»Früher entschieden Bild-Chefredakteure, wem Sie eine Bühne gegeben haben. Früher hatten wir als Medium ein Monopol. Wir haben es alleine in der Hand gehabt: Wer ist oben, wer ist unten, und wer darf sich überhaupt im Licht der Öffentlichkeit sonnen? Doch mit den digitalen Medien hat sich die Medienlandschaft komplett verändert.«
Foto: CATO/Vadim Derksen
Kai Diekmann in der Cato-Redaktion
Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 Bundeskanzler. Als er gewählt wurde, glaubte er noch, mit »Bild, BamS und Glotze« regieren zu können. Welchen Einfluß hat heute das Internet auf die Politik? Konkret gefragt: Wäre Donald Trump ohne Twitter zum Präsidenten der USA gewählt geworden?
Nein, natürlich nicht. Donald Trump wurde Präsident, weil es Twitter gab und Trump sein eigenes Medium sein konnte. Das müssen wir einfach verstehen: Mit den digitalen Medien hat sich die Medienlandschaft komplett verändert. Früher konnten Sie die paar Dutzend Menschen, die die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmt haben, in einem Raum versammeln. Sie entschieden als Chefredakteur darüber, und als Bild-Chefredakteur ganz besonders, wem Sie eine Bühne, wem Sie Zugang zu einem Massenpublikum oder zu einem intellektuellen Publikum oder zu welchem Publikum auch immer gegeben haben. Da hatten wir als Medium ein Monopol. Wir haben es alleine in der Hand gehabt: Wer ist oben, wer ist unten, und wer darf sich überhaupt im Licht der Öffentlichkeit sonnen? Donald Trump wäre ohne Twitter nicht mal Kandidat geworden, weil ihn die größte Zeitung des Landes, die New York Times, und der größte Fernsehsender des Landes, CNN, nicht ernst nahmen. Aber Trump hat sich von Anfang an über Twitter direkt an sein Publikum gewandt und sich wenig darum geschert, was CNN links und NYT rechts über ihn berichtet oder auch nicht berichtet haben. Er hat diese Kommunikationsstrategie als Präsident fortgesetzt und hatte am Ende seiner Amtszeit über 80 Millionen Follower. Das ist mehr, als CNN und New York Times auf dem gleichen Kanal zusammen haben. Aber nicht nur die Reichweite ist entscheidend. Trump hatte über Social Media auch die totale Kontrolle darüber, wie seine Geschichte erzählt wird. Wir nennen das »Ownership« über die eigene Story. Er ist bis zum heutigen Tag nicht darauf angewiesen, Journalisten zu gefallen – er ist Herr seines eigenen Narrativs. Das zeigt, was für eine ungeheure Macht Social Media hat, wenn ich sie richtig einsetze. Und weil Trump sich den klassischen Medien weitgehend verweigerte, mußten die sich dann auch noch bei Social Media bedienen. Das heißt, jede Twitter-Äußerung von ihm wurde automatisch eine Schlagzeile in den klassischen Medien, weil sie sonst eben keinen Zugang zu ihm hatten. Das zeigt, wie sehr sich unsere Medienlandschaft komplett verändert hat.
Ich bin Jahrgang 1951, meine Mutter hat in einem mittelständischen Zeitungsverlag gearbeitet, und darum bin ich gewissermaßen mit Bleisatz groß geworden. Ich habe über dreißig Jahre lang als Autor und Regisseur fürs Fernsehen gearbeitet und noch auf 16-mm-Film gedreht. Am Ende waren wir natürlich auch digital. Ein heuriger Hase bin ich also nicht. Gleichwohl habe ich den Eindruck, immer noch nicht wirklich verstanden zu haben, wie sich das Nutzerverhalten der Medienkonsumenten geändert hat. Können Sie mich aufklären?
