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KRIEG UND FRIEDEN

3. Juni 2025 von INGO LANGNER

»Es gibt einen Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten, und er muß so schnell wie möglich beendet werden« (US-Verteidigungsminister Marco Rubio am 6. März 2025)

Foto: OSZE/Michael Rodgers
Botschafter György Varga, Chefbeobachter der OSZE-Mission an den russischen Kontrollpunkten Gukowo und Donezk, während eines Besuchs im OSZE-Sekretariat 2018

Dr. György Varga ist Diplomat mit Spezialisierung auf den postsowjetischen Raum. Er wurde in Theorie der internationalen Beziehungen promoviert und hat als Universitätsdozent strategische Planung, Sicherheitspolitik und Theorie der internationalen Beziehungen gelehrt. Als Diplomat vertrat er Ungarn in der Ukraine und in Moskau, er war Botschafter in Moldawien und von 2017 bis 2021 Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Rußland. In dieser Funktion verbrachte er die vier Jahre vor dem Krieg im Namen der 57-Länder-Organisation in einem Teil Rußlands und im Gebiet des Donbass, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Er leitete eine ununterbrochene internationale Überwachung, die zur Lösung des Konflikts beitragen sollte. Varga ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).

»Kämpfen russische Panzer auf deutschem Boden? Nein. Töten Leopard-Panzer russi­sche Soldaten? Ja.«

Offensichtlich will US-Präsident ­Donald ­Trump den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beenden. Wie beurteilen Sie die Chancen dafür?

Mit der Zusammenarbeit der Trump-­Administration und der EU könnte der Krieg in der Ukraine schnell beendet werden. Dies ist heute jedoch nicht der Fall. Präsident ­Trump hat aufgrund eines Wählerauftrags mit der Rußland- und Ukraine­poli­tik seines Vorgängers gebrochen, während die EU-Eliten ihre eigene fehlerhafte Politik revidieren müßten, was aber einem Eingeständnis des Scheiterns in der Ukrainepolitik gleichkäme.

In den vorherigen Wochen waren die Versuche des europäischen Mainstreams, ­Trumps Friedenspolitik zum Scheitern zu bringen, deutlich sichtbar. Beim Londoner Treffen der »Koalition der Willigen« am 2. März, einer Gruppe, die eine Fortsetzung des Krieges fordert, waren nur etwa 10 der 32 Nato-Länder sowie die Ukraine anwesend. Es ist nicht bekannt, mit welcher Berechtigung der Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der Europäischen Kommission und der Generalsekretär der Nato – auf Initiative eines Nicht-EU-Landes – teilgenommen haben, da die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht anwesend war und es keinen EU- oder Nato-Konsens über die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine gibt.

Über die Ursachen dieses Krieges gibt es im wesentlichen zwei Meinungen: 1. Rußlands Angriff ist ein Verbrechen gegen das Völkerrecht; 2. die USA haben mit der geplanten Osterweiterung der Nato in die Ukraine die von Rußland gesetzte »rote Linie« überschritten. Denn Rußland will die Nato nicht an seiner Westgrenze. Welche Ansicht teilen Sie?

Beide Aussagen sind wahr. Es gab eine Aggression, genauso wie es eine Aggression gegen Serbien 1999 oder den Irak 2003 ohne UN-Mandat gab. Und das Auftauchen der Nato in der Ukraine hat Europa destabilisiert. Nach Ansicht von Experten, die den Transatlantizismus als offensive Sekte betrachten, hat Rußland nichts damit zu tun, wessen Militärbasen die Ukraine auf ihr eigenes Territorium läßt. Denselben Transatlantikern zufolge hat Washington ein legitimes Recht, die Stationierung russischer Raketen in Kuba mit Waffengewalt zu verhindern. Mit anderen Worten, die Ukraine ist ein souveräner Staat, Kuba ist es nicht. Es ist ein wahrhaft demokratischer Ansatz, so wie die USA legitime Interessen in Grönland haben und Rußland sie nicht in seiner eigenen Nachbarschaft haben kann, wo Millionen Angehörige seiner eigenen Ethnien unter diskriminierenden Bedingungen leben. Das ist die Verweigerung der »Realpolitik«.

Nach dem Beginn der russischen »Spezialoperation« am 24. Februar 2022 waren deutsche Politiker davon überzeugt, daß Präsident ­Wladimir ­Putin nach dem Sieg über die Ukraine Westeuropa erobern wolle. Diese Ansicht wurde in den deutschen Mainstream-Medien weit verbreitet und wird zum Teil auch heute noch propagiert. Wie sehen Sie das?

