegeln; sie sind die Fieberträume eines benebelten Patienten, denen wir, obwohl sie manchmal wegen ihrer Eigenartigkeit aufregend sein oder durch ihre Seltsamkeit überraschen mögen, niemals eine mehr als vorübergehende Aufmerksamkeit zu widmen geneigt sind. In Wirklichkeit ähneln die Eingebungen Hoffmanns so oft den Vorstellungen, die durch den übermäßigen Konsum von Opium erzeugt werden, daß wir gezwungen sind, seinen Fall als einen zu betrachten, der mehr die Hilfe eines Arztes als der Literaturkritik nötig macht.«
Diese Zitate mögen zeigen, wie die Hinrichtung funktioniert. Man könnte einwenden, es sei völlig belanglos, was ein schottischer Autor, so erfolgreich er auch war, über den Schriftsteller, Komponisten, Zeichner und Juristen Hoffmann geschrieben hat, wenn nicht gleich im Anhang dieses Buches Goethes Bericht über Scotts Hoffmann-Essay abgedruckt wäre, der die Angelegenheit erst für uns brisant macht. Goethe zitiert nämlich Scott ausführlich und zustimmend und kommt zu identischen Schlüssen: »Wir können den reichen Inhalt dieses Artikels unseren Lesern nicht genugsam empfehlen […].« Er schreibt dann zwar: »Wenn man auch keine Art der Produktion aus dem Reiche der Literatur ausschließen kann und soll, so besteht denn doch das immerfort sich wiederholende Unheil darin, daß, wenn irgendeine Art von wunderlicher Komposition sich hervortut, der Verfasser von dem einmal betretenen Pfade nicht weichen kann und mag. Was aber hiebei das Schlimmste, ist, daß er gar viele […] Zeitgenossen nach sich reißt.« Also die Warnung ist eindeutig: Lest den wirren Hoffmann nur nicht, sonst werdet ihr noch so verrückt wie der! Und der ist an seiner Verrücktheit noch selber schuld, weil er davon durchaus nicht lassen will. Außerdem ist er Alkoholiker, also sowieso nicht zurechnungsfähig. Einfach nur krank. Wie ein verrückter Alkoholiker aber so ein umfangreiches literarisches Werk hat schaffen können, darüber hinaus sich als Komponist und Musiker und begabter Zeichner hervorgetan hat und als Kammergerichtsrat noch täglich ins Amt gegangen ist, hat sich natürlich keiner der Herren gefragt. Warum auch. Es ging um Vernichtung und Auslöschung. Näher hinschauen und verstehen war nicht nötig. Es ging nur um Liquidierung.
Auch Goethe beteiligt
sich an der Schriftstellervernichtung
Davon haben sich zwar viele beeindrucken lassen, aber nicht alle haben da mitgemacht. Heinrich Heine empfahl den Franzosen die Lektüre dreier deutscher Schriftsteller: Goethe, Schiller und E. T. A. Hoffmann. Daß Heine neben Goethe und Schiller auch Hoffmann nannte, muß damals viele erstaunt haben. Hoffmann galt in Deutschland nicht viel. Ganz anders dagegen im Ausland: Balzac und Baudelaire, Edgar Allan Poe, Gogol und Dostojewski lasen ihn – und so unterschiedlich deren politische und ästhetische Positionen auch waren, schrieben sie doch alle in seiner Nachfolge. Kein anderer deutscher Schriftsteller hat die ausländische Literatur so angeregt und aufgeregt und beeinflußt wie Hoffmann. In Deutschland allerdings wurde er als Gespenstergeschichten-Hoffmann verharmlost und denunziert, er galt als unseriös, minderbegabt und typisch romantisch, was, einem Urteil Goethes folgend, krank heißen sollte. Goethe äußerte sich nur selten über Hoffmann, und wenn, dann nur abfällig, mitunter auch unangenehm gereizt, angeekelt sogar – also doch, ohne daß er sich das eingestehen wollte: betroffen. Jean Paul, von dem man hätte erwarten können, daß er sich mit Hoffmann solidarisieren würde, nannte