Das Werk des bedeutenden russischen Filmregisseurs Nikita Michalkow (* 1945) zeichnet sich durch eine erstaunliche Spannweite aus. Sein kinematographisches Werk zeigt den Menschen in all seiner Erbärmlichkeit und Größe
Im September 1991 erregt ein 45jähriger russischer Filmregisseur die Aufmerksamkeit des internationalen Publikums: Nikita Michalkow. Mit Urga gewinnt er den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig, zwei Jahre später folgt eine Oscar-Nominierung als bester internationaler Film. Urga hat die uralte Nachbarschaft der Ostslawen, Mongolen und Chinesen zum Thema, die Perspektiven und Mißverständnisse kultureller Begegnung. Und das Schicksal solcher Begegnung: Eine Kultur verdrängt und frißt die andere, ohne Rücksicht auf Weisheit, Errungenschaften oder Wert. Der Film ist karg gedreht, rauh, man erkennt die eigenwillige Handschrift eines Talents.
Kulturen begegnen sich im Raum, Epochen in der Zeit. Michalkows zentrales Epos Die Sonne, die uns täuscht handelt von Zeitenwechseln und historischen Umbrüchen. 1994 gewinnt er damit den Großen Preis der Jury in Cannes. Die Goldene Palme geht an Quentin Tarantino für Pulp Fiction. Es heißt, der russische Regisseur sei enttäuscht gewesen, doch bei solcher Konkurrenz ist schwer mitzuhalten. Im Jahr darauf gewinnt sein Film den Oscar für die beste fremdsprachige Produktion.
Die korrekte Übersetzung hätte lauten müssen: Die von der Sonne Ermüdeten. Gezeigt wird ein müder Sommertag auf einer Datscha außerhalb Moskaus im Jahre 1935. Der Revolutions- und Volksheld Sergej Kotow, vorzüglich gespielt von Michalkow selbst, verbringt müßige Stunden im Freundeskreis seiner Frau, der jungen Marussia. Auch achtzehn Jahre nach der Revolution folgt das Landleben der alten Elite, der Intelligenzija und des nicht emigrierten Adels wie zuvor bewährter Tradition und Sitte. In einem solchen Arrangement stört nicht einmal ein jovialer roter Offizier und Stalinfreund. Doch die Harmonie ist nur Firnis. Wie ein bösartiges Geschwür wirkt das Neue im Alten, wird es blutig aufbrechen im Terror, der 1935 seinen Ausgang nimmt.
Unerwartet kehrt der junge Mitja, selbst ehemaliger Junker und Weißgardist, der nach dem Bürgerkrieg die Seiten gewechselt hat, aus Europa heim. Dort hat er jahrelang, ursprünglich eingefädelt von Kotow persönlich, in Emigrantenzirkeln herumspioniert. Der deutlich ältere Nebenbuhler Kotow hatte ein Auge auf Mitjas Jugendliebe Marussia geworfen. Inzwischen haben die beiden geheiratet und die kleine Nadia gezeugt (gespielt von Michalkows Tochter). Mitja kommt, um sich zu rächen. Er bringt einen Haftbefehl. Doch Kotow will nicht glauben, daß er, Stalins Frontkamerad, in Ungnade gefallen ist.
Die Scharade eines sonnenbeglänzten Sommertags geht ungerührt von Akt zu Akt. Man spielt, singt, im Samowar kocht das Wasser, auf dem Tisch stehen Blini und rote Marmelade, der nahe Fluß lädt zum Baden und Bootfahren ein – alles im entspannten Stil der untergegangenen Zeit. Selbst die Häscher des NKWD, die den Bürgerkriegshelden abholen, erscheinen als vermeintliche Mitarbeiter der örtlichen Philharmonie in dezentem Zivil. Man serviert ihnen Tee und Gebäck, singt gemeinsam Volkslieder und verabschiedet Kotow wie einen in vorübergehenden Dienstangelegenheiten nach Moskau Abberufenen.
