Vor 25 Jahren erschien der Essay »Anschwellender Bocksgesang« von Botho Strauß – frühes Anzeichen eines Epochenwechsels, den die lautstarken Gegner dieses Textes nervös registrierten, aber nicht wahrhaben wollten. Ihre heftigen Reaktionen gaben Strauß’ Diagnose recht.
Tilman Spengler machte den Anfang. Eine ganze Seite räumte das Feuilleton der Woche seiner wütenden Polemik ein, die sich nur mit einer Person und einer Sache befaßte: dem Schriftsteller Botho Strauß und dessen Essay »Anschwellender Bocksgesang«. Der war am 8. Februar 1993 im Spiegel erschienen. Es ging bei Spengler gegen die »Maulhure«, den »Säer neuen Unrats«, den »strammen Rechten«, der sich auf die Seite der Brandsätze schleudernden »Täter von Hünxe und Hoyerswerda, Rostock und Mölln« gestellt habe, einer, der »Gegenaufklärung im Geist der alten Werte« treibe. Welche genau damit gemeint waren, ging aus der Suada nicht hervor, aber die Assoziationskette lief auf die Reihung »Konservativer – Reaktionär – Faschist« hinaus.
Als der Text erschien, lag die Veröffentlichung des »Bocksgesangs« gerade zehn Tage zurück. Spenglers Kollegen benötigten noch einige Zeit zur Orientierung. Aber dann nahm die Entwicklung Fahrt auf. Bis zum Herbst des Jahres füllten sich die Spalten der Feuilletons mit immer neuen Stellungnahmen. Flankenschutz für den »Winkelried« (Armin Mohler) war so selten wie Kritik am »Machtmißbrauch« (Martin Walser) der Vierten Gewalt. In den bürgerlichen Blättern stand davon nichts. Die wollten nur das Kalkül des »Tabubruchs« (Hermann Kurzke) sehen oder stellten gar fest, daß es dem Büchner-Preisträger an »Stilsensorium« (Michael Maar) fehle. Das Übliche auf der Linken war Alarmismus. »Notiert euch, Freunde, den Tag. Es war die Spiegel-Ausgabe vom 8. Februar 1993«, schrieb Peter Glotz, und dann noch: »Es wird ernst«. Insofern kam es einer Sensation gleich, als Claus Leggewie für Differenzierung warb und das eigene Lager warnte, den »Fall Strauß« auszunutzen, nur um Selbstgewißheiten zu zementieren und weiter auf »negativen Nationalismus, … pseudohumanistische Sprachregelungen und viel Bigotterie« zu setzen.
Damit war Leggewie sehr weit vom Konsens entfernt, dessen Kernsatz lautete, daß Strauß ein »Wegbereiter« (Ignatz Bubis) alt-neuen Unheils sei. Er sollte ausdrücklich nicht der sein, der er sein wollte: ein Einzelgänger, den seine Lektüre und sein Nachdenken auf die Seite der Konterrevolution führten. Vielmehr hatte ihn schon Spengler als »Rufer« einer bis dahin »stummen Rechten« identifiziert. Der Verdacht war nicht neu. Ein Vorwort von Strauß zu George Steiners Buch Von realer Gegenwart, Elemente seines Theaterstücks Schlußchor, Einzelnes aus Paare Passanten oder Niemand Anderes hatten bereits Verdacht geweckt. Da schlug Gesellschafts- in Kulturkritik um, was als ideologische Unzuverlässigkeit gewertet wurde und den »Anschwellenden Bocksgesang« als Bestätigung einer nur zu berechtigten Sorge erscheinen ließ
Es gibt Anzeichen der inneren Zersetzung,
des Erlöschens von Vitalität
