Plädoyer für einen Politikwechsel
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Kaiser Alexander I. von Rußland (r.) trifft am 15. März 1813 Friedrich Wilhelm III. von Preußen bei Spahlitz in Schlesien. (Gemälde von Woldemar Friedrich)
Unter den Publikationen zum Hintergrund des Krieges in der Ukraine verdient das im Frühjahr dieses Jahres abgeschlossene und kürzlich im Frankfurter Westend Verlag erschienene Buch Mit Rußland. Für einen Politikwechsel besondere Beachtung. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von fünf Beiträgen zum Thema und in dessen Umfeld.
Den Anfang bildet als Vorwort die knapp und prononciert zusammengefaßte, an anderer Stelle ausführlicher dargelegte Sicht des früheren EU-Kommissars Günter Verheugen zum Konflikt im Osten Europas. Verheugen, der eigene Erfahrungen einbringt, lenkt den Blick vor allem auf die Vorgeschichte und den weltpolitischen Zusammenhang des Krieges: die Intention der USA, »einen lästigen Mitspieler im geopolitischen Schachspiel so zu schwächen, daß er sich für lange Zeit mit einem Platz in der zweiten oder dritten Reihe der Weltpolitik hätte begnügen müssen«. Diese Feststellung, verbunden mit einer grundlegenden Kritik an der Haltung der EU und der Einzelstaaten der Union, die ohne alternative Planungen den USA gefolgt seien, sich dabei wirtschaftlich geschwächt und als globaler Akteur marginalisiert hätten, beinhaltet, wohlgemerkt, keine Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs.
Die Einleitung des Buches stellt das zentrale, schon im Titel zum Ausdruck kommende Anliegen ins Zentrum: »Frieden und Sicherheit in Europa gibt es nur mit Rußland – nicht ohne und nicht gegen Rußland.« Dabei konstatieren die Autoren ein nahezu vollständiges Scheitern der Linie des Siegfriedens der vom Westen unterstützten Ukraine im Verteidigungskrieg mit Rußland – dieses stehe vielmehr militärisch, wirtschaftlich und politisch (nach innen wie nach außen) stärker da als vor drei Jahren. Auch wenn von den alarmistischen Warnungen vor weiteren militärischen Aggressionen Rußlands vor dem Hintergrund eines nüchternen Vergleichs der beiderseitigen Potentiale wenig übrigbleibt, birgt die allseitige Aufrüstung nebst der Entwicklung neuer militärischer Fähigkeiten und der Modernisierung der Atomwaffenarsenale vor dem Hintergrund des Verfalls der Rüstungskontrolle eine wachsende Kriegsgefahr in Europa, und sei es infolge unbeabsichtigter Eskalationen.
Der tiefschürfende Beitrag des langjährigen Redakteurs des Bremer Weser-Kuriers Jürgen Wendler, »Der Westen am Scheideweg«, deutet den Ukrainekrieg, wiewohl dessen Ausbruch und Fortgang auch das Ergebnis eines Fehlverhaltens der westlichen Seite sei, als Höhepunkt fataler längerfristiger Fehlentwicklungen. Es geht Wendler um grundlegende Fragen der »westlichen Zivilisation«, die einerseits durch Individualismus, Pluralismus und Aufklärung gekennzeichnet ist, andererseits durch die expansive Dynamik des Kapitalismus, Industrialismus und Imperialismus, befördert von der protestantischen Arbeitsethik und der Naturwissenschaft. In seinem Verständnis des kollektiven Westens und seines Niedergangs greift Wendler auf das Konzept unterschiedlicher Kulturkreise zurück, insbesondere auf Samuel P. Huntingtons »Kampf der Kulturen«.
Gefährdet sieht der Autor den Westen nicht nur durch das Nachlassen der Wirtschaftskraft, des Bildungsniveaus und der Arbeitsmoral, sondern auch durch den Verlust der Fähigkeit zur wissenschaftlichen Selbstkritik; konstatiert wird ein Paradigmenwechsel. Als Beispiele führt er den nachweislich irregeleiteten Umgang mit der Corona-Pandemie und die dogmatische Festschreibung der Ursachen des Klimawandels an. So drohe eine der großen Stärken der abendländischen Kultur – Skepsis und Kritikfähigkeit gegenüber dem Wissen und seinem Gebrauch – verlorenzugehen. Zudem: »Werden aktuelle Experteneinschätzungen zum Maß aller Dinge erhoben, geraten die Freiheitsrechte einzelner zur Verfügungsmasse.« Zu befürchten sei, daß die kombinierten Einflußmöglichkeiten superreicher Kapitalisten, namentlich der Tech-Milliardäre, und einer den Informationsfluß kontrollierenden und den Staat »delegitimierende« Meinungen sanktionierenden Staatsmacht die Substanz der westlichen Identität – Freiheit und Pluralismus – ruinieren.