ihn abfällig wie Scott und Goethe: wahnsinnig. Heine erkannte zwar auch in Hoffmanns Fantasiestücken die Flamme des Fiebers, doch anders als Scott und Goethe weigerte Heine sich, Hoffmanns Geschichten als die eines Psychopathen zu lesen. Er sprach jedem das Recht ab, für Hoffmann den Arzt als Kunstrichter zu bestellen. Hoffmanns Wahnsinn war für Heine nicht privat, nicht subjektiv und besonders, sondern objektiv der Wahnsinn der neuen anbrechenden Zeit, deren getreuer Chronist Hoffmann war. Heine schrieb, als er den damals in Deutschland hochangesehenen Novalis in seiner Romantischen Schule mit Hoffmann verglich: »Hoffmann war als Dichter viel bedeutender als Novalis. Denn letzterer, mit seinen idealischen Gebilden, schwebt immer in der blauen Luft, während Hoffmann, mit all seinen bizarren Fratzen, sich doch immer an der irdischen Realität festklammert. […] seine Werke sind nichts anders als ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden.«
Schon Heine sah, daß Hoffmann nicht, wie irrtümlich immer wieder behauptet wurde, zu den Romantikern zu zählen sei. Er stand in keiner Verbindung zu den Schlegels und noch viel weniger zu ihren Tendenzen. Ästhetisch, poetisch und politisch wollte er genau das Gegenteil von Novalis. Er romantisierte nichts. Nirgendwo – so absonderlich und märchenhaft seine Figuren auch sein mögen – hat er die deutsche Wirklichkeit aus den Augen verloren. Anders als Novalis, der eine idealische Konstruktion deutscher Zukunft entwirft, die rückwärts am Heiligen Römischen Reich deutscher Nation orientiert ist, weigerte sich Hoffmann, eine Vision deutscher Zukunft zu entwerfen – einfach weil er nicht von der politischen und sozialen Wirklichkeit abstrahieren wollte; was ja nötig wäre, wollte man die reine, bessere zukünftige Welt beschreiben.
Hoffmann beschreibt den
Auflösungsprozeß des Individuums
Er stellte die Widersprüche der Epoche dar, und zwar als Probleme vieler einzelner, denen mit zukunftsfrohen Parolen nicht geholfen war, weil sie selbst die Spesen des Fortschritts waren. Hoffmann weigerte sich, die Widersprüche als Folge subjektiver Mängel, als individuelles Versagen einzelner zu verstehen, die noch nicht begriffen hatten, daß all ihre Probleme in der Bewegung der sich entfaltenden Vernunft der kapitalistischen Rationalität getilgt werden, wenn sie sich nur gehorsam den Anweisungen der vernünftigen staatlichen und wirtschaftlichen Autoritäten fügen würden. Was Hoffmann sah, war: Mit der Entwicklung der Vernunft würden nicht nur die Probleme, sondern zugleich die Individualität der vielen getilgt werden. Hoffmann beschrieb mit den psychischen Krisen den Auflösungsprozeß des Individuums. Er registrierte den Widerspruch zwischen ideologischem Anspruch, politischer Realität und tagtäglicher Praxis am Arbeitsplatz – einen Widerspruch, der sich eben nicht in der Harmonie der zunehmenden Vernunft auflöste, sondern sich in Symptomen des Wahnsinns einnistete. Hoffmann beschrieb die Spesen der neuen Zeit. Er beschrieb psychischen Verfall, wo andere das Zeitalter der Vernunft und damit den Anfang der menschlichen Freiheit proklamierten. Hoffmann hatte am Anfang der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft keine politischen Hoffnungen. Er mißtraute den naiven Versprechungen der Klassiker, er bezweifelte die Frohgemutheit der idealistischen Philosophie. Er wollte sich nicht täuschen. Er wollte wahrhaftig bleiben. Er schrieb die Krankengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft.