Subkutan zersetzt der totalitäre Terror die Gesellschaft – ein Parasit, der sich alle Lebensfunktionen zu eigen macht. Michalkow schildert die Metamorphose diametral entgegengesetzter Gesellschaftsformen als entartete Kontinuität. Nicht die Revolution macht den Unterschied, sondern die Infamie. Das Illegitime, das Parasitäre, der Rotz – sie benutzen die Schwachen, die Rachsüchtigen, die Betrogenen, die Erniedrigten, die Haßerfüllten. Aus ihnen schmieden sie ihre Instrumente.
Für den Außenstehenden ist die russische Geschichte der letzten 150 Jahre in drei scheinbar beziehungslose Teilstücke zerrissen: die Kaiserzeit bis 1917, die Sowjetunion bis 1991, das republikanische Rußland seitdem. Doch das gilt nur beim ersten Hinsehen. Jenseits der Systeme und Ideologien ist die russische Geschichte von beeindruckender Kontinuität, exemplarisch verkörpert durch Nikita Michalkows eigene Familie. Sein Urgroßvater, Sohn einer Prinzessin Galitzin, war unter dem Zaren Gouverneur von Jaroslawl. Sein Vater, Sergej, hat es zu einem Lenin- und drei Stalinpreisen gebracht. Michalkow selbst ist der staatstragende Filmregisseur der Putin-Ära, Patriot und Slawophiler, Träger zahlloser Orden und Inhaber ebenso zahlloser Ämter.
Rußlands unteilbare Geschichte
Sergej Michalkow, der 2009 verstorbene Vater, war eine Gestalt für sich. Jahrgang 1913, jung noch, als der Stalinismus begann, literarisch hochbegabt und in vielen Genres tätig, hat er sich immer entlang der offiziellen Linie bewegt, jeden Schwenk mit Bravour und Qualität gemeistert. Geschichte gemacht hat er als Texter dreier Nationalhymnen innerhalb einer Zeitspanne von 56 Jahren. Die Musik war immer dieselbe, patriotisches Pathos aus der Feder des Militärkomponisten Alexander Alexandrow (1883–1946): 1944 die sowjetische Hymne (ein Loblied auf Väterchen Stalin), 1977 die Neufassung (ein Loblied auf den Kommunismus) und im Jahr 2000 die russische Hymne (ein Loblied auf das heilige Rußland).
Patriotisch waren die Texte allemal. Niemand kann der Michalkow-Familie vorwerfen, sie habe nicht jederzeit ihrer Heimat gedient. Jedenfalls dem Selbstverständnis nach. Doch der Grat zwischen (ehrenvollem) Dienst und (ehrloser) Unterwerfung ist schmal, und die russische Geschichte (aber nicht nur sie) ist durchzogen von der Sehnsucht nach der Identifikation und Faszination für den starken Mann. Zu Putins 55. Geburtstag widmet Michalkow ihm 2007 die 20minütige Film-Eloge 55. Im selben Jahr richtet er zusammen mit drei anderen Hofkünstlern und im Namen von über 65 000 ungefragten (!) Kulturschaffenden einen offenen Brief an den Präsidenten mit der untertänigsten Bitte, seinen Posten nicht zu räumen, dem Land auch fürderhin als starker Häuptling zu dienen und die Hoffnungen der nachwachsenden Künstler nicht zu enttäuschen.
Zur Erinnerung: Damals stand Rußland vor einem Intermezzo an der Führungsspitze. Putin mußte nach zwei Amtszeiten abtreten. Von 2008 bis 2012 spielte dann Dmitrij Medwedjew (* 1965), inzwischen wieder Ministerpräsident, die Rolle des Staatspräsidenten. Wir wissen nicht, ob Michalkows Brief bestellt war oder nicht. In jedem Fall muß man es Putin anrechnen, daß er mit seinem Abtreten die Verfassung respektiert hat. Der in der Öffentlichkeit auf ihn ausgeübte Druck war erheblich, und die Verfassungsänderung für eine dritte Amtszeit wäre wenig mehr als ein Verwaltungsakt gewesen. Die Parlamentsmehrheit stand Gewehr bei Fuß.
