Politische Einmischung aus Europa verunsichert junge Israelis nicht mehr – eine Generation mit gefestigtem Selbstbewußtsein dank militärischer und wirtschaftlicher Erfolge und ihrer Tapferkeit in der Abwehr des militanten Islam
Grafik: Envato/yello_illustration
Seit dem 7. Oktober 2023, also seit fast zwei Jahren, befindet sich Israel im Krieg. Er mußte an mehreren Fronten geführt werden, weil das Land umringt war von Milizen des iranischen Mullah-Regimes, das sich in islamistischem Größenwahn zur Hegemonialmacht des Nahen Ostens aufschwingen wollte. Was nun fürs erste verhindert ist: die Raketen verschossen, das Nuklearprogramm um Jahre zurückgeworfen, die Milizen weitgehend zerschlagen oder in ihren Möglichkeiten reduziert, die meisten der israelischen Geiseln befreit. Seit 1948 gab es für Israel keinen so lang andauernden Krieg. Und entgegen den Darstellungen europäischer Medien ist dieser anhaltende Krieg in der israelischen Bevölkerung populär. Dabei belastet er die allgemeine Atmosphäre, er verändert die soziale Struktur des Landes und das Selbstgefühl der meisten Israelis.
Für viele Europäer ist es eine Selbstverständlichkeit, Israel zu belehren. Vor allem europäische Politiker und Medienleute glauben zu wissen, wie man hier im Nahen Osten einen »dauerhaften Frieden« etablieren und dadurch die Probleme der Region lösen könnte. Die Regierungen der führenden westeuropäischen Staaten haben eine regelrechte Doktrin dafür entwickelt, die sogenannte Zweistaatenlösung, an der sie hartnäckig festhalten – je mehr Milliarden Steuergelder sie in die Fata Morgana »Palästinenserstaat« investiert haben, desto hartnäckiger. So ist dieses Konzept – erstmals 1947 von den Vereinten Nationen vorgeschlagen und seither immer wieder von den »Palästinensern« abgelehnt – zu einer Obsession der Europäer geworden, die sich wenig darum kümmern, ob die beteiligten Völker selbst eine solche Lösung wollen.
Europäische Regierungen treten auf mit der Attitüde historischer Erfahrung, alter Kultur und eines tiefverwurzelten christlichen Humanismus. Obwohl heutige europäische Politiker kaum noch die Bibel kennen, wenig von der Geschichte Europas wissen und ihren Mangel an Kultur schon durch ihre immer ärmer und primitiver werdende Sprache verraten, sind sie dennoch von einem Überlegenheitsgefühl gegenüber Israel und den Israelis erfüllt, dessen ignorante Anmaßung ihnen oft nicht einmal bewußt ist. In Ländern, die – zu ihrem Glück – seit Jahrzehnten an keinem Krieg mehr beteiligt waren, wimmelt es von Experten für Kriegführung und Friedensschlüsse, und in Zeiten des Internets und der weltweit agierenden Medien ergießen sich gute Ratschläge, »freundschaftliche Kritik«, warnende Hinweise, gelegentlich auch Drohungen hundertfach über die Bürger Israels.
Die Mehrheit der Israelis, vor allem der jüngeren, hat dagegen inzwischen eine Art Immunität entwickelt. Traditionell war es vor allem die israelische Linke, die ängstlich jede Unmutsbekundung von seiten des alten Kontinents zur Kenntnis nahm und in den hiesigen Medien diskutierte. Die israelische Linke war lange Zeit aschkenasisch dominiert, ist es eigentlich bis heute, und vielen aus Europa vertriebenen Juden fiel es trotz traumatisierender Erlebnisse und familiärer Verluste in den Ländern der oft Jahrhunderte währenden Diaspora – Deutschland, Polen, Holland, Österreich-Ungarn, Rumänien, Rußland, Ukraine etc. – sichtlich schwer, sich vom alten Aschkenas abzunabeln. Für sie hatte, was aus Europa kam, immer noch große Geltung.