Mein Ausgangspunkt ist, daß alle Politiker, die es in den Bundestag geschafft haben, ihr Land lieben und die Errichtung einer Pufferzone zwischen der Nato und Rußland auf der Grundlage ihrer nationalen Interessen unterstützen. Einige Politiker machen dem deutschen Volk angst vor einer russischen Aggression, aber sie wollen nichts von einer Sicherheitspufferzone hören, sie lehnen den neutralen Status der Ukraine ab.

Kämpfen russische Panzer auf deutschem Boden? Nein. Töten Leopard-Panzer russische Soldaten in der Region Kursk im Jahr 2025 und beschießen deutsche Panzer russische Dörfer? Ja. Wenn ich die deutsch-russischen Beziehungen bewerte, dann geht die Provokation nicht von Rußland aus, sondern von Deutschland. Ich würde davon abraten, die zu erwartende russische Antwort auf die Taurus-Marschflugkörper als Aggression gegen die demokratische Welt zu sehen.

»Der Krieg hätte im April 2022 beendet werden können.«

Ist der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Rußland?

Hätten wir das Interview vor zwei Monaten geführt, wäre dies tatsächlich meine Einschätzung gewesen, aber heute wiederhole ich einfach die Erklärung von US-Außenminister ­Marco ­Rubio vom 6. März: »Es gibt einen Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten, und er muß so schnell wie möglich beendet werden.« Die kriegsbefürwortende europäische Elite hat angesichts der neuen US-Position einen kalten Schauer bekommen, während wir froh sein sollten, daß das politische System der USA bereit ist, seine Fehler zu revidieren. Den grundlegenden Fehler beging die Nato 2008, als sie in der Bukarester Erklärung die Ukraine als künftiges Nato-Mitglied bezeichnete. Diese Entscheidung verletzte die staatliche Souveränität der Ukraine, da sowohl die Erklärung der nationalen Souveränität als auch die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit sowie die ukrainische Verfassung und das Referendum vom 1. Dezember 1991 den neutralen, blockfreien Status des Landes bestätigten. Im Jahr 1994 unterzeichneten die Präsidenten der USA und Rußlands, ­Bill ­Clinton und ­Boris ­Jelzin, das Budapester Memorandum über die nukleare Abrüstung der Ukraine mit einer neutralen und nicht­mili­täri­schen Ukraine. Die Nato war die erste, die den sicherheitspolitischen Status quo um die Ukraine verletzte.

Zur Vorgeschichte des aktuellen Krieges gehört der »Euro­maidan« von 2014. Für die einen war es ein von der CIA inszenierter Staatsstreich, für die anderen ein genuiner Volksaufstand, wie zum Beispiel der in Ungarn beziehungsweise Budapest 1956. Wie lautet Ihre Analyse?

Zur Zeit des »Euromaidan« schätzte ich im Planungsstab des ungarischen Außenministeriums ein, daß die Ukraine die Krim und die Ostukraine schnell verlieren wird, wenn der kollektive Westen, der den Prozeß koordiniert und unterstützt, das Maximum aus den Protesten macht – einen prowestlichen Staatsstreich. Denn die russischstämmige Bevölkerung der historisch russischen Gebiete würde einen von der Nato beziehungsweise den USA angeführten Staatsstreich niemals akzeptieren. Und so ist es dann auch geschehen.

Die Präsidentschaftswahl in der Ukraine 2010 und die Parlamentswahl 2012 stärkten die politischen Kräfte, die den neutralen Status unterstützen. Das beunruhigte Washington und das Narrativ von US-Staatssekretärin ­Victoria ­Nuland sehr, und so versuchte sie diesen Kurs vor Ort zu »korrigieren«.

Die deutsche, polnische und französische Diplomatie trug eine große Verantwortung für den Staatsstreich: Ihre Außenminister unterzeichneten am 21. Februar 2014 ein Abkommen über eine politische Lösung zwischen Präsident Wiktor ­Janukowitsch und der Opposition als Garanten. Innerhalb eines Tages nach der Abreise der drei Außenminister kam es zu einer gewaltsamen Machtübernahme. Weder die Minister noch ihre Länder noch die EU wollen sich daran erinnern, daß sie an einem Staatsstreich mitgewirkt haben.

