Mit Angela Merkels Abschied von der Politik verflüchtigt sich auch ihre Vision von der Europäischen Union. Merkels Thron wird wahrscheinlich vakant bleiben. Ohne die Unterstützung weiterer Länder kann auch Emmanuel Macron Merkels Projekt einer vertieften europäischen Einigung nicht fortsetzen. Wir sind Zeugen einer Zeitenwende: Rückblick auf eine Ära, die zu Ende geht.
Was auch immer man von dem Projekt der europäischen Einigung halten mag – eine Frage hat die EU bis heute nicht beantwortet: »Was möchtest du werden, wenn du mal groß bist?« Nicht alle Mitglieder hätten das von Anfang sagen können. Die Einigkeit über Ziel und Zweck der Reise kam erst später, unter der Führung von Angela Merkel. Sie schlichtete Streitigkeiten, nickte Rettungspakete ab, bot strauchelnden Ländern deutsche Hilfe an und unterstützte, was den europäischen Einigungsprozeß vertiefte. Mit Merkel am Steuer schien die EU wenigstens eine Richtung zu haben. Das war einmal.
Nach der jüngsten Wahlniederlage ihrer Partei in Hessen teilte die Kanzlerin mit, daß sie nach achtzehn Jahren an der Spitze der CDU nicht mehr als Parteivorsitzende kandidieren werde. Darüber hinaus kündigte sie an, daß sie bei der nächsten regulären Bundestagwahl 2021 auch nicht mehr für die Kanzlerschaft antreten wolle, die sie seit 2005 innehat. In ihrer Amtszeit hat Merkel vier französische Präsidenten, vier britische Premierminister und sieben Politiker erlebt, die versucht haben, Italien zu regieren. Ihr Rückzug wird offenbar noch eine Weile dauern, aber parallel dazu wird bereits das Ableben ihrer Vision von Europa erkennbar.
Gegenwärtig ist weit und breit niemand zu erkennen, der das Schiff so steuern könnte wie das Merkel im vergangenen Jahrzehnt als eine Art Kaiserin von Europa getan hat. Und das liegt vor allem an der Art und Weise, wie Merkel das größte politische Gewicht Europas in die Waagschale geworfen hat, es liegt an ihren Entscheidungen, an ihrer Härte und an ihrer Hybris. Das Projekt Merkel war ein Europa der unerreichbaren Ziele, es war der zum Scheitern verurteilte Versuch, seit Urzeiten souveräne Länder zu lenken, und es war das zutiefst uneuropäische Ansinnen, den glücklicherweise buntesten Flickenteppich der Welt zur Einförmigkeit zu zwingen.
Seltsamerweise ist es noch gar nicht lange her, daß Merkel und ihre Vision von Europa unangreifbar schienen. Der erste Anhauch ihrer politischen Vergänglichkeit stieg im September 2016 mit der Landtagswahl von Mecklenburg-Vorpommern auf, als die nur drei Jahre zuvor gegründete AfD Merkels Partei auf einen demütigenden dritten Platz verwies. Dann kam die Bundestagswahl 2017, in der die CDU ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 einfuhr. Merkel brachte sechs beschämende Monate damit zu, andere Parteien zur Regierungskoalition zu überreden, während sie sich gleichzeitig wiederholten Anfeindungen ihrer Kritiker im eigenen Lager erwehren mußte, allen voran von Horst Seehofer.
Es ist unschwer zu erkennen, warum sie sich gegen die Chefin wandten. Merkels größtes Pfund, alles mit der Unbeweglichkeit eines Felsblocks auszusitzen, wurde auf einmal zum größten Hindernis. Plötzlich war sie diejenige, die mit ihrer Unnachgiebigkeit den dringendsten Veränderungen in Europa im Wege stand. In Wahrheit hatte sich ihre Unnachgiebigkeit bereits vor den beiden großen Herausforderungen ihrer Amtszeit als katastrophal erwiesen, vor der Finanzkrise und vor der Einwanderungswelle.
Unter Merkels Führung baute Europa seine Einheitswährung weiter aus, statt zunächst einen einheitlichen Staat zu schaffen. Als der wacklige Euro von der globalen Finanzkrise erwischt wurde, hatte Merkel zwei Möglichkeiten. Sie hätte den deutschen Wählern erklären können, daß sie vom Euro profitiert hatten. Daß ihre Exporte dank einer Währung rasant angestiegen waren, die der IWF für bis zu dreißig Prozent unterbewertet hält. Und daß nun die Zeit gekommen sei, die EU in eine echte Transferunion umzuwandeln, mit Finanzausgleich von den reichen zu den ärmeren Ländern. Oder aber sie hätte die Tatsache akzeptieren können, daß die Eurozone lauter Volkswirtschaften zusammenzwingt, die schlicht zu unterschiedlich sind, als daß, um es vorsichtig zu sagen, Deutschland und Griechenland sich jemals auf eine gemeinsame Haushaltsführung einigen könnten. Und daß ein geordneter Austritt unumgänglich sei.
