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FRAGWÜRDIGE INTERNATIONALE GERICHTSHÖFE

30. Januar 2025 von ALEX BAUR

Der Begriff »Menschenrechte« hat für viele Lateinamerikaner längst einen schalen Beigeschmack. Der inflationäre Gebrauch und Mißbrauch hat ein edles Anliegen in sein Gegenteil pervertiert

Im gleichen Maß wie Raubüberfälle, Mord und Schutzgeld­erpressungen allenthalben in Südamerika explosionsartig zugenommen haben, erodiert die Akzeptanz des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (CIDH) im costa­rica­ni­schen San José wie die Gletscher in den Anden. Kriminelle werden geschützt, so ist oft zu hören, doch was ist mit den Menschenrechten ihrer Opfer? Der salvadorianische Präsident ­Nayib ­Bukele, der Zehntausende Pandilleros wie Tiere in Käfige gesperrt und auf Brot-und-Wasser-Diät gesetzt hat, genießt auf dem ganzen Subkontinent eine Zustimmung von über achtzig Prozent. Besser mal ein Unschuldiger im Knast, so die Devise, als unschuldige Tote auf der Straße.
Es ist nicht nur die Verzweiflung, welche den heiligen Begriff »Menschenrecht« zum Schimpfwort pervertiert hat. Zu einem guten Teil haben es sich die Richter in San José selbst zuzuschreiben. Ähnlich wie ihre Kollegen in Straßburg haben sie die Definition der Menschenrechte ständig ausgeweitet. Auf dem einen Auge blind, haben sie den Fokus auf rechte Regierungen gerichtet, während deren Gegner, in aller Regel linke Aktivisten oder Guerillas, stets mit Milde oder gar Abfindungen rechnen konnten. Viele weisen die Urteile aus San José als koloniale Einmischung in die nationale Souveränität zurück.
So setzte der CIDH etwa alle Hebel in Bewegung, um die vorzeitige Haftentlassung des greisen und todkranken peruanischen Ex-Präsidenten ­Alberto ­Fujimori zu verhindern. Peru, wo die Anweisungen aus San José bis dahin sklavisch umgesetzt wurden, ignorierte den Gerichtshof. Wäre der inzwischen mit allen Ehren beigesetzte ­Fujimori im Gefängnis gestorben, wäre mit heftigen Unruhen zu rechnen gewesen. Zehntausende Peruaner standen stundenlang Schlange, um dem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der anfangs der neunziger Jahre mit eiserner Faust einen seit zwölf Jahren schwelenden Guerillakrieg beendete. Weil die Ordnungskräfte unter ­Fujimori (wie auch schon vor seiner Zeit) im Kampf gegen den Terror auch auf Gegenterror setzten, wurde er zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt. Doch die meisten Peruaner zogen das Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.
Das höchste Gut eines jeden Gerichtes ist seine Akzeptanz. Urteile können wohl mit Gewalt durchgesetzt werden, doch sie verfehlen ihren Zweck, wenn sie nicht überzeugen. In einem demokratischen Rechtsstaat sind Richter Diener des Volkes. Sie haben primär dafür zu sorgen, daß sich jeder Rechtsunterworfene auf ein sachgerechtes Urteil innert nützlicher Frist verlassen kann, der Wille des Gesetzgebers ist die Richtschnur. Man nennt das Rechtssicherheit. Das übergeordnete Ziel ist der Rechtsfrieden: Der Staat beansprucht das Monopol auf Ausgleich und Sühne, um Streitigkeiten etwelcher Art gütlich und endgültig beizulegen. Mehr darf man von der Justiz nicht erwarten. Und selbst das funktioniert auf Dauer nur, wenn die Rechtsprechung allgemein als gerecht empfunden und respektiert wird. Von diesem Anspruch ist der CIDH um Welten entfernt.
So wie der Straßburger Gerichtshof eine Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges war, sollte der 1979 gegründete CIDH Lateinamerika von dem notorischen Übel der oft brutalen Diktaturen befreien. In beiden Modellen einigte man sich auf einen Katalog von Grundrechten, welche durch eine einheitliche Anwendung auf dem ganzen Kontinent gefestigt werden sollten. Was in der Theorie einleuchtet, überzeugt in der Praxis weniger. Während sich die Diktatoren und Autokraten, die es leider – von Bolivien über Venezuela und Nicaragua bis nach Kuba – weiterhin gibt, über die Verdikte aus San José hinwegsetzen, werden diese in Demokratien für politische Prozesse instrumentalisiert.

