Wer heute in der Bundesrepublik als »umstritten« gekennzeichnet ist, muß mit dem Ausschluß aus sozialen Netzwerken und einem angezündeten Auto rechnen. Schriftsteller, denen dieses »Schicksal« widerfahren ist, haben in der von der Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen publizierten Exil-Reihe einen neuen Heimathafen gefunden.
Foto: Hagen Schnauß
Im April 2021 wurde auf das Buchhaus Loschwitz – in dem sich auch die Wohnung der Familie befindet –
ein Anschlag mit Buttersäure und einem Brandsatz verübt.
Im Frühjahr 2020 erschienen die drei ersten Titel einer neuen Taschenbuchreihe aus der Edition Buchhaus Loschwitz in Dresden: Essaybände von Monika Maron (Krumme Gestalten, vom Wind gebissen) und Jörg Bernig (An der Allerweltsecke) sowie Das Atelier von Uwe Tellkamp, ein Text, der zwischen Erzählung und Essay changiert. Die öffentliche Aufmerksamkeit war überdurchschnittlich; das Wort »Aufsehen« trifft es besser. Inzwischen liegen weitere fünf Staffeln und somit insgesamt achtzehn Bände vor. Optisch fallen die Bücher angenehm ins Auge: Die Einbände sind in satten Farben gehalten, ohne grell zu wirken; auf dem unteren Drittel des Frontdeckels ist der Flachreliefaufdruck EXIL eingeprägt, der Name der Buchreihe.
Die Chefin des Buchhauses Loschwitz, Susanne Dagen, ist Deutschlands bekannteste Buchhändlerin. Zweimal, 2015 und 2016, erhielt sie den von der Bundesregierung gestifteten Deutschen Buchhandlungspreis. Das Wagnis der EXIL-Edition begründet sie so: »Diese versteht sich als Kunst der Zuflucht ebenso wie als Zuflucht der Kunst, die sich einem Klima zunehmender politischer Anfeindung ausgesetzt sieht. So setzt die Reihe auf das Literarische und Künstlerische ihrer Texte, womit sie zugleich Kunst als Zuflucht bietet – nur die ist es, die uns Räume der Freiheit, des Denkens und Träumens öffnen kann.«
Heute gilt Dagen vielen Berufskollegen, Schriftstellern, Journalisten und Kulturfunktionären als »umstritten«. Im Juli 2022 machte das Börsenblatt – Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel sich dieses Verdikt zu eigen und bezog sich ausdrücklich auch auf die Taschenbücher. In der demokratischen und rechtsstaatlichen Bundesrepublik, so das allgemeine Empörungstremolo, könne und dürfe man schließlich fast alles meinen, sagen und künstlerisch ausdrücken, ohne staatliche Verfolgung fürchten und ins Exil flüchten zu müssen.
Spätestens seit Alexis de Tocqueville kann jeder wissen, daß Demokratien über, wie man heute sagt, zivilgesellschaftliche Mittel und Methoden verfügen, um mißliebige Personen auszugrenzen, friedlos zu machen und an ihnen ein soziales Menschenopfer zur Selbstvergewisserung der Rechtgläubigen und zur Systemstabilisierung zu vollziehen.
Der Bannspruch »umstritten« bedeutet: gerade noch tolerabel, doch schon nicht mehr geheuer und hart am Verdachtsfall. Auch die drei Autoren der ersten Staffel gehören zu den »Umstrittenen«: Monika Maron gilt spätestens seit den Romanen Munin oder Chaos im Kopf (2018) und Artur Lanz (2020), in denen sie das Vordringen des Islam und die Unterwerfung unter die politische Korrektheit thematisierte, als problematisch. Der Romancier und Lyriker Jörg Bernig hatte 2016 in seiner Kamenzer Rede anläßlich der Verleihung des Lessing-Preises die Hybris der Grenzöffnung im Jahr zuvor angesprochen, was ihm sogar eine Abmahnung durch das PEN-Präsidium einbrachte. Für Uwe Tellkamp wiederum war die Grenzöffnung 2015 der Anstoß gewesen, sich gegen Merkels selbstherrlichen Dezisionismus zu positionieren.