Aber Mutti die Unbewegliche tat weder das eine noch das andere. Sie überwachte stattdessen eine sadistische Austeritätskur für Südeuropa. Sie verzichtete darauf, die Eurozone für die nächste Krise zu wappnen, und sie schuf die Voraussetzungen für Ereignisse, die schließlich ihren Sturz einleiteten.
»Das ist kein vertiefter Einigungsprozeß. Vielmehr destabilisiert die EU den
Kontinent mit ihrer Reformunfähigkeit.«
In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit auf ein historisches Tief von fünf Prozent gefallen. In Italien dagegen sind es zehn Jahre nach der Krise zehn Prozent – sowie erschütternde 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, während es vor dem Crash nur 19 Prozent waren. Die fiskalische Zwangsjacke, in die Merkel die Italiener steckte, verordnet von Bürokraten, die Berlin und Brüssel ihnen vor die Nase gesetzt hatten, trug zum Entstehen einer ganzen Generation von Italienern bei, die ohne jede Aussicht auf Arbeit ins Leben trat. Und die dementsprechend offen für andere politische Parteien war, die ihr versprechen würden, ganz neue Wege zu gehen. Hätte Italien seine eigene Antwort auf den Crash geben dürfen, wäre die Sache anders ausgegangen. Joseph Stiglitz monierte am Projekt Merkel, daß es Länder »mit höchst unterschiedlichen Volkswirtschaften und sozialen Verhältnissen, aber ohne die lebensnotwendige Möglichkeit, ihre Wechselkurse und ihre Zinsen anzupassen«, aneinandergefesselt hat. Was man in Berlin offenbar für die Verteilung von Lasten hielt, wurde in Athen und Rom deutlich anders wahrgenommen. Und nun schlagen die politischen Konsequenzen wie ein Bumerang auf die Urheber zurück.
Aber der Fehler, der sich als Wendepunkt für Merkels Kanzlerschaft und ihre Europapolitik erweisen sollte, war die Migrationskrise. Auf deren Höhepunkt im Herbst 2015 bewies Merkel nicht nur einmal mehr ihre Unerschütterlichkeit, sondern auch eine atemberaubende Fähigkeit zum Alleingang. Solange die Krise andauerte, glaubte sie anscheinend, daß sie das Recht habe, im Namen eines ganzen Kontinents zu regieren. Als sie im August und September jenes Jahres unilateral die Öffnung der Grenzen und die Einleitung von Asylverfahren verkündete (»Wir schaffen das«), hatte sie nur wenige ihrer Kollegen konsultiert und die Warnungen keines einzigen erhört.
Erst als Deutschland gestürmt war, wurde die Anmaßung der Kanzlerin deutlich – und mit ihr die Konsequenzen. Nachdem Europa aus ihrer Sicht die Lasten der Finanzkrise solidarisch geteilt hatte, sollten sich die Mitgliedstaaten nun auch an den Rechnungen beteiligen, die Merkel in Berlin während ihres moralisch induzierten Rauschzustands angehäuft hatte. Aber damit stieß sie im übrigen Europa auf taube Ohren. Von Westminster bis Warschau wollte keiner für Entscheidungen haften, von denen bekannt war, daß die eigene Wählerschaft sie unverzeihlich fand.
Über Nacht wurde aus dem Stabilitätsanker Merkel ein wilder Zocker, der mit der Zukunft seines eigenen Landes spielt. Mit jeder Wahl rückte Europa weiter von ihr ab. Die Ungarn taten es als erste – und am lautesten. Berlin und Brüssel reagierten auf die vergifteten Beziehungen, indem sie die Visegrad-Staaten arrogant als Nachwuchseuropäer abkanzelten, die noch nicht kapiert hatten, wie der Hase läuft. Nach dem Brexit war dieses Narrativ ganz schön lädiert. Als dann mit Italien sogar ein Gründungsmitglied der EU andere Wege ging, war es gar nicht mehr zu gebrauchen. Zehn Jahre fremdgesteuerter Austeriät hatten die Fünf-Sterne-Bewegung gemästet. Und die Lega Nord konnte sich von den Erfahrungen befeuern lassen, die Italien aus erster Hand mit Merkels Einladung an die Welt gemacht hatte.