Sir Walter Scott:
E. T. A. Hoffmann und das Übernatürliche. Herausgegeben, übersetzt und
kommentiert von Till Kinzel,
Wien (Karolinger ) 2022,
geb., illustriert, 136 Seiten, 22 Euro
Wenn man in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik nachliest, bemerkt man die Enttäuschung über diese »kraftlose Literatur«. Für Hegel äußert sich da ebenfalls ein kranker Charakter, ein haltloser und feiger dazu, weil er politisch nichts wagt – und so auch politisch nichts befürchten muß, weil für ihn ohnehin von vornherein alles verloren ist. Hegel schrieb: »Denn zu einem echten Charakter gehört, daß er etwas Wirkliches zu wollen und anzufassen Mut und Kraft in sich trage. Das Interesse für dergleichen Subjektivitäten, die immer nur in sich selber bleiben, ist ein leeres Interesse, wie sehr jene auch die Meinung hegen, die höheren, reineren Naturen zu sein […].« Und weiter: »Aus dem Bereiche der Kunst aber sind die dunklen Mächte gerade zu verbannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig, und mit jenen Übersichtigkeiten ist nichts als der Krankheit des Geistes das Wort geredet und die Poesie in das Nebulose, Eitle und Leere hinübergespielt, wovon Hoffmann und Heinrich von Kleist in seinem Prinzen von Homburg Beispiele liefern. Der wahrhaft ideale Charakter hat nichts Jenseitiges und Gespensterhaftes, sondern wirkliche Interessen […].«
Da wird – doch eigentlich überraschend für Hegel – Positivität gefordert. Wirkliche Charaktere, wie Hegel sie verlangte, die phantasievoll und mutig die Zukunft planen, die auch nach der Niederlage gegen Napoleon nicht resignierten, sondern die Chance der Reform sahen und mit der Durchführung der Reformen auch zügig begannen, für die die Vernunft Maßstab jeder politischen Entscheidung war, das waren zum Beispiel die Reformer Stein und Hardenberg, Schön und Altenstein. Diese Reformer, geschult an Adam Smith und Kants praktischer Vernunft, bewirkten die Zerstörung der ständischen Institutionen und die Neuordnung der Gesellschaft nach dem Prinzip des freien Erwerbs von Eigentum und Bildung. Die Arbeitsvertragspartner wurden rechtlich gleichgestellt, die Zünfte wurden aufgelöst, freie Konkurrenz wurde das Gesetz des Wirtschaftslebens. Kurz gesagt, unter dem Druck Napoleons, der 1807 nach seinem Sieg von Preußen 120 Millionen Francs Kontribution verlangte, wurden all die längst schon notwendigen staatlichen Maßnahmen zur Entwicklung des modernen Kapitalismus erlassen.
Dabei glaubten die Reformer noch, sie könnten die gesellschaftliche Entwicklung nach ihrem Entwurf planen. Sie folgten darin Kant, der 1797 in seiner Metaphysik der Sitten von der »Machbarkeit« der Gesellschaft gesprochen hatte. Die preußischen Reformer wollten nach den Erfahrungen mit der Französischen Revolution eine Revolution in Preußen unter allen Umständen verhindern. Sie wollten soziale und politische Reformen von oben. Das Ziel der Reformen war im Sinne der idealistischen Geschichtsphilosophen gedacht, denen zufolge die Erfüllung des Weltplans sich in allgemeiner menschlicher Freiheit und Sittlichkeit vollziehen würde. Die Revolution mußte verhindert werden, weil sie den vernünftigen Plan unbedacht durcheinanderbringen würde, ohne daß etwas Besseres hätte durchgesetzt werden können.
Die Intention der Reformer war, wie Reinhart Koselleck in Preußen zwischen Reform und Revolution schrieb, »eine wirtschaftlich freie, aber politisch in den Staat eingebundene Gesellschaft«. Ihr Ziel war es, die alte Verfassung zu beseitigen, in der, so Karl vom Stein zum Altenstein, »der Mensch nicht als solcher geachtet, sondern als Sache anderer Menschen im Staate betrachtet« wurde. Das sollte nun anders werden, denn die Reformer fühlten sich sozial verantwortlich. Hardenberg sandte 1817 an alle Oberpräsidenten fabrikreicher Provinzen ein Rundschreiben, in dem er vor der drohenden Proletarisierung warnte. Dessen Verfasser, Johann Gottfried Hoffmann, betonte, der Staat habe all die Gebiete zu betreuen, für die die Wirtschaftsgesellschaft nicht aufkomme. Er fragte deshalb nach den Mitteln, »wodurch es überhaupt zu verhindern ist, daß die Fabrikation, von welcher die Kultur und der Wohlstand der blühendsten Länder ausgeht, nicht eine zahlreiche Menschenklasse erzeuge, die in den besten Jahren dürftig und bei jeder Mißernte und bei jeder Stockung des Absatzes dem tiefsten Elende preisgegeben ist«.
