Wer die schlechte Lage der Nation Merkels Regierung zuschreibt, übersieht, daß die seit sechzehn Jahren amtierende Kanzlerin nur Tendenzen aufgegriffen und exekutiert hat, die in der Geschichte der Bundesrepublik seit je angelegt waren. Kräfte, die den weiteren Niedergang aufhalten könnten, sind auch nach der Bundestagswahl nicht zu erkennen
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Überreichung der Ernennungsurkunden an die Mitglieder des Bundeskabinetts Merkel IV am 14. März 2018 durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Berliner Schloß Bellevue
Sobald Angela Merkel das Kanzleramt verlassen hat, werden ihre Kritiker, die mit dem Schlachtruf »Merkel muß weg!« ihrer Wut und Verzweiflung über das Treiben der Langzeitregentin Luft gemacht hatten, eine herbe Enttäuschung erleben. Höchstwahrscheinlich werden sie feststellen, daß die ruinöse Politik weitergeht und sogar an Tempo zulegt. Denn Merkel war nur das Medium, nicht die Wurzel des Übels.
Um so beeindruckender wirkt die Schadensbilanz ihrer sechzehnjährigen Kanzlerschaft. Den größten Posten bildet darin die Grenzöffnung 2015, durch die Deutschland endgültig den Weg zum multireligiösen Vielvölkerstaat mit all seinen Risiken beschritten hat – vor allem für die Einheimischen und jene Zugewanderten, die habituell längst zu Einheimischen geworden sind. Die europäische Schuldenunion, welche die privaten und öffentlichen Haushalte in Deutschland massiv zur Ader läßt, steht kurz vor ihrer Vollendung. Der »Kampf gegen rechts« ist zur Staatsideologie geworden und wird milliardenschwer finanziert. Das sogenannte bürgerliche Lager – soweit noch vorhanden – ist seiner politischen Vertretung weitgehend beraubt, demoralisiert und programmatisch pulverisiert. Das öffentliche Handeln und Debattieren steht unter dem Vorbehalt einer stramm antifaschistischen Gesinnungsethik, die altkommunistische Kader als natürliche Verbündete einschließt, hingegen selbst altgediente Unions-Konservative als Extremisten brandmarkt. Mit dem Hygiene-Regime ist das Regieren im Ausnahmemodus in einer neuen lebensweltlichen Normalität zur Regel geworden. Fast möchte man Merkel eine stille Revolutionärin nennen.
Auf internationaler Bühne wurde ihr als »mächtigster Frau der Welt« geschmeichelt, was lediglich als ironische Danksagung für ihre stete Bereitschaft, Geld aus den deutschen Steuer- und Sozialkassen im Ausland zu verteilen, zu verstehen ist. US-Präsident Joseph Biden jedenfalls hat es nicht für nötig gehalten, sie über den Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan vorab zu informieren, geschweige denn sie zu konsultieren. Ihre Phrasen über eine diskursive, werte- und regelbasierte Weltordnung, die in globalen Foren und Organisationen wie der UN ihre institutionelle Entsprechung findet, sind seit dem kopflosen Abzug vom Hindukusch endgültig Makulatur geworden. Absehbar ist vielmehr eine internationale Großraumordnung, in der Europa – vielleicht – eine Rolle spielen wird. Deutschland als dem größten europäischen Herzland käme darin eine zentrale Funktion zu. Merkel aber hat das Gewicht der EU deutlich geschwächt, denn unter dem Eindruck des »Hippie-Staates« (Anthony Glees), den die Bundesrepublik im Rahmen ihrer Flüchtlingspolitik darstellte, ist die Atommacht Großbritannien aus der Union ausgeschieden.
Merkels lange Kanzlerschaft, in drei Folgewahlen bestätigt, steht angesichts ihres fehlenden Charismas und ihrer dürftigen Rhetorik gegen alle politische Vernunft, wie auch gegen alle Wahrscheinlichkeiten der Massenpsychologie. Zumal sich aus der Wandelbarkeit ihrer Positionen nicht etwa pragmatische Flexibilität, sondern nur mehrheitsaffiner Opportunismus und ebensolche Prinzipienlosigkeit ablesen lassen. Warum währte ihre Ära trotzdem so lange?
