Die eigentliche Konfliktlinie verläuft heute zwischen dem Iran einerseits und Israel und den sunnitisch-arabischen Staaten andererseits
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Bildschirm mit den Abstimmungsergebnissen während der Sitzung der UN-Generalversammlung zur Waffenstillstandsresolution inmitten des andauernden Konflikts zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas in New York am 12. Dezember 2023
Zu viel von einer Sache wirkt oft kontraproduktiv. So ist es mit den UN-Resolutionen gegen Israel: Es gibt ihrer einfach zu viele, um sie noch ernst zu nehmen, inzwischen rund 200 Israel betreffende Resolutionen der Vollversammlung und weitere 229 des UN-Sicherheitsrats. »Die Organisationen der UNO verabschieden jedes Jahr mehr Resolutionen, die sich gegen den Kleinstaat Israel richten, als solche gegen alle anderen Staaten der Welt zusammen«, schreibt die Schweizer Politikerin Marianne Binder-Keller. »Im Jahr 2018 beispielsweise waren es 21 von 26. Gut achtzig Prozent aller UN-Verurteilungen wegen Menschenrechtsverletzungen richten sich folglich gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten.«
2022 kam es zu 15 Verurteilungen Israels durch den Sicherheitsrat, während Nordkorea, Iran, Myanmar und Syrien nur je einmal verurteilt wurden. Zudem gab es zwischen 2006 und 2024 weitere 108 Verurteilungen durch den UN-Menschenrechtsrat, aber im gleichen Zeitraum nur 17 gegen Nordkorea und nur 15 gegen den Iran, das Land mit der weltweit höchsten Quote für Hinrichtungen und Folter. Kein noch so blutiges Regime der Welt wird mit solcher Gnadenlosigkeit an den Pranger gestellt wie Israel. Nach den Abstimmungen der UN erscheint Israel als der mit Abstand verwerflichste, unmenschlichste und kriegerischste Staat der Welt.
Lohnt es, alle diese Resolutionen, mehrere hundert insgesamt, alle diese Empfehlungen und Auflagen, diese Verpflichtungen und Ermahnungen genauer zu betrachten? Man findet Muster und Leitmotive, Stoff für mehrere Doktorarbeiten für Juristen, die sich mit den Absurditäten des Völkerrechts beschäftigen wollen. Die Resolutionen sind in sich nicht konsistent, sie spiegeln verschiedenes Völkerrecht und die Wandlungen wider, die das, was sich so nennt, im Lauf der Jahrzehnte erfahren hat. Völkerrecht ist weniger eine Frage der Kodifizierung als der Übereinkunft und daher der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse. Und die Vereinten Nationen waren im November 1947, als sie mit der berühmten Resolution 181 (II) eine Aufteilung des verbliebenen britischen Mandatsgebiets in einen arabischen und einen jüdischen Teil empfahlen und damit den Weg freigaben für die Gründung des Staates Israel, eine vollkommen andere Körperschaft als heute. Damals überwogen – bei nur 51 Mitgliedern – die westlichen oder mit dem Westen kooperierenden Länder, denen nach dem Schock des Holocaust mehrheitlich an der Entstehung eines jüdischen Staates lag.
Inzwischen wird das UN-Abstimmungsverhalten von der heute mächtigsten Staatengruppe diktiert, der Organisation of Islamic Cooperation (OIC), der 56 islamische Staaten angehören und die damit weitgehend die Gruppe der blockfreien Staaten (insgesamt 120) dominiert, die unter den 193 UN‑Mitgliedstaaten immer die Mehrheit bildet, so daß von der islamischen Staatengruppe vorgeschlagene Resolutionen gegen Israel automatisch eine Mehrheit in der Vollversammlung haben. Im UN-Sicherheitsrat kann jede Resolution durch das Veto eines der ständigen Mitglieder zu Fall gebracht werden, daher sind explizite Israel-Verurteilungen durch den Sicherheitsrat seltener als durch die UN-Vollversammlung.
Im Zuge der Gründung der Vereinten Nationen war auch zu entscheiden, wie mit den von der Vorgängerinstitution, dem Völkerbund, vergebenen Mandaten – darunter das britische »Palästina-Mandat« – in Zukunft umzugehen sei, und man beschloß mehrheitlich, die Rechtslage der Mandate beizubehalten, also das, was vom Völkerbund festgelegt worden war, im wesentlichen zu belassen. Das bedeutete, daß »die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk« (»the establishment of a Jewish national home«) und die »dichte Besiedelung durch Juden« (»close settlement by Jews on the land«) im gesamten Mandatsgebiet weiterhin geltendes Völkerrecht blieb. Die Regelung entfiel für diejenigen Teile des Mandatsgebiets, in denen das Völkerbunds-Mandat durch eine neue Staatsgründung erloschen war, also zunächst das 1923 von den Briten eigenmächtig vom Mandat abgetrennte Gebiet des heutigen Jordanien (um ihren Alliierten im Ersten Weltkrieg, Abdallah ibn Husain, zu belohnen), später, 1948, das Gebiet des Staates Israel. Doch im Westjordanland und in Gaza, wo bisher keine Staatsgründung erfolgte, gilt nach wie vor die 1947 von den Vereinten Nationen beschlossene Fortsetzung der Rechtslage des Mandatsgebiets, mit anderen Worten die fortgesetzte Besiedelung dieses Gebietes durch Juden.