Die Reformer sahen die drohende Katastrophe: Die Wirtschaft produziert frei, kassiert die Profite, die Opfer des sich schnell entwickelnden Kapitalismus aber waren Probleme der staatlichen Sozialfürsorge. In dem Rundschreiben heißt es weiter, »daß die Erziehung zum Fabrikarbeiter auf Kosten der Erziehung zum Menschen und Staatsbürger betrieben« werde. Hardenberg glaubte noch, der drohenden Gefahr einer allgemeinen psychischen Verelendung begegnen zu können. »Der Staat sollte gleichsam als Institution zur Verhinderung der Entfremdung dienen, die Hardenberg mit der Entfaltung der technischen Arbeitswelt unentrinnbar heraufziehen sah.« So beschreibt das Koselleck. Steins und Hardenbergs Vorstellung von der geistigen und politischen Erneuerung Preußens waren geprägt von dem Beispiel des österreichischen Josephinismus: als aufgeklärter Absolutismus mit vernünftigen Reformen von oben. Das war weit entfernt von den durchaus verschiedenen politischen Ideen im Bürgertum, bei den Intellektuellen und bei den Beamten. Liberale, egalitäre und nationale Ideen widersprachen sich so lange nicht, wie die Freiheitskriege dauerten. Nach dem Sieg über Napoleon aber wurde deutlich, daß die im Staat sich durchsetzende Vernunft nicht etwa die sittliche Vernunft der idealistischen Geschichtsphilosophen war, sondern die barbarische Vernunft des sich entwickelnden Kapitalismus, der jedes Verlangen nach sittlichem Handeln unterdrückte.
Der von den Reformern besonders auf dem Gebiet der Verwaltung modernisierte Feudalstaat setzte all seine Mittel gegen die freiheitlich-bürgerlichen Forderungen ein. Zensur, Demagogenverfolgung und biedermeierlicher Ordnungssinn bestimmten fortan das politische Klima in Preußen. Nach 1815 war allen klar, daß die Reformen vor allem den Interessen des Adels dienten. Das Kapital versammelte sich in den Händen der Großgrundbesitzer und Fabrikanten. Arbeiter und Kleinbauern verelendeten physisch und psychisch.
Eine Krankengeschichte der
bürgerlichen Gesellschaft
E. T. A. Hoffmann schrieb inmitten dieses gärenden gesellschaftlichen Umfelds die Krankengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Er kannte die politischen Verhältnisse aus eigener Anschauung. Er war Kammergerichtsrat in Berlin, später sogar Mitglied der vom König eingesetzten Immediat-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe. Nach dem Wartburgfest der deutschen Studenten, nach der Ermordung des Dramatikers Kotzebue durch den Studenten Sand, nach den Karlsbader Beschlüssen setzte die Demagogenverfolgung ein. Als einer der ersten wurde der Turnvater Jahn verhaftet. Einen Tag später schon konnte man in den Berliner Zeitungen lesen, daß Jahns Schuld erwiesen sei. Diese Nachricht hatte der Polizeidirektor Kamptz in die Zeitung lanciert. Jahn erhob Anklage gegen den Polizeidirektor, und E. T. A. Hoffmann setzte sich mit der Ansicht, daß Jahn widerrechtlich in Haft genommen worden sei, in der Kommission durch. Im Februar 1820 war Hoffmann das Verfahren Jahn gegen den Polizeidirektor Kamptz übertragen worden. Er zögerte nicht, Kamptz vor Gericht vorzuhalten: »Die von dem Jahn eingereichte Injurienklage mußten wir für rechtlich begründet achten nach dem klaren Inhalt der Gesetze […], weil auch die höchsten Staatsbeamten nicht außer dem Gesetz gestellt, vielmehr demselben, wie jeder andere Staatsbürger, unterworfen sind.« Erst einer Order des Königs Friedrich Wilhelm III., daß der Prozeß gegen Kamptz einzustellen und Jahn mit seiner Klage abzuweisen sei, fügte sich Hoffmann widerwillig im März 1820.