Der merkwürdige Titel bezog sich auf eine Erklärung für den Begriff »Tragödie«, den man im Griechischen von »Bocksgesang« oder »Gesang um den Bockspreis« herleiten könnte, was wiederum mit dem Bezug der Tragödie auf die Kultspiele für den Gott Dionysos und dessen Gefolge aus bocksfüßigen Satyrn zu tun haben mag. Die Fremdheit der Begriffswahl war selbstverständlich gewollt, Teil einer Hermetik, mit der Strauß nicht nur sein elitäres Selbstverständnis markierte, sondern aufmerksame Leser vorbereiten wollte, die Doppeldeutigkeit seiner Aussagen im Blick zu behalten. Schon das Lob des Hier und Jetzt, mit dem er einsetzte, hatte einen verdächtigen Unterton: »Jemand, der vor der freien Gesellschaft, vor dem Großen und Ganzen, Scheu empfindet, nicht weil er sie heimlich verabscheute, sondern im Gegenteil, weil er eine zu große Bewunderung für die ungeheuer komplizierten Abläufe und Passungen, für den grandiosen und empfindlichen Organismus des Miteinander hegt, den nicht der universellste Künstler, nicht der begnadetste Herrscher annähernd erfinden oder dirigieren könnte. Jemand, der beinahe fassungslos vor Respekt mit ansieht, wie die Menschen bei all ihrer Schlechtigkeit au fond so schwerelos aneinander vorbeikommen, und das ist so gut wie: miteinander umgehen können. Der in ihren Geschäften und Bewegungen überall die Balance, die Tanzbereitschaft, das Spiel, die listige Verstellung, die artistische Manier bemerkt – ja, dies Miteinander muß jedem Außenstehenden, wenn er nicht von einer politischen Krankheit befallen ist, weit eher als ein unfaßliches Kunststück erscheinen denn als ein Brodelkessel, als eine ›Hölle der anderen‹ …«. Das Glatte, Gekonnt-Spielerische unserer Existenzform verbirgt aber Unheil. Es gibt Anzeichen der inneren Zersetzung, des Erlöschens von Vitalität, es fehlt an Entschlossenheit zur Selbstbehauptung, an Bereitschaft, die unaufhebbare Tragik der menschlichen Existenz zu begreifen. Dem Beobachter will gelegentlich »scheinen, als hörte er jetzt ein letztes knisterndes Sich-Fügen, als sähe er gerade noch die Letzten, denen die Flucht in ein Heim gelang, vernähme ein leises Einschnappen, wie ein Schloß, ins Gleichgewicht. Danach: nur noch das Reißen von Strängen, gegebenen Händen, Nerven, Kontrakten, Netzen und Träumen«.
Foto: Mark Baranovskiy
Was bei Strauß folgte, war Demontage, Entlarvung der Scheinperfektion, Aufweis des Verfalls und die Umschreibung einer Stellung, die Strauß skandalöserweise als »rechts« bezeichnete. Das geschah in grundsätzlicher Absicht: »Der Rechte – in der Richte: ein Außenseiter.« Fern jeder Parteinahme für Hooligans, aber auch ohne die übliche billige Distanzierung (»Dürfen von uns verwahrloste Kinder zu unseren Feinden werden?«), selbstverständlich nicht gouvernemental oder patriotisch oder konservativ im üblichen Verständnis. Denn Strauß teilte ausdrücklich nicht die Erwartung, die auf den Ernstfall und »einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität« setzte: »Der Leitbild-Wechsel, der längst fällig wäre, wird niemals stattfinden.« Nicht, daß Strauß ihn nicht für wünschenswert gehalten hätte, aber in der westlichen Gesellschaft wurden Kontrollmechanismen etabliert, die eine Kehre praktisch unmöglich machen: »Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig.«
Angesichts dessen bleibt für den Kopf nur der Rückzug, die Existenz als Anarch im Sinne Ernst Jüngers: »Was sich stärken muß, ist das Gesonderte. Das Allgemeine ist mächtig und schwächlich zugleich. Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Blödsinn, gegen den man früher Opposition oder Abkehr zeigte.« Strauß’ »strengere Formen der Abweichung und der Unterbrechung« sind im Grunde nur für den Einzelgänger zu verwirklichen, an »magischen Orten der Absonderung«, »im Garten der Befreundeten, wo noch Überlieferung gedeiht« und sich »ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen« sammelt.
