Jede Bibliothek zeugt von einem anderen Umgang mit Büchern. Wahrscheinlich gibt es so viele Weisen, mit Büchern umzugehen, wie es Menschen gibt – kleine Feldstudie über das Lesen als Lebensform
Das Glück im Leben eines passionierten Lesers liegt darin, daß er ein verloren geglaubtes Buch wie durch ein Wunder in seiner Bibliothek wiederfindet und in ihm das liest, wovon er glaubt, daß es für ihn in diesem Moment unbedingt notwendig sei. Das kann ein Aphorismus von Chamfort oder ein Liebesratschlag von Ovid sein. Bei schwierigen, fast unlösbaren Lebensfragen kann einem ein Rat aus dem richtigen Buch im richtigen Moment das Leben retten.
Ein wahrer Leser liest für ihn wichtige Bücher zum wiederholten Male, so daß sie beinahe sein geistiges Eigentum werden. Bücher sollten am besten in Einsamkeit gelesen werden. Die Leseleidenschaft macht vor keinem Ort halt. Man erinnere sich an die Leseleidenschaft der Russen. Vor der politischen Wende vor dreißig Jahren sah man in der Metro fast alle Mitfahrer mit einem Roman in der Hand. Lesend verrinnt die Zeit dramatisch schnell. »Wer es versteht und den Weg weiß, der lebt auch in der Hölle behaglich«, zitiert Heimito von Doderer in seiner Erzählung »Unter schwarzen Sternen« ein tibetanisches Sprichwort. Von dort ist es nur ein Gedankensprung zu den Gefangenen im Gulag, für die das Buch, so berichtet es Wassili Grossman in Leben und Schicksal, oft der einzige Trost war. An schrecklichen oder auch nur häßlichen Orten wie Frankfurts U-Bahnhaltestelle Hauptwache kann man sich in Paradiese hineinlesen.
»Die Leidenschaft für Bücher kennt keine Grenzen, manchmal erhungert man sie.«
Die Göttin Mnemosyne, die Mutter der Musen, muß Carl Schmitt sein Leben lang begleitet haben, denn er sprach oft davon, im richtigen Augenblick das richtige Buch, das er brauchte, aus heiterem Himmel gefunden zu haben. Die wohl gängigste Art, eine Bibliothek zu ordnen, dürfte nach dem Alphabet sein, wie es bei Joachim Fest zu beobachten war. Dagegen hat Aby Warburg vorgeschlagen, die Bücher nach ihrem Nachbarschaftsverhältnis zusammenzustellen. Diese Anordnung hat den Vorteil, daß man bei der Suche nach einem bestimmten Buch vielleicht zu dem daneben stehenden greift, welches sich unerwartet als passender erweist. Von Aby Warburgs kulturwissenschaftlicher Bibliothek in Hamburg, die 1926 eingerichtet wurde, erzählt Ernst Cassirer, daß er sich im Labyrinth der Bücherreihen verlaufen habe. »Ein neuer und einzigartiger psychologisch-historischer Ort« schwebte Warburg vor. Ernst Cassirer gehörte zusammen mit Erwin Panofsky und Edgar Wind zu den ersten regelmäßigen Besuchern des neuen Instituts.
Eine schöne Art, Bücher vor dem Altern zu schützen, hat der italienische Schriftsteller und Verleger Roberto Calasso für sich entdeckt. Er läßt sie in französisches Pergamentpapier einbinden, was aber, wie er schreibt, den Umgang mit ihnen erschwere, da die Titel nicht mehr so leicht zu erkennen seien. Dafür verhindern die verschleierten Buchrücken, daß sich eine zu große Intimität mit einem zufälligen Besucher der Wohnung einstellt. Denn an Farbe und Grafik der Bücher kann man sofort die geistige Konstitution des Hausherrn ablesen. In seinem kürzlich erschienenen Buch Come ordinare una biblioteca (»Wie man eine Bibliothek ordnet«, Mailand [Adelphi] 2020) schildert Calasso, welch großen Eindruck ihm die Bibliothek seines Vaters machte, als er als Kind darin spielte. Bücher gehören vielleicht zu jenen Gegenständen aus der Welt der Erwachsenen, die besonders geeignet sind, Kinder durch ihre Präsenz tief zu beeindrucken.
