Töne von Harmonie und Wohlklang sind den Mächten der Finsternis ein Greuel. Ihr Gegengift ist die Kakophonie des Maschinenzeitalters. Damit haben sie im 20. Jahrhundert nahezu mühelos die Konzertsäle der westlichen Welt erobert
Thomas Mann, der in seinem Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde Leverkühns Aufstieg und Fall erzählt, hat bis auf das I‑Tüpfelchen erfaßt, worin der entscheidende Unterschied zwischen Gott und Satan besteht: Gott ist die Liebe und Satan ist der Tod. Wer das anzweifeln sollte, für den hier der Beweis: »Mein Bedingnis war klar und rechtschaffen, bestimmt vom legitimen Eifer der Hölle. Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.« So unmißverständlich diktiert »der Engel des Giftes« – Thomas Mann hat ihm im Doktor Faustus den Namen Sammael gegeben – Leverkühn die Bedingungen für den Teufelspakt, der aus dem Komponisten ein Genie machen wird, wofür der ihm im Gegenzug seine Seele verlobt.
»Leverkühn«, so analysiert der New Yorker Musikkritiker Alex Ross messerscharf, »ist ein intellektuelles Ungeheuer – kalt lieblos, arrogant, spöttisch. Seine Musik absorbiert alle Stile der Vergangenheit und schlägt sie in Scherben. ›Ich habe gefunden, es soll nicht sein‹, sagt er von Beethovens Neunter, deren Schlußchoral ›An die Freude‹ einmal vom menschlichen Streben nach Brüderlichkeit kündete. ›Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.‹« – »The Rest Is Noise«, diesen vielsagenden Titel hat Ross für seine Musikkulturgeschichte des 20. Jahrhunderts gewählt, der sich zweifellos auf William Shakespeares The Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmarke bezieht und auf Hamlets letzte Worte – die allerdings das genaue Gegenteil aussagen, denn der Dänenprinz spricht vom Schweigen: »The rest is silence.«
»Pierre Boulez war wie ein
bei lebendigem Leib gehäuteter Löwe«
Mit Doktor Faustus ist Thomas Mann bekanntlich der Roman einer Epoche gelungen. Der Aufstieg und Fall eines dem Teufel verschriebenen, sündigen Komponisten spiegelt sich im analogen Schicksal des deutschen Volkes, das einen tödlichen Pakt mit Adolf Hitler eingeht. Diese Analogie bringt Alex Ross gewissenhaft auf den Punkt: »Da der Faustus auch ein Buch über die Wurzeln des Nationalsozialismus ist, wird Leverkühns ›blutlose Intellektualität‹ auf geheimnisvolle Weise zum Spiegelbild für Hitlers ›blutigen Barbarismus‹. Der kultartige Fanatismus der modernen Kunst- und Musikwelt ist dabei der Politik des Faschismus nicht unverwandt: Beide versuchen die Welt nach utopischem Modell umzugestalten.«
Offenbar gibt es, angefangen bei Arnold Schoenberg, kaum einen maßgeblichen Komponisten aus dem Geist der Zwölftonmusik und Atonalität, der den 1947 erschienenen Doktor Faustus nicht gelesen hätte, und es drängt sich der Eindruck auf, daß dieser Künstlerroman ein Lichtstrahl ist, der erhellt, was in jenen Tonsetzerhirnen vorging, denen es erstaunlicherweise gelungen ist, mit der Kakophonie des Maschinenzeitalters die Konzertsäle der westlichen Welt zu erobern.
»Ich tendiere eher in Richtung Gewalt als Zärtlichkeit, eher zur Hölle als zum Himmel, eher zum Häßlichen als zum Schönen, eher zum Unreinen als zum Reinen – denn wenn man derartige Dinge tut, dann verändern sie sich, und wir verändern uns mit.« So unverblümt formulierte John Cage, der amerikanische Spezialist für das Klavierzertrümmern, sein »Glaubensbekenntnis«, und der Franzose Pierre Boulez versah seine Kompositionen mit Anmerkungen wie »Gewaltsam und schnell« oder »Sehr brutal und sehr trocken«. »Er war wie ein bei lebendigem Leib gehäuteter Löwe. Er war schrecklich«, erinnert sich Olivier Messiaen an seinen Landsmann Boulez.