Was hat alles das nun mit dem Verhältnis Rußlands zur Ukraine und zum Westen zu tun? Wie alle politischen Fragen müßte dies vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Interesses analysiert werden. Der geopolitische Blick der Supermacht des 20. Jahrhunderts, der USA, wie schon der Blick jener des 19. Jahrhunderts, Großbritanniens, auf die Bedeutung, die die Herrschaft über die Meere und der ungehinderte Zugang zu den ausländischen Märkten für sie hatte und weiterhin hat, ist seit Halford Mackinder und Nicholas J. Spykman auf den eurasischen Großkontinent, die Möglichkeit seiner Kontrolle und die ultimative Gefahr eines deutsch-russischen beziehungsweise chinesisch-russischen Bündnisses gerichtet. In gewisser Weise wurden in den neunziger Jahren geopolitische Grundgedanken von dem einflußreichen Politikberater Zbigniew Brzeziński aufgegriffen, der darüber nachdachte, wie die USA ihre Stellung als einzigartige Weltmacht bewahren könnten. Unter dieser Prämisse seien sowohl die Nato-Osterweiterung seit 1999 als auch die Absicht, sie auf die Ukraine auszudehnen, zu betrachten, wenngleich es wie stets in der politischen Elite auch abweichende Positionen gab, etwa die von Henry Kissinger.
Das neben dem geostrategischen zweite Motiv ausländischer Begehrlichkeiten im Hinblick auf die Ukraine – besonders fruchtbare Böden, Vorkommen von wichtigen Industriemetallen (insbesondere seltenen Erden) und Kohle, in geringerem Maß von Erdöl und Erdgas – ist durch die ungeschminkten Aussagen der Trump-Regierung offenkundiger geworden. Die Eigenschaft eines enormen Rohstoffreichtums gilt für das flächenmäßig gigantische Rußland noch mehr als für die Ukraine, und Phantasien, einen territorialen Zerfall Rußlands zu betreiben, haben im östlichen Mitteleuropa heute wieder Konjunktur. (Schon der deutsche Theologe und Publizist Paul Rohrbach, das sei hinzugefügt, wollte im Ersten Weltkrieg das Russische Reich zerteilen »wie eine Apfelsine« und namentlich die Ukraine »befreien«.)
Weiter heißt es: »Die Aussage russischer Entscheidungsträger, sie sähen die Gefahr einer existentiellen Bedrohung durch den Westen, klingt vor diesem Hintergrund« – zu dem nicht zuletzt die Stationierung von US-Raketen in Polen und Rumänien gehört – »keineswegs absurd.« Und das Messen mit zweierlei Maß in völkerrechtlichen Fragen, etwa im Hinblick auf den Krieg der Nato gegen Serbien 1999, ist so offensichtlich, daß zumindest das Ausmaß medialer Formierung erstaunt.
Mit der deutschen »Heimatfront« beschäftigt sich der Beitrag von Stefan Luft, Historiker und Politikwissenschaftler an der Universität Bremen. Von der Feststellung ausgehend, daß ein außenpolitischer Konfrontationskurs ohne ein gewisses Maß an Massenunterstützung nicht machbar sei, nimmt der Verfasser zunächst den offiziell geheimgehaltenen »Operationsplan Deutschland« in den Blick, der der Vorbereitung des gesamten Gemeinwesens auf den Spannungs- beziehungsweise Verteidigungsfall dient, konkretisiert und vertieft durch das Grünbuch Zivil-Militärische Zusammenarbeit. »Politisierende Militärs«, so Luft, forcieren einen Mentalitätswechsel und die Ausrichtung auf den potentiellen Gegner Rußland in einer Situation des Noch-nicht-Kriegs.
In einem zweiten Schritt untersucht der Autor die politischen Akteure, mit dem wenig überraschenden Ergebnis, daß mit Abstufungen alle länger etablierten Parteien der Bundesrepublik eine Linie »bedingungsloser Aufrüstung«, Nato-Loyalität und Kriegsfixiertheit verfolgen, während das BSW, Die Linke und – dort kombiniert mit der Befürwortung einer Aufrüstung Deutschlands zwecks Landesverteidigung – die AfD widerstreben. Vor allem CDU/CSU und die Grünen haben sich in den vergangenen Jahren bemüht, den zögernden und bei den Waffenlieferungen teilweise bremsenden Bundeskanzler Scholz voranzutreiben, jedoch nur teilweise erfolgreich.