Es gibt ererbte Bibliotheken, zum Beispiel die Ullstein-Bibliothek von Thomas Ross, einst Indien-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Vor den Nationalsozialisten wie durch ein Wunder gerettet, wurde sie zuerst in Österreich in einem Schloß versteckt und ging danach auf Reisen. Japan und Indien waren nur Zwischenstationen, bis sie in den achtziger Jahren nach Frankfurt kam, um schließlich nach Italien an den Gardasee verschoben zu werden, ganz in die Nähe der heute in Gabriele D’Annunzios Vittoriale degli italiani ausgestellten Bibliothek von Henry Thode, dem deutschen Kunsthistoriker, der nach dem Ersten Weltkrieg vom italienischen Staat enteignet wurde. Thode hat ein großartiges Buch über Franz von Assisi geschrieben, den Patron Italiens. Er könnte aber auch der Patron eines Deutschland südlich der Alpen sein, eines deutschen Italien, das bis in die Völkerwanderungszeit zurückreicht und noch immer lebt, da auch die Weltkriege es nur für einen kurzen Moment in den Hintergrund drängen konnten.
Eine ererbte Bibliothek ist auch eine erlittene Bibliothek. Erwerb und Erhalt sind mit viel Leidenschaft, Mühe, Aufwand und Geldausgaben verbunden. An sonnigsten Wiener Sommertagen der siebziger Jahre verbrachte Hans-Jürgen Fröhlich, der die vielleicht schönste Biographie Franz Schuberts geschrieben hat, seine Zeit in der staubigen Atmosphäre der Antiquariate, um kostbare Erstausgaben von Doderer, Schnitzler, Roth, Hofmannsthal oder sogar eine kolorierte Zeichnung von Egon Schiele aufzustöbern. Nach diesen Kellerexpeditionen waren seine Anzüge mit Spinnweben und Mörtel bedeckt, er aber glücklich wie ein erfolgreicher Goldsucher.
»Mario Praz’ Bücher sind zufrieden, sie wollen nicht hinaus. Vielleicht sind sie sogar glücklich.«
Die Leidenschaft für Bücher kennt keine Grenzen, manchmal erhungert man sie. Günter Maschke brach beim Kauf seiner Ernst-Jünger-Ausgabe für 800 Mark, die damals gerade im Klett Verlag erschienen war, in Tränen aus. Es waren seine letzten Ersparnisse. Seine Bibliothek erscheint als eine Art Gefängnis, in dem eine Revolte ausgebrochen ist. Die Bücher schwärmen in Scharen aus den Regalen aus und rotten sich auf Stühlen, Küchen- und Fensterbänken zusammen, als würden sie nur darauf warten, von einem fähigen Kommandanten in die Freiheit geführt zu werden. Wer weiß, vielleicht wäre dafür ein legendäres Buch von Maschke selbst geeignet: Das bewaffnete Wort. Aufsätze aus den Jahren 1973–93 (Wien und Leipzig [Karolinger] 1997).
Der Palazzo Ricci von Mario Praz in der prächtigen Via Giulia ist eine der großen Herrlichkeiten Roms, voller Empire-Möbel, seit Studentenzeiten gesammelter Kunstwerke, unzähliger Objekte, in präziser Ordnung aufgestellt. Ein lebendiges Museum, ein verzauberter Wald, in dem die Bücher in hellgrauen, mit Goldblatt verzierten Regalen aufgereiht sind, die römische Bronzeköpfe zieren. Diese Bücher sind zufrieden. Sie wollen nicht hinaus. Wenn sie nicht sogar glücklich sind, in diesem Empire-Luxus leben zu dürfen. Mario Praz galt in seinen stets schwarzen Anzügen in Rom als Magier. Man sah ihn noch 1969 in den Bars an der Piazza Navona sitzen, von den Kellnern immer mit Vorsicht bedient, oft auch gar nicht, denn sie hielten ihn für den leibhaftigen Teufel. Sein Hauptwerk über die Schwarze Romantik heißt Liebe, Tod und Teufel (München [Hanser] 1963).
