Wieder (oder immer noch?) ist Deutschland das Land der autoritären Bürokratie, der angstvollen Humorlosigkeit, der gekündigten Freundschaft und des scheelen Blicks. Was kommt nach den sechzehn bleiernen Jahren der Regierung Merkel? – Reisenotizen aus dem Sommer 2021
Seit dreißig Jahren lebe ich nicht mehr in Deutschland. Ich komme aber immer wieder zu Besuch, meist kurz, für zwei bis drei Wochen. Das genügt nicht, um den Entwicklungen des Landes wirklich auf den Grund zu gehen. Doch es sorgt für einen klaren, unvoreingenommenen Blick. Und da ich Deutschland tief im Innern verbunden bleibe, dem Land meiner Geburt, meiner Kindheit und Jugend, sehe ich vieles mit einer Intensität und Schärfe, die nicht selten schmerzt. Warum fällt es mir diesmal so schwer, ein paar Eindrücke zu notieren? Es ist, als wäre das Bild verschwommen, das ganze Land im Unklaren, im Stupor der Stagnation.
Nachtflug von Tel Aviv, Ankunft in Berlin gegen Mittag. Am Abend treffe ich Freunde, alte und neue, Henryk Broder, Vera Lengsfeld, Dirk Maxeiner, Thilo Sarrazin und seine Frau, Roland Tichy und Michal Kornblum, eine überraschend in Lübeck aufgetauchte junge Jüdin, die so mutig ist, den »Zentralrat« anzugreifen, die von der Bundesregierung bezahlte Einrichtung zur Entmündigung der Juden in Deutschland. Ich gebe eine Art Lagebericht zur Situation in Israel. Später, bei Wein und Bier, wird vor allem über Deutschland gesprochen. Mit großer Besorgnis. Als ich nach Mitternacht mit dem Historiker Michael Feldkamp im Taxi durch Berlin fahre, plaudern wir über Rom, wo wir beide ein paar Jahre gelebt haben.
Die deutsche Einheit war 1988 nur
noch ein Wunsch der »kalten Krieger«
Von meinem Hotel in der Friedrichstraße gehe ich zum Reichstag, wo ich eingeladen bin, vor Abgeordneten und Mitarbeitern über die bedrohte Lage der Juden in Deutschland zu sprechen. Der Reichstag galt bis 1989 als dubioser Ort, ein grauer Klotz auf verwilderter Wiese, die Mauern noch immer von den Feuern geschwärzt, in denen das Deutsche Reich untergegangen war. Symbol für den gescheiterten ersten Demokratieversuch, die Weimarer Republik, die Machtergreifung der Nazis, den Reichstagsbrand. Monument der Teilung, der Niederlage. Über Jahrzehnte verhinderte die sowjetische Besatzungsmacht – unter Ausnutzung des Viermächte-Status Berlins – staatliche Veranstaltungen in diesem Haus. Während der achtziger Jahre war ich zweimal im Reichstagsgebäude, auf Konferenzen, veranstaltet von der Gesellschaft für Deutschlandpolitik, einer Gruppe von Politikern, Osteuropa-Experten und Publizisten, die sich die Einheit Deutschlands zum Ziel gesetzt hatte. Wer damals die Einheit Deutschlands forderte, galt als »Anhänger des Kalten Krieges«, als »rechts« und indiskutabel. Ich erinnere mich an die letzte Tagung der Gesellschaft, 1988, ein Jahr vor dem Fall der Mauer. Ein Journalist aus Köln sprach zum Thema »Die östliche Spionage und die Bundesrepublik Deutschland«, er skizzierte Methoden der Unterwanderung durch Staatssicherheit und KGB. In deren Akten hieß die Bundesrepublik familiär »OG«, »Operationsgebiet«. Auch was wir hier im Reichstag besprachen, wurde von den Richtmikrophonen der Staatssicherheit hinter der nahen Mauer mitgehört. Zur Erheiterung des Publikums drehte sich der Referent mitten in seiner Rede zur Wand und rief in Richtung des anderen Spreeufers, hinüber zu den tristen, bombengeschädigten Häusern, die damals dort standen und die mein Auge heute vergebens sucht: »Ich sage das so deutlich, damit Sie es gut hören können, Mitarbeiter der Hauptabteilung römisch Acht, Beobachtung und Ermittlung, Hauptabteilung römisch Drei, Funkaufklärung, oder Hauptabteilung Zwanzig, Kunst, Kultur und Untergrund …« Darüber wurde im Saal gelacht, aber auch verdutzt geschwiegen. Ungewohnt war vor allem die Vorstellung, daß wir, die wir hier saßen, der amerikanische Gesandte Kornblum, der Berater des französischen Präsidenten, Ménudier, osteuropäische Dissidenten und Abgeordnete des Bonner Bundestages, in den Augen der Staatssicherheit allesamt zum »Untergrund« gehörten. In gewisser Weise waren solche Zuordnungen gesamtdeutsch. Westdeutsche Medien, die sich zum »links-liberalen« Spektrum zählten, berichteten über die Konferenz unter strikt negativen Vorzeichen. Allein die Idee, im Reichstag zu tagen!