Der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit hatte in dem 2014 erschienenen Buch Alternativlos. Merkel, die Deutschen und das Ende der Politik versucht, die Kanzlerin als repräsentativen deutschen Phänotyp, als Verkörperung eines Staatsvolks zu beschreiben, das im 20. Jahrhundert ein Übermaß an Geschichte durchlebt habe, das gealtert und jedem Abenteuer abgeneigt sei – und sich nach Schonung sehne. Diese Schonung gewähre Merkel ihm durch größtmögliche Konfliktvermeidung, was dazu führe, daß »Deutschland sich unter Merkel als ökonomische Nation, nicht als politische« präsentiere.
Der Ansatz ist interessant, seine Begründung und Erläuterung jedoch unzureichend. Die Politik endet natürlich nicht, wenn ein Staat beziehungsweise ein Staatsvolk darauf verzichtet, sie aktiv zu betreiben. Sie werden dann zum Objekt der Politik der anderen. Der Verzicht ist daher selbstzerstörerisch. Die Konfliktvermeidung war Merkels Weg des geringsten persönlichen Widerstands ohne Rücksicht auf deutsche Verluste. Dennoch erfreute sie sich breiter Beliebtheit bei denen, die dafür die Zeche zahlen müssen – eine Haltung, zu deren Bezeichnung ein Oxymoron nötig ist: affirmative Duldungsstarre. Wie ist sie zu erklären?
Konrad Adenauer hat seine außenpolitischen Ziele
postum weitgehend erreicht
Keine der destruktiven Entwicklungen, die sich mit ihrem Namen verbinden, wurde von Merkel initiiert und begonnen. Sie hat sie vorgefunden, fortgesetzt und konsequent exekutiert. Die fatale Gemeinschaftswährung und den unverantwortlich aufgeblähten Teilnehmerkreis hat sie von ihren Vorgängern Helmut Kohl (1930−2017) und Gerhard Schröder (* 1944) geerbt. Mit der Energiewende gab sie der grassierenden Anti-Atomkraft-Stimmung nach, einer modernen Variante der »German Angst«. Und die Grenzöffnung im Sommer 2015 war die Überführung der jahrzehntelangen, uferlosen Asylpraxis in eine neue Qualität. Mit Goethes Faust gesprochen: »Der ganze Strudel strebt nach oben; Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben.« Merkel war, wie gesagt, lediglich das Medium, durch das bestimmte autodestruktive Tendenzen der deutschen Nachkriegspolitik und entsprechende Prägungen der Gesellschaft zur Vollendung gelangt sind. Zu ihrer Erklärung muß man bis in die Früh- und Gründungsgeschichte der Bundesrepublik zurückgehen.
Für Konrad Adenauer (1876−1967) war nach dem Zweiten Weltkrieg klar, daß man aus den drei Westzonen einen fest im Westen integrierten Separatstaat bilden müsse. Ein neutraler, von amerikanischer Militärmacht entblößter Einheitsstaat würde auf jeden Fall unter der Fuchtel Moskaus stehen und kommunistisch werden. Der separate Weststaat solle Schritt für Schritt die Souveränität zurückerlangen und mit der vereinten Kraft des Bündnisses die Sowjetunion zur Herausgabe der DDR veranlassen. Adenauer wollte deutsche Atomwaffen als das definitive Attribut der Selbstbehauptung einer neben Frankreich und Großbritannien gleichberechtigten Mittelmacht. Vehement wandte er sich gegen die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags, der Deutschland vom Nuklearwaffenbesitz ausschloß. Er nannte ihn einen »Morgenthau-Plan im Quadrat« und ein »Todesurteil«, während der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß (1915−1988) »ein neues Versailles von kosmischen Ausmaßen« heraufziehen sah.