Dagens Entfremdung vom Kulturbetrieb
ist zum öffentlichen Ereignis geworden
Für Susanne Dagen markierte die Frankfurter Buchmesse 2017 endgültig eine Zäsur. Die Messeleitung hatte sich dem »Kampf gegen rechts« angeschlossen, unternahm demonstrativ einen Rundgang vorbei an den Ständen inkriminierter Aussteller und gab auf der Webseite des Börsenvereins die Standnummern der Verlage Manuscriptum, Antaios und Junge Freiheit bekannt, verbunden mit der Ermunterung: »Wir laden auch Sie dazu ein, die Begegnung mit den Verlagen nicht zu scheuen und für Ihre Meinungen und Werte einzutreten. Meinungsfreiheit heißt auch, Haltung zu zeigen. Engagieren Sie sich!«
Unbekannt gebliebene Täter fühlten sich animiert, Dutzende Bücher des Antaios-Verlags mit Kaffee und Zahnpasta zu beschmutzen, und bei einem nächtlichen Überfall auf den Stand des Manuscriptum-Verlags und der Zeitschrift Tumult wurden nahezu sämtliche Bücher und Hefte sowie das gesamte Werbematerial entwendet.
In einer kurzfristig verfaßten »Charta 2017« sprach Susanne Dagen Klartext: »Wenn ein Branchen-Dachverband wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Buchhandlungen und Verlage vereint, darüber befindet, was als Meinung innerhalb des Gesinnungskorridors akzeptiert wird und was nicht, wenn gar zu ›aktiver Auseinandersetzung‹ mit mißliebigen Verlagen unter Nennung ihrer Standnummer aufgerufen wird und diese dann im ›Kampf gegen rechts‹ beschädigt und ausgeräumt werden – dann ist unsere Gesellschaft nicht mehr weit von einer Gesinnungsdiktatur entfernt.« Zu den Erstunterzeichnern gehörten auch Jörg Bernig und Uwe Tellkamp.
Die Überschrift war der Charta 77 entliehen, in der tschechoslowakische Bürgerrechtler 1977 unter Berufung auf die Helsinki-Schlußakte und die UN-Charta die Einhaltung der Bürgerrechte in ihrem Land gefordert hatten. Den Bürgerrechtlern ging es – wie Susanne Dagen – um Grundsätzliches.
Dagens Entfremdung vom Kulturbetrieb war zu einem öffentlichen Ereignis geworden. Die offiziösen Reaktionen finden sich gebündelt in einem Gegenaufruf, den Dresdner »Tätige im Literatur- und Kulturbereich« – darunter Marcel Beyer, Durs Grünbein und Ingo Schulze – im Dezember 2017 veröffentlichten. Die Anspielung auf die Charta 77 wiesen sie als anmaßend zurück. Die zentrale Aussage lautete: »Die Freiheit, sich zu äußern, begründet kein Recht, sich unwidersprochen zu äußern. Denn ebenso gilt diese Freiheit für jene, die widersprechen. Abzulehnen ist gleichwohl Gewalt als Mittel des Meinungsstreits.«
Der Aufruf ist eine Aneinanderreihung Freudscher Versprecher, die den Opportunismus ihrer Unterzeichner bloßlegen. Die Intervention der Messeleitung war natürlich keine Widerrede, sondern eine Feindmarkierung. Aufgrund einschlägiger Erfahrungen war vorhersehbar, daß sie als Einladung zur Gewalt verstanden würde. Gewalt aber ist kein bloß abzulehnendes, es ist überhaupt kein Mittel des Meinungsstreits – sie ist dessen Ende. Verräterisch ist das Adverb »gleichwohl«, das eine vorausgegangene Aussage abschwächen und einen Gegensatz betonen soll. Aus dem Text ist nicht ersichtlich, worauf es sich bezieht. Bei dem Versuch, die Leerstelle eigenständig auszufüllen, bleibt man auf die Vermutung verwiesen, daß die Unterzeichner die Anschläge – die nicht einmal erwähnt wurden – zwar nicht für fein, aber für irgendwie verständlich oder unvermeidlich hielten. Anläßlich der Buchmesse 2021 durfte sich eine Journalistin im Deutschlandfunk offen und unwidersprochen Gedanken darüber machen, wie auf der Messe mit »Rechten« zu verfahren sei: »Wie mache ich zum Beispiel deutlich, daß sie zwar hier sind, aber für sie kein Platz ist, wie mache ich es ungemütlich?«
In diesem Kontext kommt dem Attribut »umstritten« eine alternative Bedeutung zu: integer, der Vernunft und dem Anstand verpflichtet. Es ist eine Integrität in Bedrängnis, die, um sich nicht sinnlos an einer Übermacht aufzureiben, exilieren, sich in eine neue Form der inneren Emigration begeben muß. EXIL bedeutet weder Flucht noch Rückzug, sondern Freiraum für Produktivität jenseits des etablierten Kulturbetriebs.