Von daher ist die in deutschen Medien und inzwischen auch in deutschen Schulbüchern übliche Behauptung, der Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland verstoße »gegen das Völkerrecht«, grundsätzlich falsch. Andererseits haben die neuen Mehrheitsverhältnisse in der UN durch immer neue Resolutionen, die schrittweise die Festlegungen von 1947 zugunsten der islamischen Staatengruppe verschoben, de facto für eine Art neues Völkerrecht gesorgt, für ein Gewohnheitsrecht, das von der Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten getragen wird. Dabei hat die UN, um ihren Satzungsdokumenten treu zu bleiben, die völkerrechtlichen Regelungen für die Mandate nie widerrufen. Von den israelischen Siedlern wird daher das neue Gewohnheitsrecht nicht anerkannt, sie bauen – wenn auch immer wieder von der eigenen Regierung und durch internationalen Druck behindert – weiterhin neue Siedlungen im Mandatsgebiet Westjordanland, unter Berufung auf das Völkerrecht des Völkerbundes, das 1947 von den Vereinten Nationen als weiterhin gültig anerkannt und nie offiziell widerrufen wurde. Zahlreiche UN-Resolutionen verurteilen den Siedlungsbau, doch ihre Gültigkeit ist durch das hier bestehende Dilemma des Völkerrechts grundsätzlich fragwürdig.
Viele UN-Resolutionen gelten der militärischen Besatzung des Westjordanlands durch israelische Truppen. Diese ist nicht durch Völkerrecht begründbar und daher illegal. Der israelische Staat rechtfertigt seine militärische Präsenz in den »Palästinensergebieten« mit der Sicherung der jüdischen Siedlungen, die nach der UN-Satzung von 1947 im Sinne des Völkerrechts legitim ist. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 wissen wir und weiß die ganze Welt um die Notwendigkeit dieser Vorsorge. Denn schutzlose jüdische Siedlungen würden von Massakern und Plünderungen heimgesucht wie an jenem Oktobermorgen die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza. Die Erfahrung des 7. Oktober hat Israel in der Überzeugung bestärkt, daß die Forderungen der meisten an Israel gerichteten UN-Resolutionen praktisch unausführbar sind, daß ihre Umsetzung in vielen Fällen für Israel existentiell bedrohlich wäre. Hätte der Staat Israel versucht, den ihn betreffenden UN-Resolutionen zu folgen, würde er nicht mehr existieren.
Manches hat sich inzwischen auch einfach erledigt. Allein zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und 1989 erließ der UN-Sicherheitsrat die Rekordmenge von 131 Resolutionen, die sich mit dem »arabisch-israelischen Konflikt« beschäftigen. Doch den »israelisch-arabischen Konflikt« gibt es inzwischen nicht mehr. Die meisten arabischen Staaten halten, offen oder verstohlen, im derzeitigen Krieg zu Israel. Und sie tun es eigentlich schon seit 2009. Die Minderheit der noch gegen Israel kämpfenden Araber, seien es »Palästinenser«, Schiiten im Libanon oder Huthi im Jemen, stehen inzwischen im Sold des persisch-schiitischen Mullahregimes in Teheran, also einer nichtarabischen Macht, die mit den arabischen Staaten der Region verfeindet ist wie mit Israel. Hier verläuft die eigentliche Konfliktlinie unserer Tage: zwischen dem Iran nebst von ihm unterhaltenen Milizen einerseits und Israel und den sunnitisch-arabischen Staaten andererseits.
Somit könnte man diese 131 Resolutionen zu den Akten legen: Sie sind von Interesse für Historiker, aber irrelevant für die gegenwärtige politische Situation. Auch die zahlreichen Resolutionen, die zum Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Westjordanland aufrufen, sind obsolet: Zu einem solchen Abzug kann und wird es so bald nicht kommen, es sei denn, Israel entwickelte plötzlich suizidale Tendenzen. Bisher ist davon nichts zu merken, der Überlebenswille der meisten Israelis ist ungebrochen. Sie verstehen die UN als Instrument der ärmeren, zurückgebliebenen Länder, um Druck auf den reichen Westen auszuüben, unter anderem mit einem ständigen Palästina-Hype, einer von der Organisation for Islamic Cooperation immer wieder neu angefachten Hysterie. Sie funktioniert auch recht gut: Die westlichen Länder zahlen jährlich Milliardensummen an die korrupten Regimes und »Failed States«, die von der UN profitieren. Doch die meisten Israelis denken an der UN vorbei. Sie sehen nicht ein, warum sie diesem Betrieb zuliebe die Existenz ihres Landes riskieren sollen. ◆
CHAIM NOLL,
geb. 1954 als Hans Noll in Berlin, ist Journalist und Schriftsteller. Noll lebt seit 1995 in Israel und unterrichtet an der Universität in Be’er Scheva. Jüngste Publikation: Scharia und Smartphone. Texte zum zeitgenössischen Islam (Hess)