Abgesehen von der Atombewaffnung scheint Adenauers Strategie aufgegangen zu sein. Das Land ist wiedervereinigt, seine formale Souveränität wurde ihm zurückgegeben. Das beschreibt die politische Hardware. Daneben gibt es aber eine kulturelle, geistige, psychologische Software, die sie konterkariert. Parallel zum äußeren Aufstieg, der sich zunächst im »Wirtschaftswunder«, dann im erweiterten politischen Gestaltungsspielraum manifestierte, vollzog sich eine »intellektuelle Staatsgründung als Internalisierung der Vergangenheitsbewältigung« (Clemens Albrecht). Hauptakteur war die aus den USA zurückgekehrte Frankfurter Schule, die auf den schuldhaften Zusammenhang von Volk, Nation, Kultur und Tradition insistierte und das in Folge der NS-Herrschaft lädierte Nationalbewußtsein durch eine neue, von Schuldtranszendenz durchdrungene Kollektividentität ersetzen wollte. Wer die deutsche Schuld zu Recht anerkannte, sah sich fortan von dem negativen Strudel einer paradoxen Dynamik erfaßt: Alle noch so notwendigen und begrüßenswerten Bemühungen um Aufarbeitung und Wiedergutmachung erhöhten den Abstand zu dem für absolut und einzigartig erklärten Maß an Schuld; alle Bemühungen, sie abzutragen, mußten nicht nur vor dem prinzipiell unerreichbaren Ziel scheitern; das moralische Defizit wurde bei redlicher Bemühung größer statt kleiner. Es entstand ein sich selbst regenerierendes Anklagepotential, mit dem inzwischen jede beliebige Opposition bekämpft werden kann.
Als Katalysator erwiesen sich Ende 1959 die – mutmaßlich durch das Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit veranlaßten – Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge, die mehrere Nachahmungstaten nach sich zogen. Der Empörung im In- und Ausland, gerade auch bei den Verbündeten im Westen, wußte die Adenauer-Regierung sich nicht anders zu erwehren als durch den Kniefall vor jenem Geist von Frankfurt. Der Bundestag beschloß eilig ein Gesetz gegen Volksverhetzung, an den Schulen wurde die politische Bildung ausgeweitet, Prozesse gegen NS-Täter wurden forciert. In der Presse, auf Theaterbühnen, im Kultur- und Geistesleben wurde die nationalsozialistische Herrschaft breit erörtert. Ein weiterer Beschleuniger war die grassierende Kriegsangst, ausgelöst durch die Berlin-Krise mit dem Mauerbau als Höhepunkt. In dieser Situation hofften Teile der Gesellschaft, die Bundesrepublik könne mit Nachsicht rechnen, wenn sie ihre antifaschistische Läuterung unter Beweis stellte.
Die Tiefenwirkung der Schuldtranszendenz ergab sich aus der Verbindung mit der theologischen Ethik der Evangelischen Kirche. Bereits die Schulderklärung der evangelischen Christenheit Deutschlands vom 19. Oktober 1945 (Stuttgarter Schuldbekenntnis) läßt sich als »Investitur der bundesdeutschen Zivilreligion« (Karl Richard Ziegert) deuten. 1965 veröffentlichte die EKD die Ostdenkschrift zum deutsch-polnischen Verhältnis. Die Verfasser betonten zwar, für konkrete politische und völkerrechtliche Entscheidungen keine Kompetenz zu besitzen, erhoben aber den Anspruch, durch Auslegung des Evangeliums die »inneren Voraussetzungen« für ein »realistisches Urteil und die wirkliche Bereitschaft zur Versöhnung« zu schaffen. Die Vertreibung sei als »ein Teil des schweren Unglücks« zu verstehen, »das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere Völker gebracht hat«. Solches Verständnis sei geeignet, »eine neue Bewegung in die politischen Vorstellungen des deutschen Volkes« hineinzubringen, und lege den Rechtsverzicht auf die Ostgebiete nahe. Tatsächlich löste das Memorandum einen Meinungsumschwung in der Grenzfrage aus und führte dazu, daß das realpolitisch Unvermeidliche mehrheitlich akzeptiert wurde. Der Vorgang war dennoch hochproblematisch, weil eine politische Grundsatzfrage nicht politisch, sondern in metaphysischer Überhöhung beantwortet wurde. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, die Politik einschließlich der Außenpolitik zum Spielfeld religiöser Empfindungen, gefühlsmäßiger Interessen und der Hypermoral zu machen.
