Das Christentum prägt unsere Kultur auch dann noch, wenn es kaum mehr Menschen gibt, die sich zu ihm bekennen. Die Leute sind irreligiös und indifferent geworden, aber ihre Kultur hat christliche Wurzeln
Die massiven Kirchenaustritte in den letzten Jahren sind für die christlichen Kirchen zum existentiellen Problem geworden. Die Gründe sind vielfältig. Viele Deutsche sind glaubensunfähig oder definieren sich selbst als atheistisch. Andere sind schockiert von den Mißbrauchsskandalen. Wieder andere wollen einfach nur die Kirchensteuer sparen.
All das ist seit langem bekannt – und trivial. Interessant ist aber, wie die christlichen Kirchen darauf reagieren. Seit Jahren beobachten wir hier ein Greenwashing: Die Kirchentage unterscheiden sich nur noch in Nuancen von den Parteitagen der Grünen. Und in letzter Zeit ist auch noch ein Wokewashing hinzugekommen, das heißt, die Kirchen verstehen sich zunehmend als Lautsprecher einer Tyrannei der Wehleidigen.
Daß die »Woken« sich mit den Verlierern, mit den Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt identifizieren, könnte man als ein Stück säkularisierten Christentums verstehen: Opfer sein als Quelle der Stärke. Diese Lektion konnte man ja aus Jesu Tod am Kreuz ziehen. Der Sieg ist aus dem Leiden geboren. Und es klingt sehr aktuell, wenn man bei Paulus und Matthäus liest, wie die Marginalisierten in den Mittelpunkt gerückt werden.
Was an solchen Phänomenen deutlich wird, ist, daß es gerade auf der Seite des Protests ein Christentum ohne Christenheit gibt: den geronnenen objektiven Geist des Christentums. Unsere Gesellschaft wird getragen vom Christentum – und auch die Kritiker dieser Gesellschaft können ihr christliches Erbe nicht verleugnen. Das heißt: Nicht nur unsere Kultur ist christlich fundiert, sondern auch unsere Kulturkritik. Schon Nietzsche hat gesehen, daß alles Antichristliche christlich ist. Das Anti- des Protests ist eben antinomistisch, das geronnene Christentum der Gegenkultur – nicht von dieser Welt.
Die christlichen Kirchen haben das Kreuz inflationiert. So hört man von ihren Repräsentanten nur noch selten etwas über das Ärgernis und den Skandal des paulinischen Wortes vom Kreuz, des Polemischen des Christseins, das Kierkegaard so gut herausgearbeitet hat. Er hatte den Mut, das Paradox, das Ärgernis, das Anstößige, ja die Absurdität als »das entscheidende Kriterium des Christlichen« zu betonen. Und deshalb lautet sein vernichtendes Fazit: »Die Christenheit ist der Abfall vom Christentum.« Sie produziert nur noch Geschwätz. So hört man in der Kirche heute sehr viel über die unzähligen kleinen Kreuze wie Welthunger, Energiekrise, Klimakatastrophe usf. Zusammengehalten werden diese kleinen Kreuze durch die Dauerbereitschaft eines »Reden wir miteinander«.
Als Beobachter bekommt man hier leicht den Eindruck, daß das Christentum in der modernen Welt sich selbst nicht mehr für anschlußfähig hält, jedenfalls nicht in seiner kirchlichen Dogmatik. Deshalb ersetzt es den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit. Thomas Mann hat das einmal »Verrat am Kreuz« genannt. Was dann noch bleibt, ist Sentimentalität als letzter Aggregatzustand des christlichen Geistes. Doch sind Zweifel an der Publikumswirksamkeit dieser Strategie angebracht. Wenn die Kirche sich öffnet, gehen nicht die Ungläubigen hinein, sondern Gläubige hinaus. So scheint auch der »Synodale Weg« geradenwegs in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit zu führen.
All das bedeutet aber nicht, daß unsere Gesellschaft ohne Religion funktionieren würde. Im Gegenteil, das religiöse Bedürfnis ist konstant geblieben. Aber es hat sich neue Kulte gesucht. Wir können deshalb sagen: Es gibt keinen Religionsersatz für die Gesellschaft, sondern immer nur Ersatzreligionen.