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Das Kernproblem der beiden Menschenrechtsgerichtshöfe ist dasselbe: Die historisch gewachsenen nationalen Rechtskulturen lassen sich oft nicht unter einen Hut bringen. Und das macht auch keinen Sinn. In Amsterdam mag die Schwulen-Ehe ein Menschenrecht sein, im tiefen Anatolien wäre sie eine unnötige Provokation. Streik- oder Arbeiterrechte haben in Spanien eine ganz andere Bedeutung als in der Schweiz. Im laizistischen Frankreich wäre ein Kruzifix im Schulzimmer undenkbar, in Kalabrien gehört es zum Inventar. Strafen haben in Rußland eine andere Bedeutung als in Norwegen. Das Recht auf Asyl hat, je nach Bevölkerungsstruktur, nicht überall denselben Stellenwert.
Nicht anders ist es in Lateinamerika. Zwischen Feuerland und Mexiko, Guatemala und Chile, Paraguay und Venezuela liegen Welten. Der Anwalt der ersten Stunde mag in dem einen System ein Segen für einen Angeschuldigten sein, im anderen wird er ihm mehr schaden als nützen. Wenn die eigenen Richter nicht in der Lage sind, die Gesetze vernünftig (will heißen den lokalen Möglichkeiten und Gegebenheiten entsprechend) umzusetzen, sind es fremde Richter erst recht nicht. Die Juristerei ist, sofern man sie überhaupt als Wissenschaft bezeichnen mag, sicher keine exakte.
Anhänger internationaler Gerichtshöfe argumentieren, daß die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft globale Regeln und Strukturen erfordere. Freihandel und Menschenrechte wären demnach untrennbar miteinander verknüpft. Doch sie ignorieren dabei den Unterschied zwischen internen und externen Konflikten. Tatsächlich ist es sinnvoll, wenn internationale Beziehungen standardisiert und einer supranationalen Gerichtsbarkeit oder einer neutralen Schlichtungsstelle unterstellt werden. Bei Freihandelsverträgen ist das in der Regel auch der Fall. Doch die Gerichtshöfe für Menschenrechte in Straßburg und San José befassen sich fast ausschließlich mit internen Angelegenheiten souveräner Staaten, die intern gelöst werden müssen.
Hinter den internationalen Gerichtshöfen für Menschenrechte versteckt sich das marxistische Ideal einer Weltregierung, die unter der Leitung einer sich selbst konstituierenden intellektuellen Elite nach wissenschaftlichen Kriterien das Schicksal der Menschheit lenkt. Einen Vorgeschmack auf das, was dabei herauskommt, haben wir im Zuge der Corona-Krise erfahren, als sich die meisten Regierungen weltweit dem Kommando der WHO unterwarfen. In die gleiche Richtung laufen die Bestrebungen, die Energieversorgung im Rahmen der UN-Klimakonferenzen in ein globales Korsett zu zwängen. In jüngerer Zeit wurden diese Tendenzen vor allem von Kritikern als »Globalismus« bezeichnet.
Vor drei Jahrzehnten, als der Begriff geprägt wurde, betrachtete man den »Globalismus« gleichsam als logische Konsequenz der »Globalisierung«, welche damals in aller Munde war. Tatsächlich handelt es sich um zwei entgegengesetzte Denkschulen. Das konservative Modell will den Weltfrieden durch den freiwilligen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen souveränen Nationen und den freien Wettbewerb der Systeme sichern. Das progressive Modell strebt die sukzessive Auflösung des Nationalstaates und der Volksgemeinschaften unter der Schirmherrschaft supranationaler Gremien an. Beide haben ihre Argumente. Doch man sollte sich nicht der Illusion hingeben, daß stets Demokratie und Menschenrechte drin sind, wo Demokratie und Menschenrechte draufsteht. ◆

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ALEX BAUR,

geb. 1961, schrieb Reportagen für NZZ, Stern und Geo, lebt und arbeitet als Korrespondent der Weltwoche in Lima. Seine langjährige Erfahrung als Reporter in Lateinamerika ist auch Gegenstand seines Buches Der Fluch des Guten.

No. 1 | 2025

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Kategorie: Artikel Stichworte: Artikel, Baur

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