Die materielle Voraussetzung für einen solchen weltlosen Überbau bildete der Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Er vor allem sorgte dafür, daß eine Mehrheit die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Nachkriegszeit rasch akzeptierte. Andererseits war es prekär, wenn staatsbürgerliches Bewußtsein primär von der Höhe der materiellen Zuwendung abhing. Die darin liegende Gefahr wurde in der Diskussion um die Bedeutung der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes, das die Bundesrepublik als »sozialen Bundesstaat« definiert, frühzeitig offengelegt. Laut höchstrichterlicher Entscheidung aus dem Jahr 1956 hieß das, eine »annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten« anzustreben. Das war unter dem Eindruck der unterschiedlich verteilten Kriegsfolgelasten in der Tat eine zentrale Aufgabe der Politik. Als dauerhaft einklagbares Verfassungsgebot verstanden, drohte damit aber auch die Herabwürdigung des Staates zum sozialen Dienstleister. Der Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902–1974) warnte vor der »uferlosen Erstreckung« des Sozialen und prophezeite: »Radikale Sozialstaatlichkeit endet zwangsläufig bei einem Verwaltungsstaat, der nicht mehr Rechtsstaat sein kann.« Ähnlich fürchtete Arnold Gehlen (1904–1976) »den Vorrang des Sozialen vor der Politik« und einen »egalitären Glückssozialismus«, mithin eine geistig-kulturelle und moralische Wohlstandsverwahrlosung.
Instinktsicher hatte der Nationalkommunist Wolfgang Harich (1923–1995) bereits 1946, als knapp dreiundzwanzigjähriger genialischer Feuerkopf, die langfristigen Risiken eines subalternen Separatstaates erfaßt: Das deutsche Volk würde »in einer unpolitischen Existenzform gefangengehalten« und »wehrlos« gemacht werden »durch politische Ratlosigkeit und Apathie«; es drohe »ein zur amorphen Masse summiertes spießbürgerliches Philistertum seiner Individuen«. Das entsprach exakt der Vision Winston Churchills (1874–1965), der sich das Nachkriegsdeutschland schon 1942 »fett, aber impotent«, als eine Art gutgenährten politischen Zwerg vorstellte.
Deutschland war unter den Siegermächten
sogar vom eigenen Ernstfall dispensiert
Aus der Verbindung von Schuldtranszendenz und Sozialstaat ging seit den sechziger Jahren die Felix culpa, die »glückliche Schuld«, hervor, eine spezielle Form der politischen Romantik. Die Beschäftigung mit den NS-Verbrechen war für die nachwachsenden Generationen wie ein Äpfelpflücken vom Baum der Erkenntnis. Aus dem falschen Paradies des Nationalstaates vertrieben, durfte sie desto frohgemuter dem eschatologischen Himmelreich einer postnationalen, ja weltbürgerlichen Identität zustreben. Das war eine illusorische Idee, die aber dringende ideelle und emotionale Bedürfnisse befriedigte und sich zum Ausgangspunkt einer Ideologie, eines realitätsfernen Gesellschaftsentwurfs, eignete. Der nachmalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine (* 1943) beschwor eine politische Ordnung, in der die Freiheit des einzelnen eingebettet wäre in die »international zu verwirklichende Idee der sozialen Gerechtigkeit«.
Politik als kontinuierliche Konfliktvermeidung
führt ins strategische Desaster
Das waren Ideen aus einer stillgestellten Zeit, als »Deutschland als Ganzes« nur noch als rechtliches Relikt vorhanden und die Bundesrepublik als sein erklärter Statthalter durch den Vorbehalt der Siegermächte von den großen Entscheidungen und sogar vom eigenen Ernstfall dispensiert war. Die maßgebliche Frage lautete, ob Politik und Gesellschaft sich des Ausnahmecharakters bewußt waren, ob sie auf die Wiedererlangung der Souveränität hinarbeiteten und die damit verbundenen Konflikte und die Neudefinition des Eigeninteresses antizipierten. Die Bundesrepublik hatte der Machtpolitik entsagt und sich ganz auf die Ökonomie konzentriert. Sie stellte laut Henry Kissinger (* 1923) »eine wirtschaftliche Einheit dar, die nach einer politischen Aufgabe suchte«. Inzwischen aber hatte sie mit ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch politische Macht generiert, die groß genug war, um die schwächelnde Sowjetunion zur Freigabe der DDR zu bewegen und die Unterstützung der USA für die Wiedervereinigung zu erhalten.
Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) gehörten zur letzten Generation von Politikern, welche die deutsche Einheit, auch aus eigener Erinnerung an die Zeit vor der Teilung, noch wirklich wollte, aber sie fürchteten sich zugleich vor den Konsequenzen. Als Frankreichs Präsident François Mitterrand (1916–1996) ihnen kurz nach dem Mauerfall das Schreckbild einer Neuauflage der Triple Entente von 1914 an die Wand malte, übte Kohl sich in Selbstzerknirschung und versicherte, Deutschland werde fortfahren, seine Rechte an Brüssel zu übertragen, womit »das Gespenst eines Vierten Reiches« immer unwirklicher werde. Zur gleichen Zeit äußerte er gegenüber US-Außenminister James Baker (* 1930), den Entschluß zur Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion habe er gegen deutsche Interessen getroffen. Er frage sich, was er denn noch mehr tun könne, um die Besorgnisse der Europäer zu zerstreuen. Ob und in welchem Umfang die mit militärischer Präzision verübten, unaufgeklärt gebliebenen Morde am Vorstandsprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen im November 1989 und an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder im April 1991 auf die folgenden Entscheidungsprozesse einwirkten, wäre noch zu klären.
Jedenfalls gab Deutschland sein wichtigstes machtpolitisches Instrument – die D-Mark – aus der Hand. Damit verfehlte es seine Mission, als Kernstaat eines europäischen Staatenbundes zu agieren. Statt Europa zu gestalten, wollte es darin verschwinden. Das Zauberwort hieß »Einbindung«. Gemeint war der vorauseilende Souveränitätsverzicht in der vagen Hoffnung auf künftige politische Erträge. Artikel 23 des Grundgesetzes, der den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geregelt hatte, wurde umgehend neu formuliert und billigt seither ausdrücklich die Übertragung von Hoheitsrechten nach Brüssel. Im Rat der Europäischen Zentralbank zählt die Stimme der Bank von Griechenland genausoviel wie die der Bundesbank. Was zwei verlorene Weltkriege vom deutschen Leviathan übriggelassen haben, wird jetzt verzehrt. Die Finanztransfers, die Euro- und Corona-Bonds sowie die Schuldenvergemeinschaftung sind jedoch ein süßes Gift, das Europa sediert, statt es zu stärken. Merkels Ausspruch von 2010: »Scheitert der Euro, scheitert Europa«, ist töricht und zugleich plausibel. Er besagte, daß es nicht in der Macht der deutschen Kanzlerin lag, die EU-Politik der vergangenen zwanzig Jahre rückabzuwickeln. Zumindest erschien ihr der Versuch zu riskant.
Wird Politik als permanente Abfolge taktischer Konfliktvermeidungen betrieben, führt sie unweigerlich in ein strategisches Desaster. Doch damit traf Merkel den Nerv der Wählerschaft: Sie kam, wie Dirk Kurbjuweit richtig bemerkte, deren Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Konsens entgegen. Dieses Verlangen ist in der Kollektivpsyche historisch tief verankert, die Schrecken des Zweiten Weltkrieg haben schließlich zu einer umfassenden mentalen Pazifizierung geführt. Sie betrifft neben dem Militärischen das Politische überhaupt. Selbst die Berufung unerfahrener Provinzpolitikerinnen an die Spitze des Verteidigungsministeriums ging ohne Widerspruch über die Bühne. Die Rote-Socken-Kampagne der Union 1994, der Versuch des Unionspolitikers Friedrich Merz im Jahr 2000, den Begriff »Leitkultur« zu lancieren, Wahlkampflosungen wie »Kinder statt Inder« oder »Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!« waren letzte, unbeholfene Versuche, innenpolitische Konfliktlinien zu markieren und zu debattieren.
