Das 20. Jahrhundert hat mit dem Schönheitsideal und dem Naturvorbild der gesamten vorherigen Kunstgeschichte gebrochen. Mit unerbittlicher Konsequenz wurde das Menschenbild denaturiert. Die Parallelen zu den gleichzeitigen Ausprägungen totalitärer Politik sind nicht zu übersehen. Was hat es mit dieser unheimlichen Korrelation auf sich? – Ein Beitrag über den Kubismus des Pablo Picasso
Im großen und ganzen gesehen, hat die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts ihren Feldzug gegen das urbildliche Einssein von Natur und Schönheit siegreich mit weitreichenden Folgen bis in die Kunst der Gegenwart geführt und den Abglanz dieses Einsseins, den die ältere, zumal die klassische Kunst in ihren Werken hat aufleuchten lassen, in ihren eigenen Werken ausgelöscht. Der Zerfall und die Negierung des Naturschönen im Bilde der Kunst erfolgten also nicht beiläufig, sondern wurden zum Gegenstand, ja zum erklärten Ziel künstlerischen Tuns gemacht und ins Werk gesetzt – in einem systematisch gegen Natur und Schönheit gerichteten Akt der Zerstörung. Pablo Picasso (1881–1973) betrieb ihn mit Methode – als Voraussetzung zur Bildung seiner kubistischen Gemäldestrukturen. Die Krisenerscheinungen der Jetztzeitkunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts geben zu erkennen, daß die Kunst mit diesem gegen die Natur und Schönheit gerichteten Zerstörungsakt letztlich sich selber traf. Die Kunstproduktionen der Gegenwart zeigen: Der im vorigen Jahrhundert initiierte Emanzipationsakt der Kunst lief auf einen bewußt und mit Genuß geführten Akt der Selbstzerstörung hinaus.
Zerstörung blieb kein nur auf das Kunstschaffen spezialisiertes Phänomen. Auch in politischen, moralischen und sozialen, in allen humanen und zivilisatorischen Hinsichten ist das vergangene Jahrhundert ein Jahrhundert der Zerstörung gewesen. Man mag davor zurückschrecken, die bildenden Künste dieser Zeit generell in den Kontext dieser desaströsen Erfahrungen zu ziehen. Und doch bilden sie mit ihnen eine zeitgenössische Gemeinschaft – wohl in anderer Weise, als man auf den ersten Blick erwarten und einräumen würde.
Es wird nicht die Rede von jenen Bildern sein, mit welchen totalitäre, dem politischen Terror huldigende Systeme eine »schöne« und »gesunde«, tatsächlich aber verlogene, die Wahrheit mit Füßen tretende Welt propagierten. Andererseits werden und müssen aber auch Werke jener Zeit nicht schon deswegen besondere Beachtung finden, weil ihr Gegenstand und ihre Gesinnung sich entweder solchen Verführungen nur entzogen oder den mit ihnen verknüpften Verbrechen gegen die Menschlichkeit sogar ausdrücklichen Widerstand entgegensetzten. Auch die von einer Ideologie des Bösen gegen sie gerichteten Verbots- und Vernichtungsakte rücken nicht neuerlich in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im übrigen geht aus den obigen und den folgenden Erörterungen, die den gebrochenen Bund von Kunst, Natur und Schönheit beklagen, hervor, daß sie Verquickungen mit jenen verhängnisvollen Motiven abweisen, die eine kulturelle Barbarei unter dem Titel »entartete Kunst« verfolgte. Dabei aber darf sich das kunsthistorische Urteil in keinen irreführenden Kompensationen trüben. Denn sowenig wie Kunstschöpfungen, wie beispielsweise Werke von Dürer und Rembrandt oder Wagner und Beethoven, allein deswegen, weil sie von nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda bevorzugt geschätzt wurden, es verdienen, heute für schlecht befunden und mit Verachtung gestraft zu werden – sowenig müssen Werke der Moderne, nur weil es ebenjene verbrecherischen Kräfte waren, die ihnen das Stigma der Entartung aufgeprägt haben, nun im Gegenzug kritiklos als gut und vollkommen gerühmt werden. Der Terminus »Entartung« rechnet sich zu den zahlreichen traditionellen Begriffen, die von den Nationalsozialisten usurpiert und pervertiert wurden, mit der Folge, daß man bis heute glaubt, sie ungeachtet ihres ursprünglichen Klar- und Wahrheitsgehalts aus dem Denk- und Sprachhaushalt überhaupt eliminieren zu müssen. Anstatt einen Beitrag zur Reinigung und Authentizität auch des von einem entarteten Regime vergewaltigten Begriffs Entartung zu leisten, nimmt man mit seiner Tabuisierung die Perpetuierung seiner willkürlichen Verfälschung in Kauf und stellt nolens volens unter Beweis, daß man sein Denken und Urteilen noch immer nicht aus der Zwangsherrschaft eines ehemals waltenden Ungeistes gelöst und befreit hat. Der Begriff »Entartung« oder »Denaturierung«, so wahr er Phänomene der Entfremdung einer Wesenheit von der ihr spezifischen Natur oder sogar den Willen zu ihrer Zerstörung erhellt, sollte also in der kunstgeschichtlichen Erkenntnisarbeit kein Tabu mehr bleiben.