Während US-Präsident ­Trump anscheinend so schnell wie möglich Frieden will, wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs, vor allem in Paris und Berlin, und die EU-Kommissare in Brüssel die Ukraine weiterhin militärisch aufrüsten. Wie sinnvoll ist das?

Ich sehe nicht, daß Länder wie Ungarn, die Slowakei oder Portugal eine wesentliche Verantwortung dafür tragen, daß die Innen- und Außenpolitik der Ukraine, eines Nicht-EU- und Nicht-Nato-Mitglieds, letztlich zu dem Krieg führte. Die ukrainische politische Elite hatte die Möglichkeit, den demokratisch gewählten Präsidenten nicht zu stürzen, die Rechte der russischen Minderheiten nicht zu beschneiden, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, dem Volk die unerreichbare Nato-Mitgliedschaft nicht als Ziel darzustellen, die separatistischen Gebiete mit friedlichen Mitteln wieder einzugliedern, das Istanbuler Abkommen von 2022 zu besseren Bedingungen als heute zu unterzeichnen, nicht alles auf einen Krieg zu setzen, der nicht zu gewinnen ist.

Die Regierung von ­Joseph ­Biden und die EU- und Nato-Elite – vor allem London, Paris und Berlin – haben alle Faktoren rund um die Ukraine verabsolutiert, um den Schaden für Rußland zu maximieren. Sie konzentrieren sich auf Rußland und lassen die Ukraine zerschlagen – die EU-Wirtschaft ist der Kollateralschaden.

Ungarns Ministerpräsident ­Viktor ­Orbán hat sich bereits Ende 2024 für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine eingesetzt und ist dafür von den EU-Granden heftig kritisiert worden. Warum sind die EU-Kommissare nicht bereit, ­Orbán zu unterstützen?

Das Europäische Parlament hat die Friedensinitiative des ungarischen Ministerpräsidenten verurteilt, aber es hat nie ­Boris ­Johnson und die Politiker des kollektiven Westens, die ihn ermächtigt haben, dafür verurteilt, daß sie die Unterzeichnung des Istanbuler Abkommens im April 2022 verhindert hatten. Zwei Monate nach Kriegsbeginn hätte der Krieg beendet werden können, die Unterhändler der beiden Länder hatten bereits eine Vereinbarung getroffen. Wie viele Menschen sind seit April 2022 wegen Boris Johnson gestorben, und wie viele Hunderte von Milliarden Euro Schaden sind der EU-Wirtschaft, dem ukrainischen Staat und der Infrastruktur der Ukraine zugefügt? Jeden Tag gibt es Beispiele für den moralischen Verfall der EU.

Braucht die EU wirkungsvolle Reformen? Ist die EU überhaupt zu Reformen fähig?

Die EU-Elite versteht unter Reformen den Abbau staatlicher Souveränität und beschneidet unter dem Deckmantel der Verabsolutierung des Krieges die Rechte der Mitgliedstaaten. Die Energieversorgung zum Beispiel fällt in die nationale Zuständigkeit, aber einige Bürokraten in Brüssel wollen im Sinne einer Kriegsideologie entscheiden, ob die Mitgliedstaaten ihre über Jahrzehnte aufgebauten strategischen Gas- und Ölpipelines in der Erde oder auf dem Meeresgrund verrosten lassen und Energie von anderswo zu Mehrfachpreisen einkaufen sollen.

Willy ­Brandt, ­Helmut ­Schmidt und ­Helmut ­Kohl hätten nie zugelassen, daß ein Krieg in die Europäische Gemeinschaft importiert wird, denn sie dachten an ein blühendes »Europa des Friedens«. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, die sich im Krieg befindet, ohne die endgültigen Grenzen des Landes, die Größe seiner Bevölkerung und seinen Zustand zu kennen, dient den Zielen eines »heiligen Krieges« gegen Rußland und wird zum politischen und wirtschaftlichen Zerfall der EU führen. Dies ist nicht das Europa, das 450 Millionen EU-Bürger wollen.

Der angelsächsischen Herzland-Rimland-Strategie zufolge ist die Hoheit über die eurasische Weltinsel entscheidend für die globale Machtverteilung: Als strategisches Zentrum der Weltinsel erscheint das uneinnehmbare Herzland mit seinen reichen Bodenschätzen, das ungefähr den Umrissen Rußlands entspricht und das es zu beherrschen oder einzuhegen gilt. Auf keinen Fall darf zugelassen werden, daß die natürlichen Ressourcen Rußlands sich mit dem industriellen Know-how und den organisatorischen Fähigkeiten Deutschland und Europas verbinden, weil das die Dominanz der USA bedrohen konnte. Trifft das zu? Und liegt hier die eigentliche Ursache für die US-Ukraine-Politik nach dem Ende der Sowjetunion?