Zur selben Zeit war auch Elias Canetti in Rom und las aus seinem Roman Die Blendung mit abwechselnd donnernder und leiser Stimme. Ich war erstaunt über eine derart euphorische Artistik, war es doch damals in der Gruppe 47 Mode, mit unterkühlter, sachlicher Stimme vorzutragen; Paul Celan ist daran gescheitert.
Arnold Gehlen besaß nur vierhundert Bücher, doch wie ein Besucher kommentierte: »Was für Bücher!« Der charismatische Anführer der Schiiten in Afghanistan, Massoud, durchquerte den Hindukusch mit einem Maulesel, der beladen war mit zweitausend Bänden, in Kisten verpackt. Bei Lagerfeuern wurde die Bibliothek ausgepackt und gelesen. Ein Taliban, der sich als amerikanischer Journalist tarnte, macht Massouds Lesefreuden ein Ende.
Der Verleger Peter Weiß (Karolinger) hat sich in seinem Heimatdorf Kirchbach bei Wien in einer alten Scheune, die er austäfeln ließ, eine Bibliothek größeren Maßstabs angelegt. Rundherum an den Regalen läuft eine hochgelegene Schiene, an der man eine Leiter verschieben kann, um jedes Buch erreichen zu können. Es herrscht Ordnung nach Großbereichen, wie zum Beispiel politische Geschichte, Kulturgeschichte, Geistes- und orientalische Geschichte. Peter Weiß erzählte bei einem Besuch, daß sich in Dorpat in Estland die einzige deutsche Universitätsbibliothek befinde, die sich auf das Gebiet des Zarenreiches konzentriert; bei der Besetzung durch die russische Armee ordnete ein General an, die Bücher nach Größe zu ordnen. Auch um Weiß’ eigene Bibliothek ranken sich bereits Anekdoten: »Wenn Besucher nach Kirchbach kommen und beim Anblick von 20 000 Büchern die dumme Frage stellen: Haben sie die alle gelesen?, antworte ich stereotyp: Ja, und zwar mehrmals. Manchmal füge ich noch hinzu, es befänden sich nicht alle Bücher, die ich gelesen habe, in dieser Bibliothek.«
Bücher, mit denen man befreundet ist, möchten in Sichtnähe untergebracht werden. Häufig wird dadurch die Systematik der Aufstellung gebrochen. Überhaupt kann von einem Buch, das seinen Leser wahrhaftig zu fesseln vermag, etwas Rebellisches ausgehen – als führte die Lektüre in Regionen jenseits der Logik dieser Welt. Chamfort schreibt von einem zum Tode Verurteilten, der auf dem rumpelnden Pferdewagen, der ihn zur Hinrichtung führte, ein Buch las. Kurz bevor er seinen Kopf unter die Klinge der Guillotine legte, knickte er die Spitze der Seite um, als ob er nach seiner Hinrichtung mit dem Lesen fortfahren wollte.
Bei Armin Mohler standen die Bücher hintereinander in drei Reihen. Wie er das Buch fand, welches er brauchte, bleibt sein Geheimnis. Das Incipit des letzten Gedichts der Fleurs du mal (es heißt »Le Voyage«) könnte das Motto dieses Bücherverschlingers gewesen sein: »Pour l’enfant amoureux de cartes et d’estampes / L’univers est égal à son vaste appétit« (Dem Knaben, der an Karten und Stichen Freude hat, scheint das Universum wie sein Verlangen grenzenlos). ◆
Jane Ross
geb. 1941, hat an der Hochschule der Künste in Berlin Kunst studiert; Übersetzerin und Autorin, lebt seit 1988 am Gardasee. In Cato 2/2020 erschien ihr Artikel »Das Haus als Weltort der Seele« über die Meister der romantischen Innenausstattung und des poetischen Wohnens Roberto Peregalli
und Laura Sartori Rimini.