Den Polizeidirektor Kamptz karikierte er in einer seiner letzten Erzählungen, dem »Meister Floh«. Darin tritt ein Geheimer Hofrat namens Knarrpanti auf, verfolgt Unschuldige und erfindet Gründe, denn wo ein Schuldiger ist, da wird man auch Gründe finden, und wo ein Corpus ist, kann man da lesen, da wird es auch ein Delictum geben. Kamptz erfuhr davon und wollte Hoffmann in Haft nehmen. Hoffmann, der schon todkrank im Bett lag, schrieb zu seiner Entlastung noch eine Verteidigungsschrift an Hardenberg, in der stand, daß das Zerrbild Knarrpanti nur eine Erfindung des in das Gebiet des ausgelassensten Humors streifenden Märchens sei, zu dem man das Original wohl vergeblich auf dieser Erde suchen werde. Der König soll von dieser List beeindruckt gewesen sein, Kamptz gab sich damit allerdings nicht zufrieden. Hoffmann entzog sich dem drohenden Prozeß durch seinen Tod.
Hoffmann kannte die psychiatrische Literatur seiner Zeit. Er hatte Cox und Pinel und Reil gelesen. Er kannte die Literatur über »animalischen Magnetismus«, er war informiert über Mesmerismus und Somnambulismus. Er war auf dem Stand der Wissenschaft seiner Zeit. Er hatte in der Nervenklinik seines Freundes Dr. Marcus in Bamberg Melancholiker und Epileptiker beobachten können. Und dabei muß er festgestellt haben, daß eine Form wahnhafter Erkrankung in den psychiatrischen Lehrbüchern noch nicht aufgeführt war: Hoffmann beschrieb als erster, zum ersten Mal 1815 in den Elixieren des Teufels, ein Krankheitsbild, das später unter dem Begriff »Schizophrenie« zusammengefaßt wurde. Er nannte das »chronischen Dualismus«. Hoffmann beschrieb die »Schizophrenen« aber nicht als Kranke, sondern als diejenigen, die als einzige auf den Widerspruch zwischen individuellem Anspruch und verordneter Entmündigung sensibel, also normal, reagierten.
Scott hätte das alles wissen können. Goethe erst recht. Ich vermute, die beiden haben es sogar gewußt, es aber in ihrer Beurteilung Hoffmanns einfach unterschlagen, weil das alles zu ihrem Urteil, Hoffmann sei doch nur ein geistesgestörter Psychopath und überreizter Erzähler unsinniger Märchen, schlecht gepaßt hätte. Indem sie ihn so diskreditierten, wollten sie die realen Probleme ihrer Zeit verdrängen. Kein Leser sollte durch Hoffmann darauf aufmerksam gemacht werden. Deshalb mußte man ihn »canceln«. Er paßte nicht in ihre politisch konservativen Vorstellungen. Es ging nicht um die Beurteilung eines Literaten, sondern darum, einen politisch Mißliebigen unschädlich zu machen, um seine Wirkung zu verhindern. Dabei schreckte man vor keiner Gemeinheit zurück. Deshalb sollte man das Buch lesen.
Scotts und Goethes Urteil wirkt noch immer nach. Zufällig habe ich zu Hoffmanns Jubiläum im Auto eine Würdigung gehört, in der zwar eingestanden wurde, daß er ein begabter Literat und Komponist und Musiker und Zeichner und Jurist gewesen sei. Aber das Etikett, das auf dem Label Hoffmann klebte, war: Gespenstergeschichten-Erzähler und Alkoholiker, der jeden Abend mit seinem Freund, dem Schauspieler Devrient bei Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt abhing und sich zusoff. Auch der Rezensent im Radio dürfte nicht gewußt haben, daß E. T. A. Hoffmann einer der aufregendsten modernen Schriftsteller war, den man gerade heute unbedingt wieder lesen sollte, weil man dann einiges von dem Unsinn und Irrsinn unserer Zeit besser versteht. ◆
KNUT BOESER
geb. 1944, Dr. phil., war Intendant in Berlin, Chefdramaturg in Wien, schreibt Essays, Drehbücher, Theaterstücke und Prosa, ist Mitglied der Deutschen Filmakademie. Sein Roman Nostradamus wurde in elf Sprachen übersetzt.