Frappierender noch als die Haltung der Parteien (und im wesentlichen auch der Kirchen) ist die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nahezu uniforme Haltung der etablierten Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungsmedien, mit der sie die Lesart der Nato zum Ukrainekrieg verbreiten und stützen beziehungsweise 2022 bis 2024 gestützt und die Bundesregierung unter Druck gesetzt haben. Dabei kamen Vertreter abweichender Positionen, darunter immerhin frühere Spitzenpolitiker, -gewerkschafter und -militärs, wenig und allenfalls als chancenlose, weil in hoffnungsloser Minderheit befindliche Watschenmänner zu Wort. Wurde über dissentierende Einschätzungen berichtet, handelte es sich in der Regel um Unterstellungen und Entstellungen. In diesem Punkt wären meines Erachtens sogar noch schärfere Aussagen als in dem Buch möglich. Charakteristisch ist auch die formelhafte Sprache der Medien, in der selbst bei wiederholter Erwähnung vom »völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg«, vom »russischen Machthaber« (statt neutral vom Präsidenten) und vom »russischen Regime« (statt von Rußland, der Russischen Föderation oder dem russischen Staat) die Rede ist.
Daß die ungezügelte Aufrüstung trotz der deutlichen militärischen Überlegenheit der Nato (außer auf dem Feld der Atomwaffen) suizidale Züge trägt, hat die Ankündigung der deutschen und der US-Regierung vom 10. Juli 2024 deutlich gemacht, ab 2026 weitreichende Raketen modernsten Typs, wenn auch zunächst nicht atomar bestückt, in Deutschland – und zwar nur in Deutschland – zu stationieren. Anders als vor viereinhalb Jahrzehnten in bezug auf die Nato-»Nachrüstung« fand weder eine öffentliche Debatte statt, noch ist eine Befassung des Parlaments vorgesehen, noch wurde die Ankündigung mit einem Verhandlungsangebot kombiniert.
Der Essay des in Polen geborenen und weiterhin an der Schnittstelle zwischen Polen und Deutschland arbeitenden Publizisten Jan Opielka wiederum eröffnet eine neue Dimension des Verständnisses. Die politische Zeitgeschichte mit soziokulturellen Befunden und Überlegungen kombinierend diagnostiziert Opielka im einst auch als »Zwischeneuropa« bezeichneten ostmitteleuropäisch-südosteuropäischen Raum – Ausnahmen sind neben Serbien bekanntlich Ungarn und die Slowakei – die Abwendung von dem in den achtziger Jahren von Intellektuellen in kritischer Absicht (wieder) eingeführten Mitteleuropa-Konzept und statt dessen eine kritiklose, nahezu blinde, mehr oder weniger überparteiliche Hinwendung speziell zu den Sicherheit verheißenden USA – eine Entwicklung, die er hauptsächlich am polnischen Fall verdeutlicht.
Diese durch die einst allenfalls halbsouveräne Stellung des Landes unter der Kuratel der Sowjetunion erklärbare Haltung vernachlässigt indessen mentale Elemente des »kulturellen Ostens«, die nicht einfach verschwunden seien und die der Verfasser im Fortwirken eines hinter den westlichen Rationalismus zurückreichenden »Ehre-Denkens« wahrnimmt, ohne daß dieses als kulturelle Gemeinsamkeit mit dem russischen Osten begriffen würde. Ebenso hat sich im Unterschied zum westlichen Individualismus stärker ein überkommener Kollektivismus als slawisches Erbe erhalten. In Polen läßt sich beides etwa bei der Verherrlichung des massenhaften Opfertodes beim Warschauer Aufstand vom August/September 1944 konstatieren. Diese Ehre-Vorstellungen würden in das Agieren des »Übervater-Staats USA« hineininterpretiert, wobei dessen offensichtliche Eigeninteressen und die Schattenseiten seiner politischen Handlungen übersehen würden.