Auch in Deutschland ist die Position des US-Amerikaners ­George ­Friedman, Direktor der privaten »Intelligence Corporation« Stratfor, weit bekannt. Aus seiner Sicht müssen die USA mit allen Mitteln verhindern, daß sich deutsche Technologie dauerhaft mit billigen russischen Rohstoffen und Energieträgern verbindet. Mittlerweile sind wir durch ein Paket von 16 Sanktionen gegen Rußland vom größten Teil des eurasischen Kontinents, den wir bewohnen, in den Bereichen Energie, Rohstoffe, Märkte, Verkehr und der menschlichen Dimension abgekoppelt worden. Sie haben Deutschland und Europa für Jahrzehnte irreparablen Schaden zugefügt, aber andere profitieren davon.

Mag sein, daß das die Absicht der Biden-­Administration war. Doch die Trump-­Administration hat heute eine neue Situation geschaffen. Washington will den Krieg beenden und die Beziehungen zwischen den globalen Akteuren und Moskau regeln. Die EU-Elite – einschließlich der deutschen Elite – wehrt sich gegen die Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Ich halte die Politik des europäischen Mainstreams gegenüber der Ukraine und Rußland für einen strategischen Fehler, der die Zukunft Europas gefährdet.

»Washington will den Krieg beenden und die Beziehungen zwischen den globalen Akteuren und Moskau regeln.«

Falls schon in naher Zukunft die USA, China und Rußland die globalen Machtzentren sein werden, welche Rolle kann dann Europa einnehmen?

Leider verliert Europa in alle Richtungen an Boden, und der EU-Mainstream macht die europäische Wirtschaft selbst unmöglich. Es konzentriert sich auf virtuelle Fragen und nicht auf den realen Bereich: die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Die EU-Diplomatie arbeitet mit aller Macht gegen die nationalen Interessen der EU-Länder. Während des dreijährigen Krieges in der Ukraine hat sie keine einzige Friedensinitiative ergriffen, als ob das einzige Lebensziel für die gesamte europäische Bevölkerung die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato wäre. Die USA haben dieses unrealistische Ziel, das nur Leid über die Ukraine und Europa bringt, bereits aufgegeben, doch Brüssel verfolgt es weiter.

Die Länder des »Globalen Südens« glauben nicht mehr an Europa. Die Brüsseler Elite versucht anderen Ländern Bedingungen aufzuerlegen, als ob sie ein Schiedsrichter in den inneren Angelegenheiten Chinas, Saudi-Arabiens, Katars oder anderer wäre. Und das alles tut sie nicht konsequent: ­Ursula von der ­Leyen sprach die Situation der diskriminierten uigurischen Minderheit in Peking an, aber in Kiew hat sie die Situation der ungarischen, polnischen, rumänischen und nach Millionen zählenden russischen Minderheit nie angesprochen – insbesondere bei letzterer warnte sie nicht vor den Gefahren von Diskriminierung und Repression, die letztlich zu dem Krieg führten!

Der Petersburger Dialog ist 2001 von Bundeskanzler ­Gerhard ­Schröder und Präsident ­Wladimir ­Putin ins Leben gerufen worden. 2023 wurde er beendet. Sollte er wiederbelebt werden?

Je früher, desto besser. Der neue Slogan der EU-Elite: Europäische Sicherheit durch Stärke. Es wäre besser, zur Normalität zurückzukehren: Europäische Sicherheit durch für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit. Und genau darum ging es beim Petersburger Dialog.

Die deutschen Exporte nach Rußland beliefen sich 2013 auf 38 Milliarden Euro, im Jahr 2023 waren es nur noch 9 Milliarden Euro. Ich habe in Rußland gearbeitet, ich habe die hervorragenden Ergebnisse deutscher Hersteller wie Siemens, Bosch, Volkswagen, Mercedes, Audi und so weiter gesehen und erlebt, daß die russische Gesellschaft die deutsche Industrietechnologie sehr schätzt.