Picassos erstmalig in den Demoiselles d’Avignon in systematischer Vollendung zutage tretender Kubismus birgt eine gegen die Integrität der menschlichen Gestalt, ihre Natürlichkeit und Schönheit gerichtete Intention der Zerstörung, die aber, da sie allein in der Kunstwirklichkeit statthat, von der realen Vernichtung menschlicher Wesen in der Realität kategorisch unterschieden ist. Die Zersplitterung der Körper und die damit einhergehende Negierung ihrer naturgegebenen leiblichen Schönheit waren dem Maler Mittel zur Erreichung eines bestimmten kunstimmanenten Zwecks, nämlich der Eröffnung eines neuen Bildsehens, einer optisch interessanten, die Körper in die Fläche projizierenden Form- und Farbstruktur. Zur Lösung dieser Aufgabe gelangte der Maler mit der Triebkraft einer großen Leidenschaft, die die Betrachter des fertigen Gemäldes unmittelbar nachempfinden können. Bewußt wählte er ein Riesenformat, obwohl es das Sujet von sich aus nicht gefordert hätte. Triumphal erheben sich vier Figuren über eine rechts sitzende, überwältigend soll ihre Wirkung sein. Aber entsprechend gewalttätig wirken denn auch die an den Körpern, ihren Gesichtern, Stellungen und Bewegungen vorgenommenen Manipulationen. Die natürlichen Gestalten der weiblichen Aktmodelle bleiben im Bilde noch erkennbar, aber sie fungieren eben nur noch als Manipulationsobjekte, die die an ihnen formengesetzlich geübte totalitäre Herrschaft des Malers Picasso zu bezeugen haben. Die formale Perfektion des Werks, die bezweckt und unbestreitbar erreicht wurde, verdankt sich einem radikalen Akt der Denaturierung von unerbittlicher Konsequenz. Diese Implikation von Phänomenen kunstimmanenter Perfektion und Zerstörung hat nicht nur zur Entstehungszeit des Werks Schrecken ausgelöst, und durch Gewohnheit nicht abgebrühte Betrachter empfinden ihn noch heute. Zum einen bewundert man die Flächensplitterungen konstruktiv regelnde Logik sowie auch die sich in den gegeneinanderstoßenden Winkelbildungen entladende energetische Dramatik des Formenganzen, zum anderen aber sucht man vergeblich nach einer Bedeutung desselben, erscheinen doch die gymnastischen Veranstaltungen der sich reckenden und streckenden, ihre Arme winkelnden und auswerfenden Figurationen völlig unmotiviert, widernatürlich, mithin sinnlos. So verfolgt das Gemälde keine inhaltlich benennbaren, geschweige denn ideologischen oder politischen Absichten. Seine gegen das Naturschöne der menschlichen Gestalt gerichteten Destruktionen bleiben kunstimmanent, genauer: formimmanent. Sie erfüllen ihren Zweck im Sinne der in der Folgezeit aufkommenden »L’art pour l’art«-Devise.