Die internationale Einbindung steigerte sich zu hypermoralischer Selbstfesselung
Rückblickend erweist sich die Verstoßung des in eine Spendenaffäre verstrickten Helmut Kohl aus der CDU und Merkels Wahl zur Parteivorsitzenden als eine entscheidende Zäsur auf dem Weg in die totale Entpolitisierung. Zunächst verband sich damit die Erwartung, der zunehmend als starrsinnig und naiv empfundene Europa-Idealismus, den Kohl vertreten hatte, werde durch eine realistischere Sichtweise ersetzt werden. Tatsächlich pochte Kohls Nachfolger Gerhard Schröder zumindest verbal auf eine selbstbewußte Politik und erklärte zwischenzeitlich: »Wir gehen unseren deutschen Weg.« Doch das Gegenteil geschah. Unter Merkel wurden die verbliebenen Restbestände eines politischen Bewußtseins abgeräumt und die Leerstelle von einem Geist okkupiert, den die amerikanischen Autoren John Gerzema und Michael D’Antonio als »Athena-Doktrin« bezeichneten. Demnach werden Wesensmerkmale wie Stärke, Dominanz, Egoismus, Konfliktbereitschaft, die als typisch männlich gelten, durch Empathie, Kollegialität, Flexibilität, offene Strukturen und Selbstlosigkeit ersetzt.
Diese Eigenschaften wurden auch Merkel zugeschrieben. In Wahrheit war ihr Regierungsstil machiavellistisch und intransparent. Selbstlos war sie nur im Verzicht auf die Vertretung deutscher Interessen. Nach innen betrieb sie die Politik als Sozialtechnik, das heißt, sie moderierte die schädlichen Folgen, die der Nachvollzug von Interessen und Entscheidungen Dritter zu Hause anrichtete. Ihre Handlungsweise paßte sich perfekt dem System der internationalen Einbindung an, das sich für die Bundesrepublik zum »Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber) und der hypermoralischen Selbstfesselung verhärtet hat. Das zeigte sich im Wahlkampf 2013, bei dem Peer Steinbrück (* 1947) als Kanzlerkandidat für die SPD antrat. Steinbrück war intelligent und scharfzüngig, eine profilierte Persönlichkeit und in Finanzfragen der Amtsinhaberin überlegen. Dennoch wagte er es nicht, beim deutschen Wähler und Steuerzahler zu punkten, indem er die von Merkel zu Lasten Deutschlands betriebene Euro-Rettung thematisierte, geschweige denn in Frage stellte.
Mit dem Mauerfall verstärkte sich das ungelöste Asylproblem. Allein zwischen 1989 und 1992 wurden rund eine Million Asylanträge gestellt. Trotz offenkundigen Mißbrauchs des Asylrechts wurde es unterlassen, ein deutsches Eigeninteresse geltend zu machen. Die Asylpolitik wurde auf die sozialen Streßzonen der neuen Bundesländer ausgedehnt, wo es zu vorhersehbaren Ausschreitungen kam. Statt die politischen und sozialen Konflikte, die sich aus dem faktisch schrankenlosen Asylrecht im Zeitalter globaler Wanderungsströme ergaben, zu benennen und zu klären, wurde die Schuldtranszendenz, die mit dem Mauerfall in den Hintergrund gerückt war, reaktiviert. Es wurde das Phantom eines »Vierten Reiches« beschworen und der Gespensterkampf gegen die »Gefahr von rechts« ausgerufen. Schon vor dreißig Jahren zeichneten sich die Umrisse eines neuen Ideologiestaates ab, der seine Politik nicht an sachlichen Anforderungen und rationalen Gesichtspunkten, sondern an einer dogmatischen Weltanschauung ausrichten würde, einer Synthese von Antifaschismus und Humanitarismus, einer Ausweitung des vorpolitischen, familienbezogenen Solidaritätskomplexes auf die Menschheit.