Mit dem Schwinden der israelischen Linken ist jedoch auch die Bedeutung europäischer Vorbilder, überhaupt die Europa-Orientierung Israels, spürbar zurückgegangen. Die unierte Linkspartei HaDemokratim, ein Notbündnis der in der Wählergunst abgestürzten früheren Regierungsparteien Avodah und Meretz, erreicht zukünftig nach optimistischen Schätzungen zehn Sitze im israelischen Parlament, der Knesset, das entspräche etwa acht Prozent der Stimmen. Für die nächste Zeit wird Israel von Mitte-Rechts-Regierungen gelenkt werden. Dazu kommt eine demographische Revolution, in der die israelische Jugend eine immer größere Bedeutung gewinnt, und damit hier Geborene und Aufgewachsene, für die Europa nicht mehr Hort der humanistischen Kultur, sondern irgendein Ausland ist. 55 Prozent aller Israelis sind unter 35 Jahre alt – ein Trend der Verjüngung, der bei Geburtenraten um 3,1 (dagegen Europa: 1,7) anhalten wird. Die israelische Jugend war es, die den Gazakrieg entschied, sich als überraschend patriotisch, kämpferisch und opferbereit erwies. Sie hat authentischen Einblick genommen in die Wahnwelt des Islamismus. Die meisten jungen Israelis halten Europas Politiker bestenfalls für naiv. Netanyahu ist für sie ein alter Mann, der »zuviel aufs Ausland hört«.
Grundsätzlich erfreut sich Europa als eine Art großes Museum, als Freizeitpark für Touristen bei den reiselustigen Israelis noch immer großer Beliebtheit. Unter Israelis gehört es zum guten Ton, daß man in Paris, London, Berlin oder Barcelona gewesen ist, Urlaub auf griechischen Inseln gemacht hat, gelegentlich nach Zypern oder Antalya fliegt. Wobei die Akzente in Bewegung sind. Indem Städte wie Berlin, Paris und Amsterdam – wegen ihres von militanter muslimischer Jugend bestimmten Klimas – zunehmend als unbehaglich gelten, verschiebt sich der Fokus auf als »judenfreundlich« bekannte Orte wie Budapest, Prag oder Länder wie Bulgarien und Georgien. Die israelische Jugend ist ohnehin eher auf Thailand, Indien, Vietnam oder Südamerika orientiert. Durch Indien, wo sich Zehntausende Israelis aufhalten, führt der berühmte »Hummus-Trail«, auf einschlägigen Websites beschrieben als »Kette entspannter Zufluchtsorte, von denen viele israelischen Kolonien ähneln, wo Unternehmer ihre Herbergen und Restaurants auf hebräisch bewerben und israelisches Essen angeblich 80 Prozent der Speisekarten ausmacht«. Ja, man reist inzwischen sogar lieber nach Abu Dhabi als, sagen wir, nach Irland, wo der Antisemitismus offen zutage tritt. So ist Europa inzwischen auch als Reiseziel relativiert, wenngleich immer noch, zumindest in Teilen, sehr beliebt.
Das alles hat ohnehin wenig mit dem politischen Europa zu tun, dem Europa der Europäischen Union, der Regierungen und der Medien, dem Europa der Ermahnungen und verfehlten politischen Gesten, der Boykottversuche und Haftbefehle. Wie denken Israelis über das politische Europa? Als ich versuchte, eine einigermaßen klare Antwort auf diese Frage zu finden, las ich in einer führenden israelischen Tageszeitung, Yediot Ahronoth, am 15. Juni einen Artikel, der sich mit dem Stimmungsumschwung führender europäischer Politiker in den Tagen der israelischen Militäroperation gegen das iranische Regime beschäftigte. Auslöser dieser Gedanken war die vielzitierte Äußerung des deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz, Israel erledige »the dirty work« auch für Europa, wenn es das iranische Regime an der Herstellung nuklearer Waffen hindert und dafür den Beschuß durch iranische Raketen in Kauf nimmt. Merz hatte zuvor mit konfusen Aussagen (wie der, er könne Israels Krieg gegen die Hamas »nicht verstehen«) eher ins hier verbreitete Bild europäischer Ignoranz gepaßt.