Auch die Täter in der politischen Realität des 20. Jahrhunderts verfolgten zerstörerische Absichten. Sie bezweckten etwas Verwerfliches, nämlich die Errichtung von Diktaturen auf der Grundlage totalitärer Ideologien, die die individuelle Menschenwürde verletzten und ihre moralischen Werte pervertierten. Davon sticht der in Picassos Demoiselles d’Avignon geübte Zerstörungsakt ab. Denn in der natürlichen und politischen Wirklichkeit will das Werk nicht erreichen, was es nicht erreichen kann, nämlich irgendeine ihm gleich zu bemessende Realisierung dessen, was es nur als Kunst ist und darstellt. Würde Picasso beabsichtigt haben, an seine reale Umwelt die Botschaft zu richten, mit den Zeitgenossen nach dem Vorbilde seines Gemäldes zu verfahren, dann wäre es auf die Aufforderung hinausgelaufen, lebendige Menschen zu deformieren, zu zerstückeln und plattzumachen – ein absurder Gedanke. Die Parallelisierung oder gar Gleichsetzung von Menschenbildern in Kunst- und Zeitgeschichte ist daher ein zutiefst problematisches Unterfangen, wird aber trotzdem in der Kunstgeschichtswissenschaft vor Werken der älteren, klassischen Kunst immer wieder unreflektiert praktiziert.
Wie der hier angeschnittene Fall zeigt, sind Destruktionen in Werken hier der Kunstgeschichte und dort in Tätlichkeiten der Realgeschichte zwei kategorisch zu unterscheidende Phänomene. Und doch besteht das natürliche Verlangen, bildende Kunst und wirkliches Leben einer Epoche miteinander zu vergleichen, aufeinander zu beziehen, in einem Bilde vereint zu sehen – wie aufgrund gegenwärtiger Erfahrungen, so auch im Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Ein solches Bild fügt sich nach sittlichen Gesetzen, die in einer alle Unterschiede ihrer praktischen Befolgung und Ausführung übergreifenden Weise Gültigkeit beanspruchen. So haben sich an jenem Zerstörungszeitalter Kunst und Politik beide, je auf ihre Weise, beteiligt. Zu keiner Zeit hat die bildende Kunst eine so destruktive Gesinnung an den Tag gelegt wie im vorigen Jahrhundert, gesteigert noch in Gebilden der Kunst des soeben begonnenen, die malgré eux immer noch unter dem Kunstbegriff firmieren. Nicht nur die politikgeschichtlich, sondern auch die kunstgeschichtlich an der Humanität verübten Zerstörungsakte vermögen in Schrecken zu versetzen. Es ist zwar nur recht und billig, eine in der Realität, an lebenden Menschen und tatsächlich existierenden Wertgegenständen begangene Tat der Zerstörung von einem mit Pinsel und Farben auf der Leinwand ausgeführten Zerstörungsakt zu unterscheiden. Aber im reinen Lichte ethischer Gesinnungen und moralischer Maximen und Normen sind beide Handlungsweisen miteinander zu vergleichen und unterliegen denselben Bewertungskriterien.