Diese Entwicklung bildet sich auch in der Rechtsprechung ab. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag mit der DDR 1973 wird die Bundesrepublik nicht als westdeutsche Neugründung, sondern als eine Neuorganisation des Deutschen Reiches beschrieben, die nicht dessen Rechtsnachfolger, »sondern als Staat identisch« sei und »auf die Reorganisation Deutschlands« als staatspolitische Formation des deutschen Volkes hinarbeite. In der sogenannten Wunsiedel-Entscheidung von 2009 heißt es dagegen, die »Entstehung der Bundesrepublik Deutschland« sei als »Gegenentwurf« zur NS-Gewaltherrschaft zu verstehen, was dem Staat und der Verfassung eine dezidiert moralische und antifaschistische Auslegung verleiht.
Fast jede Kritik kann inzwischen
als verfassungsfeindlich stigmatisiert werden
Unter Hinweis auf das Dritte Reich ist es üblich, den Staat zu einem Monster »aufzudröhnen« (Carl Schmitt), das von gutgesinnten Demokraten erst einmal gezähmt, zivilisiert und mit dem Geist von Freiheit und Gerechtigkeit erfüllt werden müsse. Hier liegt die Einbruchstelle für Parteien, NGOs, Sozialverbände und Vereine, die die staatlichen Institutionen in Beschlag nehmen, vom Staat finanziert werden und häufig eine parasitäre, semistaatliche Substruktur bilden. Wie der Sozial- erfordert auch der Ideologiestaat eine Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsbürokratie, um den Riß, der sich zwischen der disparaten Realität und dem hypermoralischen Weltbild ständig auftut, immer wieder zu kitten. Da sich der Faschismus-Begriff nahezu beliebig ausweiten läßt, ist es ein leichtes, Bestrebungen, die sich gegen solche Verformungen des Staates wenden, mit dem Stigma der Verfassungsfeindlichkeit zu versehen.
Hingegen konnte Angela Merkel ohne Sorge den Bestand des Staates als einer Dreiheit aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt in Frage stellen, als sie im Oktober 2015 das Offenhalten der Grenzen mit den Worten rechtfertigte: »Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir haben dreitausend Kilometer Landgrenze. Dann müssen wir einen Zaun bauen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht.« Sie nannte das »in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen«. Entpolitisierung und Sentimentalität gehen Hand in Hand. Der »Zaun« ließ sich später doch errichten, und zwar im Zuge des Hygiene-Regimes gegen das eigene Staatsvolk und sogar zwischen Bundesländern – ein Beispiel dafür, wie staatliche Schwäche nach außen durch Repression nach innen kompensiert und die sozialtechnische Moderation durch moralische Erpressung und autoritäre Anmaßung ergänzt wird. Die Verluste an Wohlstand, Sicherheit und funktionierender Infrastruktur sind offensichtlich. Zu ihrer Rechtfertigung brauchte die aus den NS-Verbrechen abgeleitete Schuldtranszendenz nur zur Kolonial- und Klimaschuld ausgeweitet zu werden. In demselben Maße wie die Politik bei der Lösung konkreter Probleme versagt, beschwört sie den großen eschatologischen Wurf. 2020 beschwor Merkel auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos eine »Transformation von gigantischem, historischem Ausmaß«, die die »gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens« erfaßt, um die Erderwärmung zu stoppen. Dreißig Milliarden Euro wolle Deutschland für erneuerbare Energien bereitstellen, dafür zahlten die Deutschen die höchsten Strompreise in Europa, schwärmte sie und reduzierte vor internationalem Publikum das ihr anvertraute Land auf die Modellprovinz eines künftigen Globalregimes. Die jüngste Bundestagswahl hat nur vordergründig eine Post-Merkel-Ära eingeleitet. Politische Kräfte, die den Zug ins Blaue aufhalten könnten, sind nicht sichtbar geworden oder haben sich nicht plazieren können. ◆
THORSTEN HINZ,
geb. 1962 in Barth, ist freier Autor und Journalist. In Cato 5/2021 schrieb er unter dem Titel »Progressive Intoleranz« über Neuerscheinungen zum moralischen, ökonomischen und biopolitischen Totalitarismus neuen Typs.