Mit den 16 Sanktionspaketen hat die EU die Errungenschaften vieler Jahrzehnte aufgegeben: Wir haben China als globalem Wirtschaftsrivalen effektiv geholfen, den russischen Markt und die dort verbliebenen Produktionskapazitäten zu erobern. Wenn es nach der Hohen Vertreterin der EU, ­Kaja ­Kallas, geht, wird die europäische Wirtschaft niemals auf den russischen Markt zurückkehren. Die Frau wird das gleiche Gehalt bekommen – egal, ob die deutschen Exporte 10 Milliarden oder 100 Milliarden Euro betragen. Aber der Unterschied wird sich in den kommenden Jahrzehnten auf viele Millionen deutscher Arbeitnehmer auswirken.

In Deutschland denkt schon sehr lange niemand mehr in offiziellen Positionen ernsthaft über geopolitische Realitäten nach. Ist das in Ungarn anders?

Die Fähigkeit, strategisch zu antizipieren, ist für eine verantwortungsvolle politische Kraft von grundlegender Bedeutung. Die Probleme, die sich vor den Augen der Nation ergeben haben, müssen beurteilt und die Entscheidungen auf der Grundlage der Interessen unserer Länder getroffen werden – nicht der Interessen Brüssels, nicht Washingtons, nicht Moskaus, nicht Kiews. Wenn alle 27 Länder hinsichtlich ihrer nationalen Interessen ehrlich wären, würde die Entscheidungsfindung der EU auf gesunde Weise stattfinden und sie würde die Interessen ihrer 450 Millionen EU-Bürger widerspiegeln.

Ein gutes Beispiel ist die illegale Einwanderung: Wir haben darum gebeten, sie uns nicht aufzuzwingen, sie sollen es allein schaffen. Und was sehen wir? Sie können mit den Folgen ihrer eigenen Fehlentscheidungen nicht mehr umgehen und sehen sich gezwungen, die auf NGO-Schiffen transportierten Migranten, deren Kosten aus dem Haushalt finanziert werden, auf die 27 EU-Länder zu verteilen. Diese Praxis wird Europa, wie wir es kennen, in einigen Jahrzehnten auseinanderreißen. Sind wir nach drei Jahren Krieg und 16 Sanktionspaketen einem Nato-Beitritt der Ukraine näher gekommen? Nein. War es das wert, die Ukraine zu zerschlagen? Nein. Kluge Politiker wußten das schon vor drei Jahren.

Auch dieser Tage ist auf den EU-Gipfeln wieder die Rede von »unseren westlichen Werten«, die gegen Rußland und neuerdings auch gegen die Trump-Administration verteidigt werden müssen. Wie definieren Sie diese Werte? Teilt die ungarische Regierung diese Werte oder hat sie andere Prioritäten?

Beginnen wir mit dem Ergebnis des EU-Gipfels vom 6. März: Mit Ausnahme von Ungarn haben die Staats- und Regierungs­chefs der anderen 26 Länder die Fortsetzung des Krieges und die weitere Bewaffnung der Ukraine unterstützt. Sie haben im Namen von 440 Millionen EU-Bürgern für die Fortsetzung und Finanzierung des Krieges gestimmt. Glaubt jemand, daß die Mehrheit der Bevölkerung in 26 der 27 EU-Länder nicht der Meinung ist, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet werden sollte? Dieser Trend ist manipuliert, und heute sind das »unsere westlichen Werte«.

Die nordkoreanische Regierung schneidet den Bürgern den Zugang zu ausländischen Medien ab. Können wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, wenn wir akzeptieren, daß die EU ihren 450 Millionen Bürgern den Zugang zu den Informations­kanälen einer europäischen Großmacht – Rußland – verbietet? Das sind die Werte Nordkoreas, nicht meine. Die Motivation hinter der Entscheidung liegt auf der Hand: Brüssel, Paris, Berlin, Warschau waren und sind heute auch nicht in der Lage, die Widersprüche ihrer eigenen Kriegspolitik zu erklären. Würden neben den US-amerikanischen Argumenten, die den europäischen widersprechen, auch die russischen Argumente vorgetragen, dann hätte die EU-Elite ein echtes Problem: Sie würde täglich nicht nur auf Fox News, sondern auch auf Russia Today mit rationalen Argumenten gegen einen sinnlosen Krieg konfrontiert. Ein Albtraum!

Herr Botschafter Varga, vielen Dank für das Gespräch!

Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli ◆

Picture of INGO LANGNER,

INGO LANGNER,

geb. 1951 in Rendsburg, lebt in ­Berlin. Autor, ­Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato.

No. 3 | 2025

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Kategorie: Artikel Stichworte: Artikel, Interview, Langner, Varga

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