Mit den hier angesprochenen Erscheinungen des von Picassos Kubismus ausgelösten Kunstwollens hat sich schon zur Mitte des vorigen Jahrhunderts der Schweizer Philosoph Max Picard (1888–1965) kritisch auseinandergesetzt. Ausgehend von einer gängigen Meinung, schreibt er: Es heiße, »es sei heute alles augenblickshaft, und die Gestalt der Dinge« – man darf hinzusetzen: auch des Menschen – »zerfalle heute, dies sei überhaupt die Tendenz unserer Zeit, und der Künstler müsse an dem Zerfall mithelfen, ja ihn beschleunigen, indem er die Dinge noch zerfallener und zerstückelter in seinen Werken darstelle, als sie es in der Wirklichkeit sind – das sei ein Zeichen davon, daß der Künstler in der Zeit gelebt habe. Diese Argumentation«, gibt Picard zu bedenken, »kommt mir so vor, wie wenn einer sagen würde, er habe nur darum am Hitlerregime teilgenommen, um sich und anderen zu beweisen, daß er die Zeit des Hitlerregimes miterlebt habe – aber man kann eine Zeit auch miterleben, indem man sich gegen sie stellt.«
»Es ist selbstverständlich, daß der Künstler an seiner Zeit teilzunehmen hat, und zwar darum, weil die Dinge, die in ihr geschehen, auch für ihn geschehen, er muß auf sie antworten mit seiner Kunst und, auf die Dinge antwortend, sie so verantworten. Das geschieht dadurch, daß er den Dingen, deren Wesen undeutlich geworden und verkümmert ist im ›Betrieb‹, wieder die Unversehrtheit gibt oder an ihnen die Trauer aufdeckt, daß die Unversehrtheit verloren ging – der Künstler der atomisierenden Darstellung von heute zeigt aber die zerfallenden Dinge nicht mit Trauer, sondern triumphierend, so als ob die Dinge sich wohl fühlten in der Zerstörung, der Künstler triumphiert, daß er sie gepackt hat in diesem wohligen Zustand der Zerstörung.«
Sodann spricht Picard die Wirkung an, die die atomisierende Kunst auf das Alltagsleben ausübe: »Vielleicht, wenn die Zerstückung nur auf die Methode der Wissenschaft und auf eine Art des täglichen Lebens beschränkt bliebe, vielleicht würde sie dann, andauernd nur auf sich selbst stoßend, Angst vor sich selber bekommen und, sich besinnend, wieder zum Ganzen zurückkehren. Aber: da ist ja die Kunst, die auch zerstückt ist, und die Zerstückung im ›Höheren‹ scheint die Zerstückung in der Wissenschaft und im Leben zu rechtfertigen, sie bilden einen falschen Himmel über der anderen Zerstückung, sie deckt sie, sie legitimiert sie.«
Dagegen ließe sich nun einwenden, daß mit dem Begriff »Zerstückung« die Wirklichkeit kubistischer Picasso-Gemälde insofern verkannt werde, als sie ja keine lose Anhäufung von lauter unzusammenhängenden Einzelstücken eines definitiv auseinandergefallenen, vormals sein Ganzes ausmachenden Gebildes, beispielsweise einer Figur oder eines Gesichts, darstelle. Die Demoiselles d’Avignon gleichen keinem Trümmerfeld, keiner Ruine. Auf die Zerteilung des Ganzen erfolgte ja immer auch eine Zusammensetzung der Teile zu einem neuen, wiederum lückenlosen Formgefüge. Oder anders: Dieses Formgefüge stand als ein neues Ganzes primär schon in der Absicht und Vorstellung des Künstlers, und zum Zwecke seiner Verwirklichung mußte das von der Natur vorgegebene Ganze analysiert und zerstückt werden. Und dem Gesetz des neuen Ganzen entsprechend, unterlagen konsequenterweise auch alle Teile der Figuren, wie etwa Köpfe, Augen, Glieder usw., einer sie denaturierenden Umformung.