Bei der Frage nach der Zukunft der Religion geht es für ihrer Geschichte bewußte Europäer konkret um zweitausend Jahre Christentum als Leitkultur, die wir nicht äquivalent ersetzen können. Es geht um die objektive Religion, wie sie sich in den Traditionen und Institutionen der europäischen Kultur manifestiert. Leitkultur ist ein Begriff, der in Politik und Feuilleton einen Proteststurm hervorgerufen hat, denn er gehört in das Begriffsfeld von Tradition, Autorität, Vorurteil und hat deshalb in aufgeklärten Ohren einen bösen Klang. Doch Philosophie und Wissenschaft haben uns in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt, daß die aufgeklärte Aversion gegen Vorurteil, Tradition und Leitkultur selbst einem Vorurteil der Aufklärung entspringt.
Zweitausend Jahre lang haben fast alle intelligenten und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die Frage nach dem christlichen Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch, ob kritisch – gleichviel. Man übertreibt deshalb nur wenig, wenn man sagt, daß jeder ernstzunehmende Gedanke Metaphysik ist – und jede Metaphysik säkularisierte Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang herausreflektieren zu wollen ist geistiger Selbstmord. Die christlich geprägte europäische Kultur ist eine einmalige evolutionäre Errungenschaft, die man natürlich mit anderen Kulturen vergleichen kann und soll, die aber gerade darin sich immer wieder als unvergleichlich erweist.
Das Christentum prägt unsere Kultur auch dann noch, wenn es kaum mehr Menschen gibt, die sich zu ihm bekennen. Die Leute sind irreligiös und indifferent geworden, aber ihre Kultur ist christlich geprägt. Die christlichen Gefühle haben den christlichen Glauben überlebt. Paradox formuliert: Die kulturelle Prägung des Westens durch das Christentum ist so stark, daß man sie nicht mehr wahrnimmt.
Man könnte hier von einer Zustimmung ohne Identifikation sprechen. Und das gilt eben nicht nur für die europäische Rationalität und ihre Technik, sondern auch für die christliche Religion und ihre Säkularisate: die Menschenrechte und die Freiheit des einzelnen. Insofern ist die Geschichte der Moderne der Prozeß der Ausbreitung des Christentums durch Säkularisierung. Nicht der christliche Glaube in seinem dogmatischen Kern, sondern die christliche Optik setzt sich durch. So können wir heute einen Absolutismus der christlichen Werte bei einem rasanten Schwund des christlichen Glaubens beobachten. Die Säkularisierung vollzieht sich als Institutionalisierung der christlichen Werte in der säkularen Welt.
Am deutlichsten wird das am Universalismus der Menschenrechte. Die uns so vertraute Rede von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit und Individualismus ist alles andere als voraussetzungslos. Das sind verweltlichte Begriffe des Christentums. Diese Begriffe bilden den dogmatischen Kern dessen, was man heute Zivilreligion nennt. Gemeint ist damit das Glaubensminimum, das unsere Gesellschaft zusammenhält und das wir zur Geltung bringen müssen, und zwar nicht nur gegenüber den Andersgläubigen, sondern auch gegenüber den Ungläubigen. Heute kann man den Ungläubigen das Glaubensminimum wohl nur schmackhaft machen, wenn man die Öffentlichkeit der Religion auf einen kleinsten gemeinsamen Glaubensnenner bringt. Hans Blumenberg hat einmal von der »Selektion des weltlich Erträglichen aus der Theologie« gesprochen. Eine solche Definition von Zivilreligion müßte sogar für einen Atheisten konsensfähig sein.
»Grundwerte« als Dogma der Zivilreligion
Kritisch betrachtet ist die Zivilreligion eine Schwundstufe eines Christentums, das nicht mehr in seinem Wahrheitsanspruch, sondern nur noch wegen seiner ethisch und politisch stabilisierenden Funktion ernst genommen wird. Im Begriff der Zivilreligion fragt der Staat heute selbst nach den integrierenden Werten der modernen Gesellschaft. Man kennt diese Frage aus den Sonntagspredigten und Weihnachtsansprachen der Politiker. Die Zivilreligion faßt dann die Restbestände der religiösen Institutionen zusammen: die Kirchen, in denen wir getauft werden und heiraten; die Grundgesetze, die ohne göttliche Abkunft leer wären; die Schwüre bei Gott, mit denen Staatsoberhäupter ihr Amt übernehmen. Zivilreligion ist demnach eine Art Metareligion, die als Moral und allgemeine Wertorientierung dienen soll, ja einen Wertekonsens unterstellt, aber dabei das Niveau des eigentlichen religiösen Bewußtseins unterbietet und nur eine allgemeine religiöse Empfindsamkeit bedient.
