Das Thema Heimat ist aktuell. Das haben auch die Etablierten erkannt. Aber was ist Heimat? Es geht eben nicht mehr um Unverbindliches und Nostalgie, sondern um die politische Dimension von »Heimat« und die Frage, welche Gefahr Heimatlosigkeit birgt.
Meine Großmutter hat ihre Heimat praktisch nie verlassen. Den Lebenshorizont begrenzten zwei oder drei Dörfer im Süden Niedersachsens und die nahe gelegene Kreisstadt. Die einzige größere Reise, die sie je unternahm, führte nach Hannover; die einhundert Kilometer Distanz waren nur mit der Eisenbahn zu bewältigen. Sonst legte sie die meisten Wege zu Fuß zurück. Sie wurde in dem einen der Dörfer geboren und heiratete traditionsgemäß in das andere. Sie war eine schmale, kleine Frau und starb mit etwas über siebzig Jahren. Die Schule hatte sie kaum besucht, auch als Erwachsene schrieb sie ungelenk. In jungen Jahren diente sie als Magd, dann führte sie ihrem Mann, dem örtlichen Schneider, den Haushalt, gebar drei Kinder, versorgte das bißchen Landwirtschaft. Wenn ich sie vor mir sehe, dann, wie sie auf dem Hof steht – in der Kittelschürze, das dünne Haar unter dem Netz – und eine Gans rupft, der sie mit einem geschickten Griff ihrer ewig geröteten Hände den Hals umgedreht hatte.
Mein Großvater überlebte sie um mehr als ein Jahrzehnt, ein schweigsamer und strenger Mann. Seinen Bildungshorizont bildeten »Die Glocke«, Der Kleine Katechismus und ein unerschöpflicher Vorrat an Weihnachtsliederstrophen. Er hatte mehr von der Welt gesehen als seine Frau. In zwei Weltkriegen diente er als Soldat, kam in Verdun davon und mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse zurück, das irgendwo achtlos zwischen Wäschestücken lag. Seine Verhältnisse blieben ärmlich, die Familie kam nur mühsam über die Runden. Politik spielte keine Rolle, auch wenn das Dorf ein »rotes Dorf« war, wo die »Kätner« oder »Köter« nicht nur sozialdemokratisch, sondern auch kommunistisch wählten. Im Herbst 1939 berief man ihn wieder ein, aber nur für den Polenfeldzug. Es gibt ein Foto, das ihn zeigt. Da sitzt er mit gleichmütiger Miene auf dem Ende eines Pferdewagens, der ihn zurückbrachte in die Heimat ohne feste Straßen, mit den unschönen Häusern, Ställen und Scheunen, dem Wald, wo er Holzgerechtsame hatte, und dem Teich, in dem die Tieftraurigen ihrem Leben ein Ende setzten. Den Witwer haben wir einige Male mit in die Ferien genommen. Einmal ging es in die Niederlande. Es gefiel ihm nicht besonders. Aber dann sah ich ihn auf der Bank vor dem Friedhof sitzen, ins Gespräch vertieft mit einem Einheimischen. Als wir am Abend zu Tisch saßen, fragte ich ihn, woher er »Holländisch« könne. Mit seltenem Schmunzeln meinte er, seine Muttersprache sei »Plattdeutsch«.
Überraschungen der »einfältigen Natur«
Ich weiß nicht, ob meine Großeltern etwas mit dem Wort »Heimatgefühl« oder »Heimatliebe« hätten anfangen können. Wahrscheinlich nicht. Heimat war für sie etwas Selbstverständliches, das Gewohnte, da, wo die Gräber der Vorfahren lagen. Heimat im Sinn des Raumes, in dem man wohnt, wo man sich auskennt, im Hinblick auf die anderen Menschen, im Hinblick auf die Gegebenheiten, des Bodens, des Klimas, des Grades der Kultivierung, der Abläufe in der Zeit, ob es sich um die Abfolge der Mahlzeiten, die ewige Wiederkehr von Füttern, Misten, Melken, oder den Wechsel von Aussaat und Ernte handelt oder die Abfolge von Geburt, Reife und Tod. Diese Welt hatte schon vor zwei Generationen etwas Altmodisches, Anachronistisches, Überständiges. Es handelte sich um eine Welt, die nicht wesentlich verschieden war von der, in der Menschen seit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht in Mitteleuropa gelebt hatten.