Zerstörung nach Picard bemißt sich also nicht an den strukturellen Gegebenheiten der definitiven Bildform, sondern im wesentlichen an der Radikalität des gegen die menschliche Natur und Schönheit gerichteten Widerspruchs und der damit verknüpften Negierung ihrer sittlichen Werte. Die letztere manifestiert sich in der Tatsache, daß Picasso in seiner kubistischen Phase keinen Unterschied zu machen pflegte zwischen der formalen Bearbeitung einer menschlichen Figur und eines beliebigen Gegenstands, einer Vase, einer Mandoline oder eines Stillebens, zwischen organischen, lebendigen Wesen und anorganischen, toten Dingen. Wie die vorwiegend in Brauntönen ausgeführten Gemälde der Zeit zwischen 1910 und 1912 beweisen, unterliegen die einen wie die anderen alle dem gleichen analytischen Verfahren. Seine konsequente Anwendung apostrophiert die Kunstgeschichtsschreibung positiv als »Stileinheit«. Dabei aber ignoriert sie die totale Versachlichung und Materialisierung des Menschenbildes und die mit der Aufhebung seiner plastischen Körperlichkeit zwangsläufig einhergehende Verkümmerung auch seiner sinnlichen, seelischen und sittlichen Wesenheit. Auf dem Gemälde Ma Jolie im New Yorker Museum of Modern Art sind die Formen der so betitelten »Frau« und die ihrer »Zither oder Gitarre« im All-over-Design der ineinander geschachtelten Drei- und Rechtecke ununterscheidbar geworden. Über subjektive Gefühls- und Seelenregungen der Musikantin und ein sie auch nur irgendwie auslösendes und beherrschendes Ethos macht das Bild keine Aussage. Die Figur und mit ihr alles, was ihr Menschsein ausmachen könnte, hat der Maler in der als abstraktes Klanggebilde angelegten und als solches aufzufassenden Bildstruktur systematisch aufgelöst.
Welche weitergehenden Folgerungen sind aus diesem Befund zu ziehen, und zwar im Blick auf die allgemeinen geistigen und politischen Tendenzen der Zeit, in welcher Picasso die genannten Gemälde schuf? Wie fügen und ordnen sie sich in diese ein? Grundsätzlich gilt, wie bereits mehrfach hervorgehoben, die Unterscheidung zwischen kunstgeschichtlich und realgeschichtlich sich manifestierenden Wirklichkeiten. Ohne daß diese prinzipiellen Unterscheidungen irrelevant würden, gilt es gewisse, zwischen beiden Wirklichkeiten bestehende Verhältnismäßigkeiten und Wechselbeziehungen zu beachten. Sie können sich in direkten gegenseitigen Zustimmungen, aber auch in klaffenden Widersprüchen sowie auf allen zwischen beiden Extremen vermittelnden Stufen manifestieren.
Unter dieser Voraussetzung weiß der Kunsthistoriker beispielsweise in den die Madonna und die heiligen Apostel und Märtyrer anbetenden Stifterbildnissen Jan van Eycks und Rogier van der Weydens die christliche Frömmigkeitsidee des Spätmittelalters zum Innersten und Tiefsten auszuloten, ohne daraus schlußfolgern zu dürfen, daß die auf den Gemälden erscheinenden Beter auch in ihrem realen Leben die demütig gesonnenen und christlich geheiligt handelnden Personen gewesen wären, die die Maler in der Sinngestalt ihres Bildnisses vor Augen gestellt hat. Den David des Michelangelo, um ein anderes Beispiel zu nennen, wird man zum Zeugen des heroisch idealisierenden Individualismus aufrufen, der im Geist der Hochrenaissance und der folgenden Epochen zur Herrschaft drängte. Aber der Versuch, ebendieses allein als Bildwerk existierende Sinnbild menschlicher Kraft und Kraftbeherrschung realiter auf Personen oder konkrete Handlungen jener Zeit zu übertragen und mit ihnen gleichzusetzen, muß fehlschlagen. […]
Auch Picassos Gemälde Ma Jolie ist unter Beachtung der prinzipiellen Unterschiedenheit kunstgeschichtlicher und realgeschichtlicher Wirklichkeiten auf zwischen beiden Wirklichkeiten möglicherweise bestehende Beziehungen und Verhältnisse hin zu untersuchen. Man gewinnt den Eindruck, daß Picasso in jenen frühen Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts schon ein besonderes Gespür für zeitgenössische Tendenzen entwickelte, deren Unheil sich bald darauf entladen sollte. Denn projiziert man auf das Picasso-Gemälde die in den katastrophalen politischen und ideologischen Abläufen des 20. Jahrhunderts gesammelten Erfahrungen, entdecken sich nolens volens überraschende Relationen. Nur daß es Picassos Charakter entsprach, die Dämonie der ihn bewegenden Fragen in spielerische Variationen von Formgebilden zu verwandeln und in ihnen scheinbar verschwinden zu lassen. Dies ist auch im Falle von Ma Jolie zu beobachten.