Im Hinblick auf die Wahrnehmung Rußlands und des Ukrainekriegs bedeutet dies, ihn statt der erkennbaren Parallelen mit dem Ersten Weltkrieg, namentlich mit dem Stellungskrieg an der deutschen Westfront, mit dem Zweiten Weltkrieg in eins zu setzen, also Rußland = NS-Deutschland, und Putin = Hitler. Diese Optik, die schwächer ja auch im westlichen Europa verbreitet ist, macht jede Kontextualisierung, jede Analyse einer Eskalationsdynamik unmöglich. Opielka weist zu Recht darauf hin, daß – wie schon de Gaulle wußte – auch heutzutage unterschiedliche Grade faktischer Souveränität existieren und man als Angehörige einer Spitzengruppe nur die USA, China und Rußland ausmachen könne, wobei die Atomwaffen eine erstrangige Rolle spielen. Westdeutschland war vor 1990 nicht nur im formellen Sinn eingeschränkt souverän. Soll heißen: Die freie Bündniswahl der Ukraine darf nicht der Dreh- und Angelpunkt der zwischenstaatlichen Ordnung im Osten des Kontinents sein, zumal andere Prinzipien, etwa die Sicherheit besonders der benachbarten Staaten, gleichrangig sind.
Gegen die in diesem Buch versammelten fünf Beiträge ist aus meiner Sicht kaum etwas einzuwenden; sie fügen sich, mit teilweise neuen Aspekten, in eine ganze Reihe seit 2023 erschienener kritischer Bücher, Aufsätze und Zeitungs- beziehungsweise Online-Artikel ein. Die Aussagen über die Anschauungen und die Haltung der etablierten politischen Parteien ließen sich insofern differenzieren, als es in ihnen allen beträchtliche Unterschiede gibt. Für die SPD ist das am ehesten bekannt, wobei die Abweichler von der Linie der Führung zahlreicher sind als allgemein bekannt und unter den Mitgliedern dieser Partei zumindest eine große Minderheit ausmachen dürften. Auch in der CDU/CSU und selbst bei den Grünen gibt es dissentierende Einstellungen, doch sofern es dabei um bekannte und noch aktive Politiker geht, bleiben diese weiterhin in der Deckung. Es sind jedenfalls nicht allein Peter Gauweiler und Horst Teltschik …
Kritisch könnte gegen das vorliegende Buch eingewendet werden, daß Rußland als Akteur kaum vorkommt. Dessen Entwicklung seit 1991 zu einem auf Rentenökonomie basierenden Oligarchenkapitalismus und einem autoritären, im zurückliegenden Jahrzehnt mehr und mehr diktatorischen Regime einschließlich der imperialen Agenda seiner Herrschenden ist ein Faktor, der identifiziert und gewichtet werden muß. Daraus ergibt sich keineswegs automatisch die Ablehnung der von den Autoren aufgezeigten Perspektive von Entspannung und Gemeinsamer Sicherheit. Fraglos ist die Einteilung der Welt in freiheitliche Demokratien (das Gute) und »Autokratien« (das Böse) ein destruktives, das Agieren »des Westens«, namentlich der USA, verschleierndes Narrativ!
Auch die innerukrainische Vorgeschichte des Krieges, die meist zu kurz kommt, wäre eine Abhandlung wert gewesen: das Ringen unterschiedlicher Oligarchenfraktionen und politischer Gruppierungen seit der Unabhängigkeit vor dem Hintergrund muttersprachlich-kultureller, auch konfessioneller Unterschiede. Paradoxerweise dürften die russische Kriegführung und das rabiate Regime in der Ostukraine das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Ukrainer inzwischen deutlich gestärkt haben. – Alles das sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Es handelt sich im eigentlichen Sinn ja nicht um ein Buch über die Ukraine.
Die in kultivierter Sprache wohltuend nüchtern formulierenden, kenntnisreich und durchaus nicht uniform argumentierenden Autoren haben hier ein Buch vorgelegt, das dem interessierten Lesepublikum gutbegründete Argumente an die Hand gibt und zur Weiterbeschäftigung animiert. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben es versäumt, in ihrem ureigenen Interesse einen Friedensschluß in der und für die Ukraine zu befördern; ein Plan B hat nicht existiert. Die Chancen für einen auch für die Ukraine wenigstens akzeptablen, das Selbstbestimmungsrecht nicht kraß mißachtenden Frieden sind in den dreieinhalb Jahren grausamen Kriegsgeschehens nicht größer, sondern kleiner geworden. EU-Europa steht vor einem Scherbenhaufen, die Welt befindet sich im Anfangsstadium eines neuen, noch gefährlicheren kalten Krieges. ◆
PETER BRANDT,
geb. 1948 in Berlin, Historiker und Publizist, war bis 2014 Professor für Neuere deutsche und europäische Geschichte an der Fernuniversität in Hagen; thematisch diverse Buch- und Aufsatzpublikationen.