Diese Welt wirkte statisch, sie war ein Phänomen langer Dauer, und ihr Verschwinden hat neben breiter Zustimmung auch Sorge ausgelöst. Eine Sorge, die das Empfinden speiste, daß Technisierung und Industrialisierung eine »Austauschmenschheit« (Friedrich Naumann) entstehen ließen, die bei allem sinnfälligen Fortschritt doch etwas zu verlieren drohte, jenes Empfinden etwa, von dem Schiller in seiner Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96) sagte: »Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohlthut, auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegentheil statt finden), sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird.« Der Passus findet sich in verschiedenen Arbeiten Ernst Rudorffs zitiert. Rudorff, von Hause aus Komponist, erkannte früh das Problematische der »neuen Zeit«. Er rettete alte Bäume vor der Abholzung und legte neue Waldstücke an, erwarb eine Burgruine, um ihren weiteren Verfall zu verhindern, und machte sich bei öffentlichen Stellen für die Bewahrung der »Eigentümlichkeiten« der Landschaft stark. Rudorff gilt als Vater der »Heimatschutzbewegung«, deren Ziel es war, das am Lauf der Dinge zu korrigieren, was zur Entfremdung des Menschen von allem führte, das bis dahin seine Existenz bestimmt hatte.
Ökologische Wiederentdeckung der Heimat
Ähnliche Bestrebungen gab es auch andernrorts. Man könnte die Initiativen des Dänen Nikolai Grundtvig nennen, die auf ganz Skandinavien ausstrahlten, das »Arts and Crafts Movement« und die Vorstöße eines John Hargrave oder Rolf Gardiner in Großbritannien, die Errichtung der Nationalparks in den USA, den Regionalismus in Frankreich. Aber die wichtigsten Impulse resultierten aus der Romantik, was erklärt, warum die Tendenz in Deutschland am stärksten war und seit der Wilhelminischen Zeit auch zu praktischen Vorstößen führte, die sich im Städte-, Straßen- und Brückenbau und nicht zuletzt in der Bildungspolitik niederschlugen. Das Fach »Heimatkunde« wurde Bestandteil der Lehrpläne, gerade weil man davon ausging, daß sich Heimatliebe nicht von selbst verstand, sondern durch die Erziehung gefördert und gerichtet werden müsse. Eine Vorstellung, die übrigens in der DDR geteilt wurde, für deren Schulwesen »die Heimatverbundenheit des gesamten Unterrichts ein bedeutsames Prinzip« sein sollte.
Prinzipiell in Frage gestellt sah sich die positive Wertung des Heimatgefühls als »geistiges Wurzelgefühl« (Eduard Spranger) erst im Namen jener »Emanzipation«, die alle Arten von Bindung zu zerstören trachtete. Ein Vorstoß, der den Kampf gegen die »Spießerideologie« (Hermann Glaser) damit rechtfertigte, daß sie per se verdächtig, völkisch, faschistoid sei. Dem Verdikt fiel nicht nur der »Blut-und-Boden«-Kult der NS-Zeit zum Opfer, sondern auch die harmlose Nostalgie der Heimatliteratur und -filme der fünfziger und sechziger Jahre, das legitime Beharren der Vertriebenen auf einem »Heimatrecht« und jeder Versuch der Deutschen, eine positive Beziehung zu sich selbst zurückzugewinnen, und sei es nur im engen Bereich der ersten Lebenskreise. Das Verdikt war so erfolgreich, daß kaum etwas mehr überraschte als der Widerstand aus den eigenen Reihen, nachdem die Utopie enttäuscht hatte. Da entdeckten Biobauern den Wert des Überschaubaren, »Neue Soziale Bewegungen« schlossen Allianzen mit dem Landvolk im Kampf gegen industrielle Großprojekte, der Kommunistische Bund Westdeutschland diente der Friedensbewegung die Parole »Hier sich wehren, heißt die Heimat ehren!« an, und einige Linke diskutierten ernsthaft das konservative Prinzip, das allein davor schütze, uns in »enterbte, traditionslose Kreaturen« zu verwandeln: »Menschen haben das fundamentale Recht«, hieß es in einem Band mit dem Titel Nicht nur Bäume haben Wurzeln, der im 68er-Verlag Trikont erschien, »›sie selbst zu bleiben‹, ihre Identität und Integrität in der Veränderung zu bewahren. Sie können nicht ständig von vorne beginnen oder nur für die Zukunft leben, ohne psychische Beschädigungen davonzutragen.«