Die »Grundwerte« sind das Dogma der Zivilreligion. Sie verdecken die Paradoxie, die der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde so klar gesehen hat: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« Und gerade weil der moderne Staat seine eigenen Grundlagen nicht garantieren kann, ist heute so viel von »Verfassungspatriotismus« die Rede. Dieser Begriff suggeriert eine Ersatzidentifikation nach dem Abschied von der Nation – in der ironischen Übersetzung des Staatsrechtlers Josef Isensee: »die Verfassung als Vaterland«. Wenn man aber tiefer lotet, sieht man, daß diese Rhetorik auf eine Substitution der Bibel durch die Verfassung zielt. So soll uns das Grundgesetz nach dem Lutherschen Prinzip »sola scriptura« als absolute Basis unseres Zusammenlebens dienen. Isensee hat deshalb von »Verfassungsreligiosität« gesprochen; das Grundgesetz fungiert dann als säkulare Bibel. Und tatsächlich haben wir die Menschenrechte zur Zivilreligion sakralisiert.
Die religiöse Integration der Gesellschaft ist ja spätestens in den konfessionellen Bürgerkriegen gescheitert, und auch der Nachfolgekandidat, die nationale Integration, scheint im Zeichen der Globalisierung ein überholtes Konzept zu sein. So kann es nicht überraschen, daß man die gesellschaftliche Einheit jetzt in Form einer Wertegemeinschaft sucht, also wieder eine objektive Wertordnung postuliert. Und genau hier fungieren nun die Grundwerte der Verfassung als Ersatzreligion; sie beanspruchen, eine öffentliche Wertorientierung zu bieten.
Die universalistischen Menschenrechte gehören in eine Lehre vom Naturzustand, die den Menschen mit Gleichheit und Freiheit ausstattet. Theologisch betrachtet sind die Menschen in ihrer Geschaffenheit, in ihrer Zugehörigkeit zur Schöpfungsordnung, gleich; jeder ist Ebenbild Gottes und deshalb hat niemand ein Vorrecht. Die Identität des Menschen ist also natürlich und nicht kulturell-normativ bestimmt. Nun impliziert das Naturrecht aber den Wahrheitsanspruch von Rechtsnormen – und davon ist heute nur das Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit und Unverletzlichkeit von Grundrechten übriggeblieben.
Historisch läßt sich das gut erklären. Die Wiederkehr des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine nachträgliche Abwehrreaktion gegen die Drohung des totalen Staates. Obwohl Naturrecht und materiale Wertethik in der wissenschaftlichen Diskussion längst verabschiedet waren, hat sich die Politik die Auffassung von Leo Strauss zu eigen gemacht, für den der Zerfall des Naturrechts bzw. seine moderne Zurückweisung der gerade Weg in den Nihilismus war.
Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes lautet bekanntlich: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Also nicht nur: »soll unantastbar sein«. Das ist eine Beschwörung des christlichen Naturrechts. Mit hoher Absicht wird hier jede Begründung und Erklärung vermieden. Das heißt, die Menschenwürde wird wie ein Tabu geschützt. Ähnlich wie bei den anderen Menschen- und Naturrechten würde man hier vergeblich auf Argumente warten. Rein philosophisch betrachtet handelt es sich also um eine notwendige Fiktion.
Man kann aber sehr gut zeigen, daß die Menschenwürde aus dem Glauben an Christus geboren ist. Georg Simmel hat in seiner Philosophie des Geldes die christliche Absolutwertung des Menschen am besten herausgearbeitet. Diese »Aufgipfelung des Menschenwertes« wird dadurch erreicht, daß die Seele des Menschen nur in Beziehung zu Gott gedacht wird, aber sonst in keiner Relation zu anderen Werten steht. Diese inkommensurable, unschätzbar wertvolle Menschenseele ist gemeint, wenn von Menschenwürde die Rede ist. Das Christentum hat damit das Bedürfnis nach einer Einheit des eigenen Daseins befriedigt und eine Antwort auf die Frage nach seinem letzten Zweck, nach dem »Wozu des Wozu« gegeben: Seelenheil und Gottesreich. Und das war eine Antwort für jedermann, denn in der Religion gibt es keine Konkurrenz oder Rivalität. Das Heil ist nämlich nicht knapp. Deshalb kann jede Seele unendlich wertvoll sein. ◆
NORBERT BOLZ,
geb. 1953 in Ludwigshafen, lehrte Medienwissenschaften an der TU Berlin. 2023 erschien im Langen Müller Verlag sein Buch Der alte weiße Mann. Der einstige Assistent von Jacob Taubes twittert als @NorbertBolz.