Das Schreckliche des 20. Jahrhunderts hat allerdings einen langen Anlauf genommen. Es beginnt bereits mit Franz Liszt und ist am deutlichsten in seiner Bagatelle sans tonalité zu hören. Was musikalisch zwischen 1875 und 1885 geschah, analysiert Alex Ross so: »Dreiklänge, also die grundlegenden Bausteine der westlichen Musik, werden selten, statt dessen wuchern übermäßige Harmonien und nicht aufgelöste Septimakkorde, und überall lauert der teuflische Tritonus. […] Das Gewebe der Harmonie verzerrte sich wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen.«
Die Ästhetik von Dissonanz, Enge,
Unzugänglichkeit und Komplexität
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte in Europa und Amerika »eine Ästhetik der Dissonanz, der Enge, der Unzugänglichkeit und Komplexität«, und Theodor W. Adorno, der bei Alban Berg sein Musikhandwerk gelernt, der auch Thomas Mann bei seinem Faustus beraten hatte, war ihr Prophet. Bis in unsere Zeit hallt sein Ruf als tiefgründiger, postmarxistischer Musiktheoretiker nach. Für Alex Ross hingegen war Adorno »ein wirkungsvoller Geschmackspolitiker, dem jedes Mittel recht war, Musik zu verunglimpfen, die er als rückwärts gerichtet empfand. […] Schon allein der Versuch, in der Gegenwart Tonalität zu bewahren, zeige Symptome einer faschistischen Persönlichkeit. […] Der einzig gangbare Weg war für Adorno derjenige, den Schoenberg Anfang des Jahrhunderts aufgezeigt hatte. Musik sollte mit ihren geweihten Fackeln noch grausigere Abgründe erleuchten, in die sich selbst Schoenberg bisher nicht vorgewagt hatte. Alle vertrauten Klänge, alle Überreste von Konvention mußten ausgetrieben werden.« Adornos maßgebliche Kampfschrift für den Krieg gegen den Wohllaut trägt den Titel Philosophie der neuen Musik. Sie erschien 1949. In ihrer entscheidenden Passage vergleicht er die »neue Musik« bewußt mit dem Opfertod Christi am Kreuz: »Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen.«
Diesem gegen das Wahre, Gute und Schöne gerichteten Diktum ist auch der Ungar György Ligeti gefolgt. Sein Requiem ist, so Ross, »eine 25minütige Attacke auf die Sinne – eine schwarze Messe, bei der die Sänger den Requiemtext flüstern, murmeln, sprechen, schreien und kreischen. Im ›Kyrie‹ erzeugt die mikropolyphonische Überlagerung der einzelnen Stimmen den Klangeffekt eines nichtmenschlichen Heulens, von verlorenen Seelen, die zu einer Höllenbrut verschmelzen. Im abschließenden ›Lacrimosa‹ verlieren die Clusterharmonien ihren diabolischen Aspekt und geben eher eine Ahnung von Sphärenmusik. […] Ob Zufall oder nicht, eine ganz ähnliche Wandlung soll sich in Adrian Leverkühns ›Apocalipsis in figuris‹ vollziehen […].«
Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa ein »Eiserner Vorhang« niederging, widmete sich die US-Regierung bei ihrem Versuch, den freien Westen Deutschlands zu entnazifizieren, mit besonderer Intention der Aufgabe, den Musikgeschmack des deutschen Volkes aus den herkömmlichen klassischen Traditionslinien zu lösen und es für die »neue Musik« zu gewinnen. Denn noch am 12. April 1945 hatten die Berliner Philharmoniker in den Ruinen der Reichshauptstadt ein Konzert gegeben, das Hitler entzückte: Beethovens Violinkonzert, Bruckners »romantische« 4. Sinfonie und die Scheiterhaufenszene aus Wagners Götterdämmerung. Es geht das Gerücht, daß nach Konzertschluß Zyankalikapseln ans Publikum verteilt wurden.
Dennoch, Ross räumt gerade in dem langen Kapitel »Todesfuge«, das er der Musik in Hitlerdeutschland widmet, mit einem Kurzschluß auf, der auch heute noch virulent ist: »Die automatische Gleichsetzung von radikaler Kunst und linker oder liberaler Haltung und umgekehrt von konservativem Stil und reaktionärer Politik ist ein Mythos, der einer verstörend vieldeutigen Welt nicht gerecht wird.«
Doch für die Kriegspsychologen der US-Armee bestand kein Zweifel, daß das Gebräu aus Hitler und Wagner keinen geringen Anteil am totalitären Triumph des Nationalsozialismus gehabt hatte. Außerdem sahen die Amerikaner mit Sorge, daß die siegreiche totalitäre Sowjetunion, die nach dem 8. Mai 1945 sehr bald vom Verbündeten zum neuen Feind geworden war, auch im Kalten Krieg Neoklassizismus und Neoromantik favorisierte.