Worum also geht es konkret? Ins Blickfeld rückt das vorige Jahrhundert als eine Epoche totalitärer Systeme, die im Namen nationalsozialistischer und kommunistischer Ideologien ihr Unwesen trieben. Hervorstechende Kennzeichen ihrer Praxis waren die Unterdrückung des Freiheit beanspruchenden individuellen Geistes und in letzter Konsequenz die physische Liquidation menschlichen Lebens – und dies auch, aber nicht nur, aus teuflischer Bosheit, sondern nach Vor- und Maßgabe eines moralische Perversion mit Moral legitimierenden ideologischen Systems. Um in dieser Perspektive einen Bezug zu dem beispielhaft ins Auge gefaßten kubistischen Gemälde Picassos erkennen zu können, muß man sich von allen Verabredungen, Floskeln und kernlosen Schalenbegriffen, deren sich die gegenwärtige, jeden neuen und unabhängigen Gedankenschritt überwachende politisch korrekte Sprachregelung bedient, lösen und die Empörung, die tiefere und klarere Einsichten zwangsläufig auslösen, an sich abprallen lassen. Auch in der Wirklichkeit des Kunstwerks Ma Jolie wird die Integrität eines menschlichen Individuums aufgehoben. Es wird in die Fläche gezwungen, zerschnitten, zersplittert, und die Teile werden nach dem vom Maler konzipierten abstrakten Muster wieder zusammengesetzt. Die Wiedererkennbarkeit der Musikantin bemißt sich nach dem Grad der Erfüllung des dem Gemälde zugrundeliegenden Zwecks, der die Liquidation der Menschengestalt als körperlich, beseelt und empfindend seiendes und handelndes Wesen erforderlich macht. Die menschliche Figur ist zur Formsache, zum Manipulations- und Verwertungsobjekt geworden, das dazu dient, in der vom Künstlersubjekt diktatorisch erdachten kubistischen »Maschinerie« (Picard) seine Funktion zu erfüllen, de facto aber darin unterzugehen. Ob Mensch oder Ding, gleichviel, das Formsystem überwältigt beide unterschiedslos und gleichermaßen und feiert den Triumph seiner selbst, seiner technischen Perfektion.
So gesehen, erweist sich Picassos Kubismus in der Art und Weise, wie er sich in zahllosen verwandten Werken jener Zeit manifestiert, als eine totalitäre Kunstform. Spätere Generationen werden deren epochale Beziehungen zu totalitären Systemen der Politik des vorigen Jahrhunderts vielleicht unbefangener und deutlicher wahrnehmen als heutige Beobachter. Aber auch sie werden dabei einen gewichtigen Unterschied hervorzuheben wissen, daß nämlich Picassos Werk ein absolut ideologiefreies Gebilde darstellt, das nichts anderes zu sein beabsichtigt als es selbst, eben ein Kunstgebilde, das rein ästhetisch, genauer: formalästhetisch gewürdigt werden will. Im Gegensatz zur totalitären Diktatur der politischen Welt, die keine Solipsismen zuläßt, ist in der von Picasso ersonnenen der ästhetische Genuß der eigentliche Zweck der Veranstaltung und beansprucht sein volles Recht. Das Auge verfolgt die sensiblen Hell-Dunkel-Abstufungen der die Drei- und Vierecke füllenden Brauntöne, die Differenzierungen des sie hier tupfenden und dort streichenden Pinsels, die Dynamik der gegen- und ineinandergewinkelten Linien und Flächenpartikel, die ein in sich ausgewogen stimmiges Ganzes ausmachen. Aber wegen des dem perfekten strukturellen Kalkül des Gebildes immanenten Verzichts auf irgendeine den Menschen positiv oder negativ betreffende Aussage bleibt dieses Ganze, inhaltlich beurteilt, eine Leerform. Und es mag sein, daß seinerzeit gerade dieses Phänomen nicht als Mangel, sondern im Gegenteil als ein Gewinn empfunden wurde, nämlich als eine Verweigerung jeglicher politischer oder ideologischer Dienstleistung, als eine radikale Befreiung auch von all jenen Überfrachtungen mit hintersinnigen Anspielungen und symbolischen Bedeutungen, denen die Kunst des späten 19. Jahrhunderts gefrönt hatte. […]