Die achtzehn bisher erschienenen Bände enthalten keine Samisdat-Literatur und keine politischen Pamphlete. Die Autoren passen in kein Rechts-Links-Schema. Einig sind sie sich allerdings darin, daß sich das Selbstbild der Bundesrepublik als liberal, rechtsstaatlich, demokratisch und meinungsfrei heute zur Wirklichkeit so verhält wie das strahlend schöne Jugendporträt des Dorian Gray zum verlebten und verrunzelten Gesicht des entleibten Helden am Schluß des Romans von Oscar Wilde.
Folglich sind die üblichen Begriffe zur Lagebeschreibung nur noch eingeschränkt tauglich. Der Essayband von Monika Maron wird denn auch mit einem Aufsatz zu Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief eingeleitet, in dem der Schriftsteller den Bedeutungsverlust der Worte und seine eigene Sprachkrise reflektierte. Der Liedermacher und Bürgerrechtler Stephan Krawczyk (Tau. Betrachtungen) schlägt in seinen Notaten eine ähnliche Tonlage an: »Als DDR-erfahrener Mensch bin ich es gewohnt, bevormundet zu werden, und gleichzeitig bin ich es gewohnt, die Bevormundung zu unterlaufen, ein Geschick, das man heute gut gebrauchen kann.« Der einstige Weltverbesserer ist Realist geworden: »Der Rebell in mir muß lernen, bis zu welchem Grad die Welt gestaltbar ist und ab welchem sie sich nicht mehr reinreden läßt.«
Die üblichen Begriffe zur Lagebeschreibung
sind nur noch eingeschränkt tauglich
Wo unmittelbar Zeitkritik geübt wird, stößt sie vom Besonderen zum Allgemeinen vor, zornig und polemisch bei Konrad Adam (Gräben. Was zur Einheit fehlt), philosophisch-distanziert bei Frank Böckelmann, dessen luzide Editorials aus der Vierteljahresschrift Tumult der Band Erkenne die Lage! Expeditionen ins Verdrängte versammelt.
Uwe Tellkamp unternimmt eine Exkursion in die Malerszene Leipzigs und Dresdens in einer Sprache, die die Wortkaskaden Thomas Bernhards mit der expressionistischen Ekstase von Hesses Klingsors letzter Sommer verbindet. Sie führt ihn auch zu Ernst Barlach, dem großen Einsamen im Dritten Reich. Jörg Bernig hat auf seinen Reisen auf den südlichen Balkan, nach Schlesien und Böhmen die Unterschiede in der Wahrnehmung registriert: Die auf horizontaler Zeitebene synchronisierte »Wunschwirklichkeit« des Westens trifft auf die »vertikaler gearbeiteten Wirklichkeitsvorstellungen« im Osten.
Der Schriftsteller Thor Kunkel (Der Weg der Maschine) sieht durch das kybernetische Zusammenspiel von »politikmachenden Tech-Giganten und Bio-Konzernen« »eine hybride Staatstechnologie aus Konzern-Sozialismus und globalem Kapitalismus« heraufziehen. Seine Kollegin Eva Rex (Rettet den gesunden Menschenverstand!) arbeitet anhand von Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse Punkt für Punkt heraus, wie die »neue Realität« des Corona-Zeitalters neototalitäre Formen annimmt. Die sächsische Ex-Grüne Antje Hermenau (Das große Egal) meint, »daß Deutschland als historisch und demographisch erschöpfte Gesellschaft im alltäglichen Biedermeier« durch Corona »auf sich selbst zurückgeworfen ist« und erkennen muß, wie wenig »Substanz im deutschen Alltagsleben« noch vorhanden ist.
Von der Publizistin Cora Stephan (Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost) sind Texte aus der Umbruchzeit der Ex‑DDR versammelt: »Wo vormals Volkseigentum herrschte, ist jetzt – nichts. Im rechtsfreien Raum lösen sich scheinbar fest gefügte Dinge wie Häuser, Wohnraum, Grundstücke auf.« Die Bodenlosigkeit, in der die DDR-Bürger sich wiederfanden, gilt im übertragenen Sinne auch für die Westdeutschen, weil deren »›Identität‹ […] auf der Existenz der DDR mitberuhte«. Der Publizist und Historiker Eberhard Straub (Europa. Ein ungesicherter Begriff) behauptet ketzerisch, die EU müsse überhaupt erst einmal »europäisch werden«, und die Juristin Angela Wierig sieht »Pawlowsche Idioten« am Werk.