Das größte Aufsehen erregte allerdings das Filmprojekt Heimat (1984) von Edgar Reitz, das auf ungewohnte Art, jedes Moralisieren meidend, in eindrucksvollen Farb- und Schwarzweißbildern die Geschichte eines kleinen (fiktiven) Dorfs im Hunsrück erzählte. Reitz zeichnete keine Idylle, aber die von ihm erzählte Geschichte und die Stärke der Darsteller, die Sorgfalt der Ausstattung und die Mannigfaltigkeit der Dialekte – die damals längst im Schwinden begriffen war – vermittelten das, was man modisch »Authentizität« nannte. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum Heimat nicht nur ein künstlerisches Ereignis war, sondern auch ein Publikumserfolg. Fast ein Drittel aller Haushalte mit Fernsehanschluß folgte den elf Teilen. Armin Mohler sprach vom »Film der schweigenden Mehrheit«. Das war anerkennend gemeint, weil es Reitz gelungen war, das zur Geltung zu bringen, was angesichts der großen Befreiungseuphorie dauernd aus dem Blick verloren wurde: der »vor- oder außerindividuelle Teil unserer Existenz«, das, was den Menschen vielleicht einenge, aber sicherlich halte.
Als der Spiegel in Reaktion auf das TV-Großereignis eine eigene Ausgabe mit dem Titel »Sehnsucht nach Heimat« herausbrachte, sah die Einschätzung nicht viel anders aus, allerdings fehlte ihr die wohlwollende Bewertung. Im Zentrum stand der Appell, daß das Thema Heimat nicht »der politischen Rechten überlassen« werden dürfe. Seither war jede Beschäftigung mit »Heimat« auf diesen Ton gestimmt. Das heißt, dem zähneknirschenden Eingeständnis, daß es im Menschen Bedürfnisse gebe, die weder Fortschritt noch Konsum decken können, auch nicht die Verheißung einer neuen bodenlosen, luftleichten Existenz, folgte stets die Warnung, daß man das Schließen der Deckungslücke nicht anderen, unberufenen, gefährlichen Kräften erlauben dürfe. Als Sigmar Gabriel im Dezember des vergangenen Jahres – wiederum unter der Überschrift »Sehnsucht nach Heimat« –
im Spiegel schreiben durfte, schien es auf den ersten Blick, als ob auch er nur Altbekanntes repetieren wollte. Aber bei genauerer Lektüre zeigte sich, daß Gabriel etwas von der Verschärfung der Lage verstanden hatte. Den Wahlerfolg der AfD und die stille, aber immer häufiger ganz unverhohlene Wut vieler Bürger erklärte er damit, daß »der Wunsch nach sicherem Grund unter den Füßen, der sich hinter dem Begriff ›Heimat‹« verberge, zu lange als »ein rückwärtsgewandtes und sogar reaktionäres Bild« betrachtet worden sei. Damit war »Heimat« nicht länger nur Thema des Feuilletons, Gegenstand von Akademietagungen oder Herausforderung für das Politmarketing.
Die neue Debatte über Heimat, aber vor allem über Heimatverlust, wird als politische Debatte geführt. Das hat seine Ursache darin, daß die Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise als Katalysator eines Umschlags der gesellschaftlichen Atmosphäre gedient hat, für den es in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands keine Parallele gibt. In einer bis dahin ganz unvorstellbaren Heftigkeit werden ein kollektiver Unmut und ein kollektives Mißtrauen gegen die bestehenden Verhältnisse spürbar, die sich nicht aus der »objektlosen Aufsässigkeit« (Arnold Gehlen) der Intelligenz oder der verwöhnten Jugend speisen, sondern aus dem Empfinden des gemeinen Mannes, daß die politische Klasse ihn verraten habe und daß sich dieser Verrat zuerst in der Art und Weise äußere, wie sie das Land den Fremden – fremden Menschen, fremden Staaten, fremden Mächten – preisgibt.