Flaue Stellungnahme der Regierung
nach dem Gemetzel von Würzburg
Auch heute, drei Jahrzehnte später, wird mein Vortrag im Reichstagsgebäude beanstandet: Ich habe vor Abgeordneten der falschen Partei gesprochen. Wie damals das ganze Gebäude als Symbol des Reaktionären galt, so heute diese Partei und ihre Millionen Wähler. Wie gut, daß ich in Deutschland vieles schon einmal erlebt habe. Als ich nach einem lustigen Abend im Bundestag – es ist der letzte der Legislaturperiode, bis zwei Uhr nachts laufen die Abstimmungen im Plenum, in manchen Räumen feiern die Mitarbeiter Impromptu-Partys – ins Hotel zurückkehre, finde ich bereits die ersten E-Mails vor, in denen ich ernsthaft verwarnt werde. Ein alter Bekannter kündigt mir die Freundschaft: »Es gibt Dinge, über die sich nicht diskutieren läßt. Unser Treffen ist hiermit abgesagt. Mit dennoch allen guten Wünschen …«
Sonst bekomme ich von Cancel Culture nicht allzuviel zu spüren. Es gibt immer noch genug Einladungen. Am Ende sind es zehn Veranstaltungen in zwölf Tagen und einige hundert Menschen, mit denen ich Worte wechsle, denen ich in die Augen sehe, mit denen ich Gläser erklingen lasse. Meine erste Reise seit dem Ausbruch der alles lähmenden »Pandemie«. Wir sind alle ein wenig berauscht, weil Begegnung wieder möglich ist.
Am nächsten Abend, dem 25. Juni, Meldung von einem Gemetzel in Würzburg: Abdirahman J. A., ein kürzlich eingewanderter Muslim aus Somalia, hat in einem Kaufhaus mit einem Schlachtermesser wehrlose Frauen attackiert, drei von ihnen getötet, neun Menschen schwer verletzt, alles innerhalb weniger Minuten, ehe ihn beherzte Mitmenschen überwältigen konnten. Zunächst ist, wie bei muslimischen Attentätern meist, verschwommen von einem »Mann« die Rede, erst am folgenden Tag wird zögerlich die Nationalität enthüllt, nicht ohne präventive Beigaben wie »psychisch gestört« und Warnungen vor unzulässiger Verallgemeinerung. Ungern, nur in bestimmten Medien, werden die »Allahu akbar!«-Rufe erwähnt, die er während der Tat ausgestoßen haben soll. Bundeskanzlerin Merkel, die schon zu den judenfeindlichen Ausschreitungen vor deutschen Synagogen im Mai demonstrativ geschwiegen hat, speist uns auch diesmal mit einer flauen Stellungnahme des Regierungssprechers ab.
Die »Mund-Nasen-Bedeckung« muß
stets vorschriftsmäßig getragen werden
Die nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie erlassenen Einschränkungen sind noch immer lästig und werden deutlich ernster genommen als in Israel. Zweimal drohen mir Mitarbeiter der Deutschen Bahn mit dem Hinauswurf aus dem ICE, weil ich die »Mund-Nasen-Bedeckung« nicht vorschriftsmäßig trage. Mehrmals sprechen mich Polizisten und Passanten darauf an, daß der obere Rand der Maske »deutlich oberhalb der Nase« sitzen müsse. In einem Hotel in Augsburg muß ich morgens einen ganzseitigen Fragebogen ausfüllen, ehe ich den Frühstücksraum betreten darf. Mein Rückflug verzögert sich um 24 Stunden, nachdem ich am Gate des Frankfurter Flughafens erfahre, daß die Lufthansa überraschend auch für Geimpfte einen frischen Corona-Test verlangt (Kosten, je nach Schnelligkeit des Resultats, zwischen 70 und 230 Euro), obwohl ich in Tel Aviv bei der Einreise ohnehin getestet werde – wozu dann noch ein Test bei der Ausreise? Auf dem Hinflug war von dieser Bestimmung keine Rede, versuche ich einzuwenden. Und wenn man schon ständig die Bestimmungen ändert, hätte mir die Fluggesellschaft davon Mitteilung machen können, durch eine einfache Sammelmail an alle Passagiere. Der Lufthansa-Angestellte starrt mich befremdet an. Ich sei verpflichtet, erwidert er, mich unmittelbar vor dem Flug nochmals über die neuesten Bestimmungen zu informieren.
In Bamberg am Sonntag davor herrschte bei schönem Sommerwetter Ferienstimmung. Ein Hauch von Hoffnung wehte über die barocken Plätze. Ohne Maske saßen die Leute in Straßencafés und flanierten durch die Altstadt. Vor allem die Jugend schien die Befreiung aus dem Lockdown zu genießen. Aber schon werden Drohungen verkündet, in den Zeitungen, im Fernsehen, im Internet, die »Maßnahmen« wieder zu verschärfen. Es scheint, als hätten viele Politiker ein wachsendes Interesse daran, den Ausnahmezustand zu verlängern. Ad libitum. Schwer erträglich etwa Karl Lauterbach, der »SPD-Gesundheitsexperte«, medial überpräsent, blaß, leicht fanatisch, mit dem schiefen Lächeln des glücklichen Strebers, der endlich die ersehnte Aufmerksamkeit erlangt.