Strauß blieb von Avancen und
Drohungen unbeeindruckt
Daß seine Kritiker solche Sätze übersahen oder beiseite schoben und dem Bekenntnis zum Rückzug nicht trauten, vielmehr im »Anschwellenden Bocksgesang« eine Art metapolitisches Manifest sahen, hatte allerdings einen rationalen Kern. Denn die Hüter der öffentlichen Debatte waren auf einen Vorstoß des Feindes gefaßt und staunten, daß der bis dahin nicht erfolgt war. Seit der »Wende« von 1989 hatten sich die politischen Parameter verschoben. Der Zusammenbruch des Ostblocks, der Untergang der DDR und die Wiedervereinigung erschienen als Niederlage der »Gesamtlinken« (Jan-Philipp Reemtsma). Man mußte mit einer Gegenbewegung rechnen, die eher über kurz als über lang die eigenen Positionen in Frage stellen würde. Das war nicht nur ein Hirngespinst. Tatsächlich gab es eine Reihe von Tendenzen, die darauf hindeuteten, daß etwas in Bewegung kam und die weltanschaulichen Einflußsphären im neuen Deutschland andere sein würden als im alten.
Das Empfinden, in die Defensive gedrängt zu werden, erklärt viel von der Aggressivität, mit der die Linke und das juste milieu auf den »Anschwellenden Bocksgesang« reagierten. Aber es spielte auch die Annahme mit, daß ein so feinnerviger Mensch wie Strauß erschrocken den Rückzug antreten würde, wenn man ihn nur heftig genug attackierte. Das war eine Fehleinschätzung. Im Herbst 1993 ließ Strauß eine erweiterte Fassung seines Textes in dem Jahrbuch Der Pfahl abdrucken, und im Herbst 1994 erschien er noch einmal in dem von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband Die selbstbewußte Nation. Dessen übrigen Beiträgern diente der »Bocksgesang« als Ansatzpunkt eigener Überlegungen. Das Aufsehen, das die Veröffentlichung erregte, war groß. Innerhalb kurzer Zeit wurden drei Auflagen gedruckt. Dieser Erfolg verdankte sich nicht zuletzt auch der Verstörung über den Generalangriff auf die Glaubenssätze der Bundesrepublik: das Bekenntnis zu Antifaschismus, Antiantikommunismus und Antipatriotismus, zur Vergangenheitsbewältigung und zur Verwestlichung als Heilsweg und zu den Errungenschaften von ’68, von denen es hieß, daß erst sie die Neugründung eines zivilisierten Gemeinwesens möglich gemacht hätten. Wie empfindlich die Wächter dieses Credos getroffen waren, ist an dem Briefwechsel abzulesen, den Strauß mit Franz Wille, einem Redakteur der Zeitschrift Theater heute, Ende des Jahres führte. Anfangs ging es Wille noch darum, einen Autor, den man trotz gewisser Irritationen »dazugerechnet« hatte, in die Gemeinschaft der recht und billig Denkenden zurückzuholen. Aber Strauß blieb von Avancen wie Drohungen unbeeindruckt. Tatsächlich konnte man sogar den Eindruck haben, als ob er die Haltung, die er bis dahin eingenommen hatte und immer für verschiedene Deutungsmöglichkeiten offenhielt, räumte, um unmißverständlicher zu werden. So erklärte er ausdrücklich, daß in Deutschland wie in Europa eine »intellektuelle Rechte« von Bedeutung existiere, die man mit allen Mitteln zum Verstummen bringen wolle: »Es darf sie nicht geben, und dies um so weniger, als sie beständig die Verfehlungen, Zerstörungen der Linken beim Namen nennt, was zuvor noch niemand tat. Verlautbarungen, die gleichermaßen antitotalitär wie antilibertär sind, gelten von vornherein für unglaubwürdig, miserabel gedacht und schlecht geschrieben.« Sollte er damit auf die Einsicht seines Adressaten gesetzt haben, wurde diese Hoffnung enttäuscht. Denn Wille wußte sich nicht anders zu helfen, als noch einmal herunterzubeten, was die guten Menschen zu meinen hatten: Er und seinesgleichen besäßen das moralische Prä, weil sie einstmals die »Offenlegung aller verdrängten und verdeckten Kontinuitäten zwischen der Nazi-Diktatur und der Adenauer-Republik« erzwungen und dafür gesorgt hatten, daß »das Selbst-Bewußtsein von deutscher Schuld und deutscher Gefährdung« zum Ausgangspunkt kollektiver Identität gemacht wurde. Wer das in Frage stelle, gehöre – so Willes Kollege Peter von Becker – in den »braunen Sumpf«.