»Während europäische Staats- und Regierungschefs«, schrieb Yediot Ahronoth, »Israel wegen seines anhaltenden Krieges im Gazastreifen scharf kritisierten, äußerten mehrere Länder überraschend breite öffentliche Unterstützung für den israelischen Angriff auf die iranischen Atomanlagen.« Dann folgte die verblüffende Begründung für diese veränderte Haltung: »Viele europäische Regierungen unterscheiden klar zwischen der iranischen Bedrohung und der Palästinafrage. Diese Unterscheidung wird oft von der öffentlichen Meinung geprägt. In vielen europäischen Ländern stehen arabisch-muslimische Gemeinschaften Israel stark kritisch gegenüber. Dagegen ist unter den Exiliranern in Europa die Unterstützung für Israel besonders hoch.«
Der Artikel geht davon aus, daß, erstens, die öffentliche Meinung in den größten europäischen Ländern, nach der sich die Politiker im Sinne ihrer Wiederwahl richten müssen, von »muslimischen Gemeinschaften« (»Muslim communities«) bestimmt wird; zweitens, daß europäische Regierungen zunehmend unter Einfluß dieser muslimischen Minderheiten agieren; daß die europäischen Nationen wegen ihrer schwachen inneren Sicherheit mehr und mehr durch die muslimischen Gemeinschaften erpreßbar sind und folglich ihre Außenpolitik, vor allem ihre Nahostpolitik, nach dem Willen ihrer Muslime profilieren. Deutlicher kann man – im Ton einer höflichen Feststellung – seine Mißachtung des politischen Europa nicht formulieren. Yediot Ahronoth ist eine Zeitung der Mitte, der Mehrheit, die hier vertretenen Meinungen geben in etwa die Stimmung der meisten Israelis wieder. Ihre Auflage ist rund fünfmal so hoch wie die der in Deutschland vielzitierten Haaretz, des Blattes der immer noch europahörigen israelischen Linken.
Nur am Rande erwähnt der Artikel einen weiteren wesentlichen Grund für die neue Tonlage des Friedrich Merz: die gefühlte Bedrohung durch Rußland, die neue Aufrüstung Deutschlands mit dem Anspruch, das militärisch stärkste Land der europäischen Gemeinschaft zu werden, und die daraus resultierende Notwendigkeit, israelische Raketensysteme zu kaufen. Auch hier haben sich die Akzente verschoben. Androhungen ausbleibender Waffenlieferungen durch deutsche Politiker lösen hierzulande nur noch ein Schulterzucken aus. Viele Israelis halten Deutschland für schwach, im Inneren wie im Äußeren kaum noch verteidigungsfähig, den Herausforderungen einer bedrohlichen Zukunft nicht gewachsen.
Daher rufen europäisch inspirierte Aktionen in Israel oft paradoxe Reaktionen hervor, wie im Fall des Haftbefehls gegen Netanyahu durch den britisch-muslimischen Chefankläger Karim Ahmad Khan am Internationalen Strafgerichtshof (einer von den USA, Rußland, China, Israel und anderen wesentlichen Staaten ohnehin nicht anerkannten Institution). Der theatralische Akt bewirkte das Gegenteil des Beabsichtigten – Netanyahus wankende Position in Israel wurde dadurch eher gestärkt. Zusammenfassend läßt sich sagen: Versuchte Einflußnahmen des politischen Europa können die Mehrheit der Israelis nicht mehr verunsichern. Wären die Macher der linksliberalen europäischen Medien intelligenter, als sie sind, würden sie ihre Propaganda gegen Israel einstellen und ihre Berichterstattung den neuen Gegebenheiten anpassen. Die junge israelische Generation hat ein stabiles Selbstbewußtsein, das auf Israels militärischen Erfolgen, auf dem beispiellosen Hightech-Boom, der selbst in Kriegszeiten starken Wirtschaft und anderen Leistungen beruht, nicht zuletzt auf ihrer eigenen Tapferkeit und Kampfbereitschaft in der Abwehr des militanten Islam. ◆

CHAIM NOLL,
geb. 1954 als Hans Noll in Berlin, ist Journalist und Schriftsteller. Noll lebt seit 1995 in Israel und unterrichtet an der Universität in Be’er Scheva. Jüngste Publikation: Die Stille am Morgen nach dem Krieg (XS-Verlag)