Sämtliche sozialistischen Experimente in Lateinamerika sind grandios gescheitert. Doch ausnahmsweise wird die Geschichte einmal von den Verlierern geschrieben und umgeschrieben. Protokoll eines Kulturkampfes
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Weltweit genossen die Guerillabewegungen, die von Argentinien bis Mexiko wie Pilze aus dem Boden schossen, Sympathien bis tief in die Mittelschicht. Hinter der romantischen Fassade versteckten sich straff organisierte leninistische oder maoistische Kaderparteien, die oft von Moskau aus via Havanna kommandiert und trainiert wurden.
Alberto Fujimori, von 1990 bis zum Jahr 2000 Präsident von Peru, kann man vieles vorwerfen. Er war ein notorischer Lügner, strapazierte Verfassung und Gesetz bis zum offenen Bruch, vor allem seine zweite Amtszeit trug autoritäre Züge und endete abrupt mit einem monumentalen Korruptionsskandal. Doch zweierlei muß man dem Sohn mausarmer japanischer Einwanderer lassen: Er beendete in kürzester Zeit einen blutigen Guerillakrieg, der fast 70 000 Menschenleben gefordert hatte, und er verwandelte einen Failed State in eine aufstrebende Wirtschaftsmacht.
Als Fujimori 1990 gewählt wurde, stand Peru nach zwei Jahrzehnten Sozialismus mit einer vierstelligen Inflationsrate und einer Armutsquote von über 55 Prozent vor dem Zusammenbruch. Von der Müllabfuhr über die Stromversorgung bis hin zum Bergbau privatisierte er fast alle Staatsbetriebe, Zehntausende Beamte verloren ihre Jobs und Privilegien. Der Anfang war hart, doch das neoliberale Programm sorgte bald für das kontinentweit höchste Wachstum, von dem vor allem die Unterprivilegierten profitierten. Der entfesselte Wettbewerb brachte in den Elendsvierteln eine neue Generation von Unternehmern hervor, die Armutsquote sank über die Jahre auf unter 20 Prozent.
Nicht minder erfolgreich war Fujimoris Kampf gegen die maoistischen und leninistischen Guerillas, die, im Verbund mit den Kokain- und Raubbaukartellen, große Teile des Landes kontrollierten. Fujimoris Methoden waren hemdsärmelig, zweifellos landeten auch Unschuldige hinter Gittern. Doch die wahllosen Massaker, die die achtziger Jahre geprägt hatten, hörten schlagartig auf, ebenso die Mißhandlungen in den Gefängnissen, wie das Rote Kreuz und später auch die Fujimori keineswegs freundlich gesinnte Kommission für Wahrheit und Versöhnung (CVR) einräumten.
»Hunderte Politprozesse, die sich in Lateinamerika wie eine Seuche ausgebreitet haben«
Es mutet nachgerade zynisch an, daß Fujimori 2009 hauptsächlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Höchststrafe von 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Im Zentrum des Prozesses stand die Todesschwadron Grupo Colina, die noch unter Fujimoris Vorgängern gegründet und 1992, also am Anfang seiner Amtszeit, aufgelöst worden war. Da man Fujimori beim schlechtesten Willen keine direkte Verbindung zum Grupo Colina anhängen konnte, erfanden Juristen die Formel der »mittelbaren Täterschaft«, mit der man jeden Machthaber in Südamerika einsperren kann. Gemäß dieser Logik hatte der Präsident zuwenig getan, um den Terror noch früher zu stoppen.
Der Fall Fujimori ist einer von Hunderten Politprozessen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten wie eine Seuche über ganz Lateinamerika ausgebreitet haben. Besonders betroffen sind neben Peru, Kolumbien und Guatemala – also Ländern, die blutige Guerillakriege hinter sich haben – namentlich Argentinien und Chile, wo Militärdiktaturen eine Eskalation des linken Terrors in den siebziger Jahren ebenso brutal wie effizient im Keim erstickten. Und das ist kein Zufall: Ziel dieser Prozesse ist nicht weniger als eine amtlich beglaubigte Umdeutung der Geschichte.
Die Kubansiche Revolution sorgte in den sechziger Jahren für einen revolutionären Flächenbrand in ganz Lateinamerika. Weltweit genossen die Guerillabewegungen, die von Argentinien bis Mexiko wie Pilze aus dem Boden schossen, Sympathien bis tief in die Mittelschicht. Die Kitsch-Ikone »Che« Guevara – in Wahrheit ein bekennender Stalin-Fan, der in Kuba Hunderte, womöglich auch Tausende von vermeintlichen Klassenfeinden eiskalt hinrichten ließ – täuschte über den wahren Charakter der Dschungelkrieger hinweg.