Der Vorgang hatte eine besondere Pointe, da die Korrespondenz von Strauß unter der Voraussetzung geführt worden war, daß sie privat bliebe. Was Wille aber nicht hinderte, das gegebene Wort zu brechen und den Briefwechsel zu veröffentlichen. Man konnte diese Dreistigkeit auch als symptomatisch für eine Haltung betrachten, der zufolge jemand wie Strauß nicht mehr erwarten konnte, nach den Anstandsregeln behandelt zu werden. Da solche Regeln nur dann sicher funktionieren, wenn mit Sanktionen für den Fall des Bruchs zu rechnen ist, war an dem Vorgang abzulesen, wie das Establishment die Kräfteverhältnisse einschätzte. Denn so drohend die intellektuelle Potenz einer »Neuen Rechten« auch ausgemalt wurde und so dramatisch man sich als Opfer der faschistischen Gefahr inszenierte und den Widerstand ausrief – faktisch wußte man sehr genau, wie die Gewichte verteilt waren. Und diese Verteilung sollte fixiert werden.
Das lag in der Logik der Sache. Denn bei öffentlichen Debatten geht es erst in zweiter oder dritter Linie um die Wahrheitsfrage oder die Güte einer Argumentation. Es geht in erster Linie um Meinungsmacht. Meinungsmacht bedeutet in modernen Gesellschaften immer auch politische und finanzielle Macht. Das hat die Linke früher als jede andere Einflußgruppe erkannt, und so hat sie in der Nachkriegszeit ihre Stellung auf diesem Sektor Stück für Stück ausgebaut, bis an die Grenze der Hegemonie. Es gibt fast kein Medium, das sie nicht beherrscht, fast keinen Teil des Kulturbetriebs, den sie nicht kontrolliert, und fast keinen Multiplikator, der nicht auf die eine oder andere Weise von ihr abhängig ist. Der Verlauf der Auseinandersetzung um den »Anschwellenden Bocksgesang« hat diesen Sachverhalt nur ein weiteres Mal bestätigt und gleichzeitig erkennen lassen, daß das, was Strauß an anderer Stelle als »Gegenreformation« bezeichnet hat, aussichtslos bleiben muß. Jedenfalls, wenn daran gedacht ist, die Linke mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Deren Zugriff auf den Überbau hat seine Ursache nicht so sehr in einem Komplott, sondern in der Affinität ihrer Weltanschauung zu den Bedürfnissen einer egalitären und hedonistischen Gesellschaft.
»Botho Strauß und andere beginnen schon
einmal mit den Schwimmübungen«
Sieht man von den Deklamationen ab, dann steckt hinter dem Erfolg der linken Kulturrevolution nichts als die Bereitschaft zur Zerstörung oder zum Verbrauch aller Bestände. Der Wille, sie zu verteidigen, setzt anspruchsvolle Einsichten voraus. Die massenhaft anzunehmen, ist illusionär. Die destruktiven Folgen müssen erst unübersehbar und unbestreitbar werden, bevor an eine grundsätzliche Veränderung zu denken ist, jenen »tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität«, auf den Strauß keine Hoffnung setzen wollte, der aber unsere einzige Hoffnung ist. Womit selbstverständlich nichts gegen den Wert seines Vorstoßes gesagt ist. Zu den wenigen, die das rechtzeitig erkannten, gehörte Rüdiger Safranski, der, von den üblichen Verdächtigungen und Beschimpfungen ungerührt, in der Endphase der Debatte über den »Anschwellenden Bocksgesang« zu einer Feststellung von erstaunlicher Deutlichkeit kam: »Noch sitzen wir auf dem Trockenen, aber für den Fall, daß die Flut – die der kataklystischen Geschichte oder die der neuerlichen Ausgießung eines heiligen Geistes oder beides zusammen –
uns erreicht: Botho Strauß und andere beginnen schon einmal mit den Schwimmübungen.«
Fotos: Mark Baranovskiy
KARLHEINZ WEIßMANN
Karlheinz Weißmann, geb. 1959 in Northeim, ist Gymnasiallehrer (Studienrat) für evangelische Religion und Geschichte sowie Autor zahlreicher Bücher und Essays. Jüngst erschien in der JF-Edition sein neues Buch: Kulturbruch ’68. Die linke Revolte und ihre Folgen, Berlin 2017.