Wir beide sind noch mit der Oberfläche Papier sozialisiert worden. Wir haben gelernt, eine Zeitung zu dekodieren. Wir wissen in der FAZ, wo die Themen stehen, die uns interessieren. Wir kämen nicht auf die Idee, die FAZ von der ersten bis zur letzten Seite immer von links oben nach rechts unten komplett durchzulesen. Wir haben also gelernt, für uns relevante Inhalte zu suchen. Wenn ich medial über die Plattformen sozialisiert werde, dann finde ich die für mich scheinbar relevanten Inhalte in meinem Feed. Und das, was dort nicht stattfindet, ist für mich dann im Umkehrschluß automatisch irrelevant – weder vermisse ich irgend etwas noch suche ich danach. Woraus folgt, daß sich auch das Mediennutzungsverhalten völlig geändert hat.
Werden Social-Media-Nachrichten für den Nutzer maßgeschneidert?
Allerdings. Inhalte werden individualisiert. Jedoch nicht von Menschen, sondern von der Maschine, dem Algorithmus. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit findet heute vor allem auf den Medien der Plattformen oder in den sozialen Medien statt. Das Problem ist, daß es damit nicht mehr dieses eine große Lagerfeuer gibt, um das sich alle versammeln, um sich zu gemeinsamen Themen auszutauschen.
Darum lebt jeder in seinen eigenen Wahrheiten.
Ja, und in seinen eigenen Erlebniswelten. Und das macht unsere Welt ausgesprochen kompliziert. Die klassischen Medien haben inzwischen fast zwei Generationen fast vollständig verloren. Ein Beispiel: Auch in diesem Jahr war das ZDF wieder der meistgesehene deutsche Fernsehsender – aber der Anteil der Zuschauer unter zwanzig Jahren im ZDF liegt gerade mal bei 0,3 Prozent. Aber auch nur, wenn Sie Live-Fußball mit reinrechnen – wenn Sie Live-Fußball rausrechnen, ist der Anteil nicht mehr meßbar. Ich sage immer: Ich bin der meiste Deutsche, nämlich Jahrgang ’64. Von keinem anderen Geburtsjahrgang gibt es mehr als von uns. Ich bin mit linearem Fernsehkonsum aufgewachsen. Und deshalb gehören für mich die ZDF-heute-Nachrichten um 19 Uhr immer noch dazu. Meine Kinder sind Anfang zwanzig und gucken auch noch Fernsehen, aber natürlich nicht ZDF oder ARD, sondern Netflix und Apple TV. Die könnten sich gar nicht vorstellen, Fernsehen linear schauen und zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Inhalte abrufen zu müssen. Und das müssen wir mal in unsere Köpfe reinbekommen: daß sich das Mediennutzungsverhalten komplett geändert hat.
Wie entsteht heute öffentliche Meinung?
Ich muß mich heute als Politiker, als Unternehmen, ganz egal ob es um Dienstleistung, um ein Produkt oder um eine Wahlentscheidung geht, auf Social Media präsentieren. Ich muß dort existent sein, um in der Wahrnehmungswirklichkeit von inzwischen über zwei Generationen überhaupt Teil von deren Lebenswirklichkeit zu sein. Wenn ich heute nicht auf Social Media existent bin, komme ich in der Lebenswirklichkeit von Millionen junger Deutscher gar nicht mehr vor, bin ich nicht existent. Ich habe die Möglichkeit, über Social Media mit einer Masse an Individuen direkt in den Austausch zu gehen. Über mich, meine Marke, mein Produkt. Ich brauche keine Fernsehstation, keine Druckmaschine und keinen Vertrieb mehr – ich kann mir einen eigenen Kommunikationskanal zu den für mich wichtigsten Stakeholdern aufbauen. Das kann, richtig betrieben, Gold wert sein. Egal ob B2B [von Unternehmen zu Unternehmen], B2C [von Unternehmen zu Verbrauchern] oder in einem Krisenfall.