Wenn in der politischen Wirklichkeit totalitäre Ideologen im Menschen nur Menschenmaterial sahen und sehen und ihn als solches behandelten und behandeln, so ziehen sie den Blick auf Parallelen in der Kunstwirklichkeit Picassos, in welcher die menschliche Gestalt nur noch als Figurenmaterial fungiert. Die Frage aktualisiert sich im Zusammenhang mit der heftig umstrittenen, aber ständig fortschreitenden Gentechnik und -manipulation von Pflanzen, Tieren und künftig auch Menschen. Was im Schoße der Wissenschaft als Möglichkeit künstlicher Menschenzucht noch im verborgenen gehalten liegt – deutet es sich in Picassos kubistischen Figurenbildern nicht paradigmatisch schon an? Dazu die Frau mit Artischocke von 1941 in der Kölner Sammlung Ludwig. Auge, Mund und Nase sind nur noch verschiebbare Chiffren, die willkürlich über ein zur Krüppelform verkommenes kopfartiges Gebilde verteilt sind. […]
Aber vielleicht fügt es sich, daß der Triumph über die klassischen Gesetze der Naturschönheit, Naturverbundenheit und Naturnachahmung, den Picasso, moderne Künstler und Kunstfreunde des vorigen Jahrhunderts angesichts der kubistischen Revolution als Ausdruck absoluter künstlerischer Freiheit feierten, in kommenden Zeitläuften an Inbrunst und Überzeugungskraft verlieren wird, wenn ihm nämlich die Sorge um die natürliche Unversehrtheit und ökologische Bewahrung der Schöpfung entgegenschlägt. Dann werden kubistische Werke Picassos, von denen hier nur einige wenige beispielhaft zitiert wurden, in verändertem, das heißt ihrem originalen Licht erscheinen. Man wird sie […] einer an den Problemen der Gegenwart orientierten, kritisch richtenden Prüfung unterziehen, im Grunde genommen aber wieder genau das in ihnen erkennen, was seinerzeit ein noch an Michelangelo, Raffael, Rubens, Delacroix oder irgendeinem anderen Maler der älteren, zumal der klassischen Zeit geschultes Auge erkennen mußte: ein Bild willkürlicher Menschenverzerrung und -verformung, ein horribles Witzbild oder witziges Horrorbild der Widernatur. Und der Anblick dieses Abscheu erregenden Monstrums könnte eine Gegenreaktion, das Bedürfnis nach einer neuerlichen Anschauung heiler Menschengestalten auslösen. […]
Wo die Kunst die Natur sucht und findet, sucht und findet sie auch die Schönheit. Und die Schönheit ist es, die beider Bund besiegelt. Es ist dies eine ewige Lehre, die die Größten der Großen der Kunstgeschichte der für Kunst und Natur und ihre Schönheiten empfänglichen menschlichen Erfahrung erteilt haben – das klassische Zeugnis, das Phidias und Polyklet, der Meister der Reimser Heimsuchung, Donatello, Michelangelo und Raffael, Rubens und Delacroix, Poussin und Cézanne abgelegt haben und in deren Gefolgschaft auch mittlere und kleinere Künstler, die ihrem Vermögen entsprechend zur Höhe strebten und zur Vollendung und Vollkommenheit ihrer Kunst gelangten. […] ◆
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version des gleichnamigen Essays im ersten Band (S. 85–99) von Reinhard Liess’ dreibändiger Ausgabe seiner Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso, hrsg. von Thomas Gädeke, Regensburg (Schnell & Steiner) 2021, geb., 1 695 S., 99 Euro.
REINHARD LIESS
geb. 1937 in Bunzlau/Schlesien, 1957–65 Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Marburg und München u. a. bei Hans Sedlmayr. 1960 Regieassistent bei Wolfgang Wagner in Bayreuth. 1965 Promotion, 1970 Habilitation. Bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Braunschweig, Regensburg und Osnabrück.