Auch Kosmopoliten sind nicht ortlos
Wenn das Establishment einen Fehler begangen hat, dann den, die Intensität der Empörung über diesen Verrat zu unterschätzen. Die Ursache liegt in einer spezifischen Blindheit der Eliten, die mittlerweile sogar die akademische Welt registriert. Die Soziologin Cornelia Koppetsch erklärte unlängst, es gehe heute um mehr als einen Verteilungs-, es gehe um einen Kulturkampf, bei dem die Normalbürger gegen die Arrivierten stünden. Letztere begriffen die Sorge ersterer nicht, mehr noch, sie verachteten sie im Grunde ob ihrer Sorge. Der Verunsicherung der einen stehe das Sicherheitsgefühl der anderen gegenüber. Die seien stolz auf ihr digital gestütztes Nomadentum und auf ihre »Heimat der Kosmopoliten«. Die Weltläufigkeit erleichtere, daß die Lebensverhältnisse dieser Klientel sich in allen Großstädten des Globus mehr oder minder gleiche. Die Arroganz, mit der man die eigene Urbanität inszeniere, täusche aber nicht darüber hinweg, daß man keineswegs ganz ortlos sei, sondern sich letztlich eine andere, »eine exklusive Heimat« leiste: »Man bleibt in den schönen Stadtvierteln wegen der hohen Preise unter sich. Man sorgt dafür, daß zumindest in den Schulen der eigenen Kinder der Lernerfolg gut, das Mittagessen gesund und die Pädagogik wertvoll ist. Und mit alldem sendet man jenen, die um ihren Platz in der Gesellschaft fürchten, ein Signal: Hier bei uns, bei den weltoffenen Weltbürgern, finden Leute wie ihr auch keinen Platz. Verloren, Pech gehabt!«
Heimat »organisch konstruieren«
Es ist auch diese Haltung, die den gereizten Ton der gegenwärtigen Auseinandersetzung wie die Hilflosigkeit der Etablierten erklärt. Ganz gleich, ob sie darauf beharren, daß es etwas wie Deutschland gar nicht gebe und jeder Dazugekommene als Geschenk zu verstehen sei, oder ob sie eine »konservative Revolution« zur Rettung tradierter Werte proklamieren, dem Islam die Zugehörigkeit kündigen und Kreuze in den Amtsstuben aufhängen. Es bleibt der Eindruck von Hilflosigkeit, sei sie trotzig oder umtriebig. Auch deshalb darf man von dieser Seite keine Lösung erwarten. Was nicht bedeutet, daß sonst jemand einen Ausweg kennt. Das hat mit der Schwierigkeit der Sache selbst zu tun. Denn gerade wer anerkennt, daß ein Heimatbedürfnis in der Natur des Menschen liegt, weiß auch, daß Heimat nicht natürlich in dem Sinn ist, daß sie sich von selbst ergibt. Die Entlarver aller »Tümelei« haben bis zu dem Punkt recht, daß es sich bei jeder Heimat um ein Konstrukt handelt. Aber das bedeutet gerade nicht, daß es um Beliebiges geht. Wenn Heimat eine Konstruktion ist, dann eine menschengemäße, humane, die Raumbezug und Erleben verknüpft, ein Bereich starker symbolischer Präsenz, der uns Orientierung in der seit je unüberschaubaren Welt ermöglicht. Diese Konstruktion steht anderen, nicht menschengemäßen, inhumanen, gegenüber, die die Menschen nur als Atome oder als Verfügungsmasse betrachten. Mit dieser Feststellung ist noch nichts darüber gesagt, wie die Heimat des modernen Menschen richtig zu gestalten wäre. Ernst Jünger sprach von der Notwendigkeit »organischer Konstruktion« und hat damit eine Aufgabe gestellt, die erst noch in Angriff genommen werden muß. ◆
KARLHEINZ WEISSMANN,
geb. 1959 in Northeim, ist Gymnasiallehrer (Studienrat) für evangelische Religion und Geschichte sowie Autor zahlreicher Bücher und Essays. Kürzlich erschien in der JF-Edition sein neues Buch, Kulturbruch ’68. Die linke Revolte und ihre Folgen.