Inzwischen erleben wir, wie sich die Krise weiter dahinschleppt. Erst kürzlich hat die EU den Haushaltsentwurf der neuen Regierung abgelehnt und die Italiener dazu verdonnert, ihre Rechenaufgaben zu machen – unter Androhung von Strafzahlungen in Milliardenhöhe. Es sieht nicht danach aus, als würde sich die italienische Regierung auf den Hosenboden setzen, um am Ende das verlangte Ergebnis zu präsentieren. Zumal sich Opposition gegen die Merkelei bei italienischen Politbarometern auszahlt. Laut Meinungsumfragen hat die Lega Nord ihre Stimmenanteile seit den Wahlen im März fast verdoppelt. Irgendwann könnten sie an die Wahlurne zurückkehren und mit einem Ergebnis aufwarten, das den Norden des Kontinents in einen noch schrecklicheren Alptraum stürzt. Italien hat die Nase voll.
Dasselbe gilt für Griechenland und Polen, die ebenfalls ungemütlich werden. Ihre Politiker starten die üblichen Erpressungsversuche. Der polnische Präsident und einige Parlamentarier von Syriza verlangen einmal mehr Reparationen für den Zweiten Weltkrieg. Beide Länder behaupten, daß Deutschland sie für die Verbrechen in der Nazizeit nicht ausreichend entschädigt habe. Präsident Duda zitiert Gutachten, wonach insbesondere die verheerenden Schäden in der Hauptstadt Warschau »nicht entschädigt wurden«. Derweil verlangt ein überparteilicher Bericht aus Griechenland 299 Milliarden Euro für die Schäden aus der Zeit der deutschen Okkupation. Daß die Griechen darauf verzichteten, die Summe aufzurunden, kann man nur bewundern.
Wohin man auch schaut und was immer man empfindet, das Fazit ist ein und dasselbe: Das ist nicht das Europa des vertieften Einigungsprozesses. Vielmehr destabilisiert die EU den Kontinent mit ihrer merkelmäßigen Weigerung oder Unfähigkeit zur Reform. Die Kanzlerin hinterläßt ein Land, in dem die AfD zur stärksten Oppositionspartei wurde, wo bei Protesten in Chemnitz und andernorts Hitlergrüße beobachtet wurden, und wo alle Leute nur über den Zweiten Weltkrieg zu reden scheinen.
Wahrscheinlich bleibt Merkels Platz leer, denn es gibt nur einen einzigen Politiker in Europa, der überhaupt den Ehrgeiz hat, ihn zu besetzen. Emmanuel Macron steht vor dem französischen Dauerproblem, daß sein Volk ständig für die Revolution stimmt und sich gegen jede Veränderung wehrt. Aber der französische Präsident hat sich jahrelang auf die Führung Europas vorbereitet und ganze Traktate über die Reform der EU verfaßt. Er will die Eurozone noch mehr zentralisieren, er will einen EU-Finanzminister und einen gemeinsamen Haushalt installieren. Dafür braucht er deutsches Geld: Bereits im Frühjahr warnte er Deutschland, daß »wir unsere Ziele nicht allein erreichen können«.
Merkel war bereit, seine Pläne für die Eurozone zu unterstützen, wenn Macron ihr im Gegenzug bei der »europäischen Lösung« für das Migrationsproblem helfen würde. Das hätte auch klappen können. Aber jetzt, da Merkel ihren Rückzug angekündigt hat, verliert Macron den einzigen wahren Verbündeten, den er hatte. Salvini wird ihm bestimmt nicht unter die Arme greifen. Und auch keines der anderen Länder ist noch fähig, die immer zahlreicheren Widerständler auf Kurs zu bringen.
Außer Macron und der EU-Kommission hat niemand die Lektion der Merkeljahre verinnerlicht, daß »mehr Europa« und weniger nationalstaatliche Souveränität die Zukunft seien. Eher schwingt das Pendel in die andere Richtung. Solange die Kommission nicht aus lauter Supermännern besteht, die nach der Weltherrschaft greifen, scheint der Thron Europas vakant zu bleiben.
Die Europäische Union hat eine Zukunft. Nur nicht die, die es auf dem Höhepunkt der Ära Merkel zu sein schien. Brüssel und Berlin konnten die Lage beurteilen wie sie wollten – während Merkels Kanzlerschaft litt der Kontinent immer mehr. Ein Land nach dem anderen entschied sich, das nicht länger mitzumachen. Wir erleben das Ende einer Ära. Aber nicht das Ende der Welt. ◆
Aus dem Englischen übertragen von Andreas Lombard.
DOUGLAS MURRAY
geb. 1979, ist u. a. Mitherausgeber des Spectator, schreibt u. a. für The Sunday Times, Standpoint, The Guardian und The Wall Street Journal. 2018 erschien die deutsche Ausgabe seines Bestsellers Der Selbstmord Europas im FinanzBuch Verlag. Sein Originalbeitrag »Angela Merkel is on her way out – and so is her vision for the EU« erschien am 3. November 2018 in The Spectator.
Cato dankt Douglas Murray und dem Spectator für die freundlich erteilte Genehmigung zu Übersetzung und Nachdruck.