»Universitäten und Schulen sind die Orte, wo Geschichte umgeschrieben wird«
Hinter der romantischen Fassade versteckten sich straff organisierte leninistische oder maoistische Kaderparteien, die oft von Moskau aus via Havanna kommandiert und trainiert wurden. So wie Kuba faktisch als russische Kolonie fungierte, waren auch die Guerillas ein Produkt des Kalten Krieges. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem etwas diskreteren Ende des Maoismus in China verschwand die marxistische Linke in Lateinamerika Anfang der neunziger Jahre vorübergehend von der politischen Bühne. Doch in den geschützten Biotopen staatlicher Universitäten und Schulen wucherten die Lehren von Lenin und Mao munter weiter. Und sie sind die Orte, wo die Geschichte geschrieben und umgeschrieben wird, wo Staatsanwälte und Richter geformt werden. Die Linken nutzten die Menschenrechte – die sie selbst mit Füßen traten, wo sie an die Macht kamen – als moralische Waffe. Doch am meisten haßten sie die »Neoliberalen« für deren Erfolge im Kampf gegen die Armut, die mit allen Tricks der Propaganda schlechtgeredet werden.
Sozialismus und vor allem der von Lenin – und nicht etwa von Marx – begründete Antiimperialismus war schon vor der Kubanischen Revolution ein Dauerbrenner in Lateinamerika. Eine Vorreiterrolle spielte in dieser Hinsicht der argentinische General und Caudillo Juan Perón – wie Fidel Castro übrigens ein Bewunderer von Mussolini –, der 1944 im Zuge eines Militärputsches als Vizepräsident und zwei Jahre später durch reguläre Wahlen an die Macht kam. Perón verstaatlichte von der Eisenbahn bis zur Industrie alles, was Geld brachte, und baute den Sozialstaat großzügig aus. Argentinien, Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine prosperierende Industrienation mit dem weltweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen, konnte sich nie mehr von dieser sozialistischen Radikalkur erholen und hangelt sich seither von Krise zu Krise. Peróns Sozialismus konnte auch das Aufkommen blutrünstiger marxistischer Guerillas Anfang der siebziger Jahre nicht verhindern, die von der Militärdiktatur um Jorge Rafael Videla brutal ausgelöscht wurden.
Mit demokratischen Wahlen (dank einem Zwist unter seinen Gegnern mit bloß 36,6 Prozent der Stimmen) kam 1970 im benachbarten Chile auch der bekennende Marxist Salvador Allende an die Macht. Die Geschichte wiederholte sich. Nach drei Jahren Verstaatlichungen und Radikalsozialismus stand Chile vor dem ökonomischen und sozialen Bankrott. Auch Augusto Pinochets Putsch war brutal. Doch ob es uns gefällt oder nicht – Pinochet wird bis heute, genau wie Videla von den Argentiniern, von vielen Chilenen als Retter der Nation geehrt.
Bereits zuvor, 1968, hatte in Peru General Juan Velasco Alvarado die Demokratie per Staatsstreich beendet. Im Gegensatz zu Pinochet und Videla wurde Velasco von der internationalen Gemeinschaft wohlwollend behandelt. Der General verpaßte Peru eine sozialistische Revolution, die selbst Allende und Perón neidisch machen mußte: von der Verstaatlichung aller Medien, Bergbauunternehmen und größeren Fabriken bis hin zur Enteignung der Großgrundbesitzer das volle Programm. Auch der peruanische Sozialismus versank bald in Massenarmut, Chaos und Korruption.
Was man den peruanischen Generälen – wie auch Videla und Pinochet – zugute halten kann: Sie bauten halbwegs stabile Demokratien auf, die bis heute leidlich funktionieren. Doch Peru war die Ausnahme. Alle anderen sozialistischen Diktatoren, ob in Kuba, Venezuela oder Nicaragua, sind nie freiwillig einer Demokratie gewichen. Und obwohl sie genauso gnadenlos foltern und morden wie die konservativen Militärs, konnten sie auf der internationalen Bühne stets mit Verständnis rechnen.
Nirgendwo ist der Sozialismus so offensichtlich gescheitert wie in Lateinamerika. Im Namen der Gerechtigkeit wurden mafiöse Systeme geschaffen, die einer kleinen Kaste Privilegien garantieren und das gemeine Volk zu Elend und Hoffnungslosigkeit verdammen. Derweil haben die »neoliberalen« Modelle in Peru und Chile gezeigt, daß auch in Lateinamerika Wohlstand und Fortschritt für eine breite Schicht möglich wären. Und trotzdem haben es gerade in jüngerer Zeit linke Populisten – Lula da Silva in Brasilien, Gustavo Petro in Kolumbien, Evo Morales in Bolivien, Gabriel Boric in Chile, Pedro Castillo in Peru, López Obrador in Mexiko – geschafft, mit dem ewig gleichen sozialistisch-antiimperialistischen Diskurs Wahlen zu gewinnen.