Michalkow erzählt zwischen den Zeilen
Die Sonne, die uns täuscht ist auch ein frühes Manifest der integrativen Geschichtssicht, die inzwischen in Rußland dominiert. Anders als in Deutschland, wo ein immer schärferes Skalpell die Vergangenheit in Gut und Böse zerschneidet, unterstreicht die russische Geschichtserzählung ihre Gesamtheit. Von den Rurikiden bis zur Republik verläuft eine unteilbare Großgeschichte der russischen Welt, die auch die schrecklichen Seiten einschließt, sei es der Terror der Opritschnina im 16., sei es der Stalin-Terror im 20. Jahrhundert. Vor allem geht es darum, die zwei großen Brüche der zurückliegenden hundert Jahre zu heilen: 1917 und 1991. Wo der Westen analysiert und dekonstruiert, setzt man in Rußland auf die Synthese eines nationalen Werdegangs, auf kontinuierliche Identität. Welcher Weg der klügere ist, wird sich erweisen.
Nikita Michalkow ist so etwas wie der kinematographische Arm dieser Art, Geschichte zu erzählen. Die ästhetische Herausforderung ist nicht zu unterschätzen. In Die Sonne, die uns täuscht gelingt die Verzwirnung des Alten und Neuen, eben weil der Terror nur angedeutet, nicht einmal angesprochen wird. Eine blutige Nase, mehr nicht. Daß Kotow in Moskau erschossen wird, daß Marussia nach vier Jahren Haft im Gulag stirbt, daß die Tochter erst zwei Jahrzehnte später, nach Stalins Tod, freikommt, davon erfährt der Zuschauer im Abspann.
Dieses Erzählen zwischen den Zeilen, für das Michalkow zu Recht den Oscar erhielt, verkehrt sich bei seinem nächsten großen Film ins Gegenteil. Der Barbier von Sibirien (1998) ist ein Schlag mit der flachen Hand in die Suppe. Pompös und konstruiert schwankt der im 19. Jahrhundert spielende Historienschinken zwischen Kitsch und mißratener Groteske. Wodkafeste Generäle, ein verrückter amerikanischer Erfinder und seine vorgebliche Tochter, alerte Junker aus der Kadettenanstalt und obendrein Michalkow höchstpersönlich und hoch zu Pferde als Alexander III. mit dem jungen Zarewitsch Nikolaus – das Panorama eines so nie dagewesenen Rußlands zwischen Volksfesten und Adelsbällen.
Der Film floppt. Daheim wirft man ihm vor, ein Rußland nach den Vorstellungen des westlichen Publikums zu kreieren, derweil die ausländische Kritik urteilt: Allzu dick aufgetragen. Es wird der größte finanzielle Mißerfolg der jüngeren russischen Filmgeschichte; nur ein Bruchteil der investierten rund 40 Millionen Dollar wird eingespielt.
Das leise Stück über den aufkommenden Terror und die breitbeinige sibirische Posse – wer käme auf die Idee, daß beide Filme von ein und demselben Regisseur stammen? Es scheint, als hätte Michalkow sich bei dem oscargekrönten Werk von seinem Talent und bei dem sibirischen Barbier von seinem Naturell leiten lassen. Doch die Spannweite, das Ungefüge in einer Person, das zugleich Maßlose und Feinstgeschliffene, hat etwas sehr Russisches an sich.
Ganz anders, und dabei nicht minder russisch, ist Michalkows älterer Bruder, Andrej (* 1937), der sich nach ihrer Mutter Kontschalowski nennt. Er beginnt seine Kinokarriere als Experimentalfilmer und lebt schon vor 1990 zehn Jahre in den USA. Dort wird er durch erfolgreiche Mainstream-Produktionen bekannt (Tango und Cash von 1989 mit Sylvester Stallone). Kontschalowski ist in fünfter Ehe mit einer 36 Jahre jüngeren Schauspielerin und Fernsehköchin verheiratet und dreht nachdenkliche Filme wie Das Irrenhaus (2002), eine hinreißende, bitterböse und tieftraurige Satire vor der Kulisse des Ersten Tschetschenienkriegs.
Beide Brüder verkörpern die Janusköpfigkeit des schöpferischen Rußlands seit dem 19. Jahrhundert: Michalkow, betört vom Glanz der Macht, hingerissen von dichten, trunkenen Emotionen und mit seinem Schnauzbart schon äußerlich ein Russe wie aus dem Bilderbuch – und Kontschalowski, distanziert, liberal-analytisch und vom Wesen her ein »Westler« (mit durchaus sehr »russischen« Ansichten). Beiden eignet ein gestalterisches Talent, eine dramaturgische Sensibilität, die ihresgleichen suchen.