2021 gibt sich das dysfunktionale
Berlin als Failed State zu erkennen
Das Land wirkt erstarrt. Nicht nur durch Corona. Mehr noch durch die ernüchternde Bilanz von vier Legislaturperioden Angela Merkel. Als ich 2006 nach zehnjähriger Abwesenheit zum erstenmal nach Deutschland flog, schien alles im Aufbruch, die Stimmung war entspannt, sogar Berlin sichtlich aufgeblüht. Fünfzehn Jahre später resümiert ein deutscher Topmanager: »Nach fast 16 Jahren Merkel ist Deutschland […] ein Sanierungsfall: Bürokratie im Faxzeitalter steckengeblieben, Digitalisierungsrückstand, kein schnelles Internet, massive Mängel in der Infrastruktur und marode Schulen sind nur einige Beispiele für Defizite, die für ein führendes Industrieland beschämend sind. […] Der Staat beansprucht die Totalkontrolle über das Impfen und versagt kläglich – wie immer, wenn es um Effizienz und Geschwindigkeit geht. Unnötig viele Menschen sterben wegen der Unfähigkeit unseres überregulierten Behördenapparats. […] Berlin ist heute eine der wohl am schlechtesten regierten Hauptstädte Europas. Das Wegschauen bei Kriminalität, das Zulassen von Hausbesetzungen, die Ausbreitung der Clankriminalität – wo immer man hinschaut: Berlin ist eine dysfunktionale Stadt, ein ›Failed State‹.«
Das Internet funktioniert wirklich auffallend schlecht. In der ersten Klasse des ICE, wo freier Internetzugang zum Service gehört, immer wieder Ausfälle, längere Unterbrechungen, ganze Streckenabschnitte tot. In den Hotels werde ich aufgefordert, eine App des israelischen Gesundheitsministeriums vorzuzeigen, in der meine Impftermine verzeichnet sind. Man will wissen, wann ich zum zweitenmal gegen Corona geimpft wurde. Aber was, wenn das Internet so schwach ist, daß mein mobiles Telefon die als E‑Mail-Anhang zugesandte Bescheinigung nicht laden kann? In einem Fall stehe ich wie dumm eine Viertelstunde in der Hotelhalle und warte, daß die schicksalhafte, Te’udat Hitchasnut (Impfbescheinigung) – auf hebräisch – auf dem Bildschirm erscheint. Endlich taucht sie auf, ich eile zur Rezeption, strecke der Angestellten triumphierend mein Telefon entgegen, sie wirft einen Blick darauf, sieht den zweiten Impftermin, übergibt mir gnädig den Zimmerschlüssel. »Ich mache Sie darauf aufmerksam«, fügt sie hinzu, »daß die Mund-Nasen-Bedeckung im gesamten Hotelbereich getragen werden muß.« – »Auch im Zimmer?«, frage ich. Es soll ein Scherz sein, ein Versuch, die angespannte Situation aufzulockern. – »Nur nicht, wenn Sie dort allein sind«, erwidert sie ohne Lächeln.
Natürlich kann man in diesem Land immer noch gut leben. Dennoch sprechen viele meiner jüdischen Freunde vom Auswandern. Auch nichtjüdische. Ein Bekannter im Berliner Bezirk Wedding, Vater von zwei Kindern, klagt über die katastrophale Situation in den dortigen Schulen. Die deutschen Kinder seien inzwischen in der Minderzahl, und das Mobbing der türkischen und arabischen Mitschüler gelte auch ihnen, nicht mehr nur den Juden. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagt er. »Wie es jetzt aussieht, muß ich die Kinder jeden Tag von der Schule abholen, damit ihnen auf dem Heimweg nichts passiert.« Die jüdischen Kinder legen ihren Schulweg oft unter Polizeischutz zurück oder besuchen bewachte jüdische Schulen.
Vieles erinnert mich, trotz der veränderten, betont »weltoffenen« Kulissen, an meine letzten Jahre in der DDR: Die fast vergessene Art von aggressivem Gehorsam. Der scheele Blick. Die Resignation. Mit der Unterwerfung unter die »Corona-Maßnahmen« scheint die Bereitschaft zur Hinnahme eines allmächtigen Staates zurückgekehrt, eine seltsame Lust am Autoritären, am Funktionieren und Mitlaufen. Meine Freunde, die sich selbst als Minderheit sehen, hoffen auf einen Wechsel im September, nach der Bundestagswahl. Wenn die bleierne Kanzlerin endlich Geschichte sein wird. Allzu hoch gespannt sind die Hoffnungen nicht. Man spricht darüber auch nur in geschlossenen Kreisen. Deutschland 2021, ein Land in Starre. In Erwartung – worauf?
CHAIM NOLL
geb. 1954 als Hans Noll in Berlin, Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, ist Journalist und Schriftsteller. Studium der Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin, 1984 Ausreise nach Westberlin. Noll lebt seit 1995 in Israel und unterrichtet an der Universität in Be’er Scheva.