Die Erklärung dafür findet sich in der Geschichte, genauer: in der gefälschten Geschichte. 1971 schuf der Uruguayer Eduardo Galeano mit seinem Weltbestseller Die offenen Adern Lateinamerikas gleichsam die Bibel der Latino-Linken. Laut Galeano hat sich der Reichtum des Subkontinents an natürlichen Ressourcen als Fluch erwiesen. Vorweg die europäischen Kolonialmächte und später die USA mit ihren Multis beuteten diese Schätze gnadenlos aus und verhinderten systematisch eine eigenständige Entwicklung. Auch wenn Galeano sich nicht explizit auf Lenin oder Mao beruft, fügt sich sein Werk doch nahtlos in deren Thesen um den Imperialismus und die Dritte Welt ein.
Galeanos Werk fiel in die Zeit des »Latino-Booms«, als südamerikanische Autoren wie Gabriel García Márquez, Julio Cortázar oder Isabel Allende mit ihrem »magischen Realismus« in der ganzen Welt einen Sturm der Begeisterung auslösten. Und alle verteidigten selbstredend das Castro-Regime. Scharenweise pilgerten die Studenten nach Havanna, um den Errungenschaften der Revolution und »Che« Guevara ihre Reverenz zu erweisen. Ihr Narrativ der Ausbeutung geistert bis heute durch die Köpfe: Die einen sind so reich, weil die anderen so arm sind (oder umgekehrt); während der US-Imperialismus die übelsten Diktatoren unterstützt, sabotiert er systematisch hoffnungsvolle Reformen für eine gerechtere Verteilung des Reichtums mit Sanktionen und verdeckten Aktionen der CIA.
»Nirgendwo ist der Sozialismus so gescheitert wie in Lateinamerika«
1976 entlarvte der Venezolaner Carlos Rangel die Dependenztheorie der Drittweltisten in seinem (leider nie ins Deutsche übersetzten) Monumentalwerk Del buen salvaje al buen revolucionario (Vom Edlen Wilden zum guten Revolutionär) als hohles Geschwätz. Rangel zufolge fußt die Opferhaltung der Latinos gegenüber den USA auf Neid und Frustration angesichts ihres eigenen Unvermögens.
Als die dreizehn Kolonien an der Westküste am 4. Juli 1776 ihre Unabhängigkeit erklärten, waren die Vereinigten Staaten gemessen an den reichen spanischen Kolonien ein armer Zwerg. Anders als die Hispanoamerikaner, die nur wenig später mit der Unabhängigkeit eine bestehende und funktionierende Infrastruktur erbten, mußten die USA eine solche erst aufbauen. Doch während sich die Latinos in epische Verteilungskämpfe um Territorien, Privilegien und Pfründen verstrickten, bescherte die radikalliberale und föderalistische Verfassung den »Gringos« ein Wachstum, wie es die Menschheit zuvor noch nie erlebt hatte. Der freie Kapitalismus und die Demokratie waren der Planwirtschaft und dem Dirigismus in jeder Beziehung überlegen.
Daß es auch im Süden anders ginge, haben die Argentinier bewiesen. 1853 kopierte das damals ärmliche und weit abgelegene Land die US-Verfassung praktisch eins zu eins. Innerhalb weniger Jahrzehnte überholte Argentinien wirtschaftlich sein Vorbild sogar und wurde zum begehrtesten Einwanderungsland. Zwischen 1857 und 1912 wuchs das Eisenbahnnetz von Null auf 33 000 Kilometer. Die argentinische Justiz überführte 1892 – eine bahnbrechende Weltneuheit – erstmals eine Mörderin mittels Fingerabdruck. 1913 ging in Buenos Aires die erste U‑Bahn-Strecke des Landes in Betrieb.
Anders als in der linken Mythologie kolportiert, gehörte Kuba vor der Revolution 1959 zu den wohlhabendsten Ländern Lateinamerikas, mit einer breiten Mittelschicht und einem hohen Grad der Alphabetisierung. Es stimmt zwar, daß die USA im karibischen Raum zeitweise mit unappetitlichen Diktatoren wie Trujillo und Somoza kooperierten und immer wieder ihre Marines losschickten, um für Ordnung zu sorgen. Spätestens 1962, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationierte, wurde jedoch klar, daß sich die USA mit gutem Grund um ihre Sicherheit sorgten. Es stimmt auch, daß die CIA mit oft stümperhaften verdeckten Aktionen die Geschicke Lateinamerikas zu beeinflussen versuchte. Daß die Sowjets während des Kalten Krieges im großen Stil (und meist raffinierter) dasselbe taten, wird dagegen gern verschwiegen.
Die Castro-Brüder, Maduro oder Ortega stehen ganz und gar in der Tradition lateinamerikanischer Caudillos. Alle verkauften sie sich als nationalistische Retter der Armen, bauten Spitäler und Schulen. Das einzige, was Castro und Co. von früheren Tyrannen unterscheidet, ist ein Heer von Historikern, Publizisten und Juristen, die die Geschichte umschreiben und Verbrecher zu Helden verklären. ◆
ALEX BAUR,
geb. 1961, schrieb Reportagen für NZZ, Stern und Geo, lebt und arbeitet als Korrespondent der Weltwoche in Lima. Seine langjährige Erfahrung als Reporter in Lateinamerika ist auch Gegenstand seines Buches Der Fluch des Guten.