2010 und 2011 baut Michalkow seinen Oscar-Erfolg von 1995 zu einer Trilogie aus: Hinzu kommen Die Sonne, die uns täuscht – Der Exodus und Die Sonne, die uns täuscht – Die Zitadelle. Es werden Mißerfolge, künstlerisch und finanziell. Der Regisseur scheint aus dem Takt gekommen. Der Schauer vor Scheitern, Untergang und Tragik, der 1994 noch lebendig war, ist falscher Siegesgewißheit gewichen. Rußland ist wieder wer. Das schadet der Kunst.
Über den russischen Nationalcharakter
Immerhin, zuvor und als hätte es den schrecklichen Barbier nie gegeben, legt Michalkow 2007 ein meisterliches Kammerstück vor: den Film 12. Es ist eine Neuverfilmung von Sidney Lumets Die zwölf Geschworenen aus dem Jahre 1957. Nur hat in Rußland 2007 kein Puertoricaner aus New York seinen Vater ermordet, sondern ein junger Tschetschene. Das Opfer ist auch nicht der tschetschenische Vater, sondern der russische Stiefvater. Die Geschworenen sind wie im Vorbild sämtlich männlichen Geschlechts, doch ebenso ein Spiegelbild der Gesellschaft. Nur eben der russischen. Michalkow spielt die Hauptrolle: einen ehemaligen Offizier, den die Geschworenen zu ihrem Schriftführer wählen und der als letzter für die Unschuld des Angeklagten stimmt.
Die Diskussion der Geschworenen wird zu einer Deklination des russischen Nationalcharakters in all seinen Facetten. Heiter gestimmt, der Feierabend naht, gehen sie ans Werk. Der Tschetschene hat seinen russischen Stiefvater umgebracht? Lebenslänglich, schuldig. Recht geschieht’s. Paßt schon. Alle haben sie die Beweise gesehen. Ein einziger unter zwölfen, stammelnd, stotternd fast, bringt einen Einwand vor. Empört fallen sie über ihn her. Was soll das? Es ist doch alles klar, da ist kein Zweifel! Aber wenn doch?
Michalkow seziert die russische Seele
Nun, es kommt, wie es kommen muß: Wie im Vorbild von 1957 wechselt ein Geschworener nach dem anderen die Seite, wird zum Zweifler, schließlich zum Gläubigen. Zum Gläubigen an die Unschuld des jungen Tschetschenen. Doch auf dem Weg dahin wird die russische Seele seziert. Ihre abgrundtiefe Gleichgültigkeit, ihre geistige Faulheit, die Krämermoral, die Bereitschaft, sich anzupassen, sich unterzuordnen, sich billig zu verkaufen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Von einem Moment zum anderen verwandelt sich die Schäbigkeit in Heldenmut, die Gleichgültigkeit in heiße Empathie, die Faulheit in Begeisterung, Überzeugungskraft und flammenden Enthusiasmus.
Wie gnadenlos Michalkow seine kollektive Mentalität einer Autopsie unterzieht, sie häutet und filetiert, das hat Fassbinder-Niveau. Da mögen beide Regisseure stilistisch, formal und auch der Intention, Weltanschauung und Zielsetzung nach auf unterschiedlichen Planeten leben. Bei allem Kitsch, den Michalkow verbrochen hat, bei allem patriotischen Überschwang – in seinen besten Regiestunden vereint ihn eine seltene Fähigkeit mit dem deutschen Kollegen: das Nacktmachen der Kreatur. Russischer Mensch, deutscher Mensch, das ist ohne Belang. Ecce homo. Homo sapiens in all seiner Erbärmlichkeit und Größe.
THOMAS FASBENDER
Thomas Fasbender, geb. 1957, aufgewachsen in Hamburg, promoviert in Philosophie, lebte von 1992 bis 2015 in Moskau. 2014 erschien Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens. In Cato 6/2021 porträtierte er Präsident Putin unter dem Titel »Der Mann des Staates.«