Deshalb finanzierten die USA über ihren Geheimdienst CIA Zwölfton und Atonales, beispielsweise die 1946 ins Leben gerufenen Darmstädter Ferienkurse, die bald fest in der Hand von Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen waren. In Darmstadt durfte das demokratisch gewordene Deutschland zeigen, wie weit es sich von dem Geist entfernt hatte, der nach 1933 die Musik Schoenbergs als »entartet« brandmarkte. Doch »hinter der hypermodernen Fassade«, so Alex Ross, »lauerten einige durch und durch traditionelle Obsessionen des 20. oder gar 19. Jahrhunderts: der revolutionäre Impuls, der Drang, die bürgerliche Ordnung zu zerstören, das uralte Sehnen nach Erhabenheit und Transzendenz.«
Diesem uralten Sehnen verschrieben sich vor allem die französischsprachigen unter den Komponisten. Sie schienen für religiöse Erweckung besonders empfänglich zu sein. Francis Poulenc und Arthur Honegger gehörten dazu, und naturgemäß auch Olivier Messiaen. Ihm »blieb es vorbehalten, ein religiöses Werk in einer Größenordnung vorzulegen, die seit [Wagners] Parsifal kein Komponist mehr gewagt hatte«, schreibt Alex Ross. »Die fünfstündige sakrale Oper Saint François d’Assise, die er 1975 zu skizzieren begann und 1983 vollendete, war nicht nur ein Historienspiel zu Ehren des bescheidenen Mönchs, sondern gleichzeitig eine Art Livedarstellung des Vorgangs der Heiligung. Parsifal gab einem weihevollen Ritual theatralischen Rahmen; Messiaen versuchte im Gegensatz dazu, das Theater in die Religion einzubeziehen […].«
Der US-Geheimdienst CIA finanzierte
den Zwölfton und das Atonale
»Seit die Kultur vom Kultus abgefallen ist und aus sich selber einen gemacht hat, ist sie denn auch nichts andres mehr als ein Abfall, und alle Welt ist ihrer nach bloßen fünfhundert Jahren so müd und satt, als wenn sie’s, salva venia, mit eisernen Kochkesseln gefressen hätt …« So präzis beschreibt in Thomas Manns Doktor Faustus der Teufel höchstpersönlich den Lauf der Zeit.
Er weiß genau, was er sagt. Thomas Mann weiß es auch. Denn im Kapitel »Die Vision im Steinsaal« überliefert uns sein erster Biograph, Peter de Mendelssohn, daß der lübsche Kaufmannssohn bei einem Rom-Aufenthalt im April 1953 dem Maler Fabius von Gugel und offensichtlich angeregt durch dessen phantastische Illustrationen zum Aschenputtel-Märchen der Brüder Grimm von einer Vision Kunde gab, die »er als junger Mensch einmal gehabt habe«. Was Thomas Mann meinte, war eine Teufelsvision, die ihm im Jahre 1897 im italienischen Palestrina widerfahren war. Was dort genau geschah, fand Jahrzehnte später in extenso Eingang in den Faustus-Roman. Wie oben geschildert, verdankt der Tonsetzer Adrian Leverkühn sein avantgardistisches Schöpfertum einem Teufelspakt. Doch das Genialische hat seinen Preis: Liebe ist ihm verboten. Sein Leben soll kalt sein. Was Thomas Mann, nimmt man seine Homosexualität als libidinösen Maßstab, getreulich befolgt hat.
»Weistu was so schweig«, so läßt Mann jenen zweifelhaften Herrn beginnen, der Adrian Leverkühn in Italien, im »Halblicht«, umgeben von einer eisigen Aura, »eher spillerig von Figur«, »käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze« und mit »der Artikulation eines Schauspielers« ansprach und mit dem Leverkühn schlußendlich handelseinig werden sollte. »Weistu was so schweig«: Exakt daran hat sich auch Thomas Mann lebenslang gehalten.
William Shakespeares Prinzentragödie endet mit himmlischen Chören: »Hamlet: … – der Rest ist Schweigen. Horatio: Da bricht ein edles Herz. – Gute Nacht, mein Fürst! Und Engelscharen singen dich zur Ruh!« (im Original: »And flights of angels sing thee to the rest«). Töne von Harmonie und Wohlklang sind den Mächten der Finsternis ein Greuel. Sie hassen das Wahre, sie hassen das Gute und sie hassen das Schöne. Ihr Gegengift sind Lüge, Bosheit und Mißklang. Höllenlärm versus Himmelsmusik: Sollte das der finale Nenner sein, auf den sich nicht nur die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bringen läßt? ◆
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute ist er Chefredakteur von Cato. In Heft 6/2021 erschien seine Ideologiekritik mit dem Titel »Das Ende der Neuzeit. Und warum es gut ist, daß es soweit ist«.