Die Texte des vormaligen Starautors des Spiegel Matthias Matussek (Außenseiter) handeln von »Rebellen, Heiligen und Künstlern auf der Kippe«, die des 2018 verstorbenen Ulrich Schacht (Im Schnee treiben) von seinem »poetischen Weltverständnis«. Thomas Naumann, der jüngste Sohn des Dramatikers Friedrich Wolf, arbeitet aus dem Werk seines Vaters und Bertolt Brechts den politischen Messianismus heraus, den man 1989 fälschlich für erledigt hielt. Der Regisseur Tobias Becker prognostiziert mit Bezug auf Ernst Jünger »Die Rückkehr des Schmerzes«, und der Schriftsteller Rolf Stolz stellt in Die Schärfe des Lachens als den aufmerksamsten Beobachter des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert Wilhelm Busch vor, dessen Spießerkarikaturen unübertroffen auch das falsche Bürgertum der Bundesrepublik charakterisieren. Heiter-grotesk kommt Bernd Wagner in Mao und die 72 Affen daher: Nicht Mao, sondern sein Double ist gestorben, während der wahre Mao in die Unsterblichkeit entrückt wurde und nun auf magische Weise seine weltpolitischen Puppen tanzen läßt. Vor über dreißig Jahren brachte er das Sowjetreich zum Einsturz, heute schickt er den »Genossen [Bill] Gates« in den »Kampf gegen die Pandämonie«.
Einer der Chartisten von 1977, der Schriftsteller Pavel Kohout, hat die Vorgänge in seinem Roman Wo der Hund begraben liegt aus abgeklärter Distanz geschildert: Václav Havel wurde verhaftet, der Philosoph Jan Patočka erlitt während eines Polizeiverhörs einen tödlichen Herzinfarkt. Anderen Unterzeichnern wurden die Führerscheine, Autozulassungen, Personalausweise, die Kranken- und Rentenversicherung entzogen, ihre Privattelefone wurden »aus Gründen öffentlichen Interesses« abgeschaltet. Kohout wurde aus seiner Wohnung am Hradschin exmittiert.
Wer heute in der Bundesrepublik als »umstritten« gekennzeichnet ist, hat mit Kontokündigungen, dem Ausschluß aus sozialen Netzwerken und einem angezündeten Auto zu rechnen. Monika Maron wurde nach Erscheinen des EXIL-Bandes vom Fischer-Verlag der Stuhl vor die Tür gesetzt. Dank ihrer Prominenz fand sie umgehend Ersatz. Andere haben es schwerer. Thor Kunkel kennt »die nagende Furcht, bald wieder ohne Verlag, ohne Arbeit auf der Straße zu stehen« und die Sorge um »den letzten Fünfer im Portemonnaie«.
Im April 2021 wurde auf das Buchhaus Loschwitz – in dem sich auch die Wohnung der Familie befindet – ein Anschlag mit Buttersäure und einem Brandsatz verübt. Aus der sonst bekenntnisfreudigen Dresdner Kulturszene war danach »wenig lauter Protest« vernehmbar, wie die Sächsische Zeitung konstatierte. Zumindest der Börsenverein wurde deutlich: »Es ist offensichtlich, daß die Attacke auf die Buchhandlung von Susanne Dagen ein Klima der Angst und Einschüchterung erzeugen soll und Frau Dagen auch persönlich treffen sollte.«
Der Anschlag löste eine große Spendenbereitschaft aus. »Materiell haben wir davon absurderweise nur Vorteile gehabt«, teilt Susanne Dagen mit. Auch die Negativberichterstattung führe zu gegenläufigen Reaktionen, ablesbar an den Bestellungen. Und die psychischen Folgen? Angst habe sie nicht, erklärt sie auf Nachfrage, obwohl die Bedrohungslage weiterhin präsent sei. Es gehe darum, nicht paranoid zu werden. Deshalb agiere das Buchhaus in allem bewußt öffentlich.
Der Landesregierung bot sich die Gelegenheit, ein öffentliches Bekenntnis zur Meinungs- und Publikationsfreiheit abzulegen und das Buchhaus Loschwitz auf die Liste der zwanzig sächsischen Verlage zu setzen, die im Herbst 2022 den mit je 10 000 Euro dotierten Sächsischen Verlagspreis erhielten. Sie hat diese Gelegenheit verstreichen lassen – was die Berechtigung der Buchreihe nur bestätigt: Exil! ◆
THORSTEN HINZ,
geb. 1962 in Barth, ist freier Autor und Journalist. In Cato 5/2022 schrieb er unter dem Titel »Revolution à la carte« über die Revolution der jüngsten Zeit und rezensierte Der Aufbau-Verlag und die kriminelle Vereinigung in der SED und der Treuhandanstalt von Bernd F. Lunkewitz.