Welche Rolle spielt dabei die Demographie? In Deutschland ist die Alterspyramide bekanntlich alles andere als ideal. Zu viele Alte stehen zu wenigen Jungen gegenüber.
Die Amerikaner haben eine gesunde Demographie, wir in Deutschland nicht. In Amerika gibt es ja ganze Großstädte, in denen es keine gedruckte Zeitung mehr gibt. Bei uns spielt für eine bestimmte Generation das gedruckte Medium oder auch das lineare Medium immer noch eine Rolle. Deswegen gibt es halt immer noch eine FAZ und ein Handelsblatt und auch ein Cato. Es kann auch sein, daß bestimmte Nischen weiter so besetzt bleiben. Wenn wir uns die jetzige Regierung angucken, ist immer noch eine Generation in der Politik, die mit linearen Medien aufgewachsen ist. Doch wenn da irgendwann eine Generation angekommen ist, die begriffen hat, daß sie diese linearen Medien nicht braucht, um sich selber zu präsentieren, um ihre Wähler zu erreichen, um erfolgreich zu sein, um erfolgreich Imagepflege betreiben zu können – dann wird es für die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems in dieser Form ganz, ganz, ganz schwierig werden.
Wie meinen Sie das konkret?
Was war das alte Spiel bisher? Wenn irgendein Politiker seinen Wählern versprochen hat, beispielsweise beim NDR oder dem WDR aufzuräumen und nachzufassen, ob man dort wirklich all die 25 oder 30 verschiedenen Programme benötigt, dann kommt der Sender und sagt: Ja, können wir gerne einsparen, aber wir fürchten, dann haben wir für Ihre Themen künftig keine Bühne mehr, auf der wir Ihre Politik und das, was Sie tun, darstellen können. Und deswegen hängen immer noch viele Politiker dem Glauben an, sie bräuchten die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, um ihre Wähler erfolgreich erreichen zu können. Wenn die Politik endlich gemerkt hat, daß die jüngeren Generationen das öffentlich-rechtliche Fernsehen ignorieren, dann wird das auch mit den Gebührengeldern schwieriger. Die Sendeanstalten werden sich was einfallen lassen müssen, was ihren Bildungsauftrag und ihren Senderauftrag angeht, was für Inhalte sie künftig anbieten wollen, damit auch künftig eine öffentliche Finanzierung zu rechtfertigen ist.
Ich habe nie verstanden, warum die Printmedien am Beginn des Internetzeitalters plötzlich anfingen, ihre Zeitungen zu verschenken.
Erst mal gab es dazu keine Alternative, weil es damals keine digitalen Bezahlsysteme gab, die erfolgreich und vor allem einfach funktionierten. Und richtig war es natürlich, diesen digitalen Raum zu besetzen, bevor das andere tun. In Amerika haben viele Verleger genau wie Sie gesagt: Wir verschenken unsere Inhalte nicht und machen das Geschäft weiter wie bisher. Mit dem Ergebnis, daß dann über den digitalen Raum, den sie nicht besetzt haben, rein digitale Player eingestiegen sind. Deswegen gibt es eine Huffington Post, deswegen gibt es ein Vox und so weiter. In Deutschland haben wir gesagt: Wir müssen den Raum über uns, den digitalen Raum, sofort selbst besetzen, bevor sich irgend jemand anderes hinsetzt. Sonst gäbe es heute irgendein digitales Unterhaltungsmedium, das genau diese Generation bedienen würde. Das haben wir aber selber gemacht. Es war immer klar: Du mußt dich selber fressen, du mußt dich selber kannibalisieren, um nicht von anderen gefressen zu werden.
Lieber Herr Diekmann, vielen Dank für das Gespräch!
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato. In Heft 1/2024 erschien sein Beitrag »Kunst oder Künstler«. »Zu einer Kultur, in der die Lüge unter der Maske der Wahrheit und der Information auftritt, zu einer Kultur, die nur das materielle Wohlergehen sucht und Gott leugnet, sagen wir nein«