Alle großen Hochkulturen kennen eine erste, intensive, spirituelle, künstlerische Phase und eine zweite, extensive, materialistische, technologische. Wissen und Technik werden nun nicht mehr in den Dienst einer höheren Sache gestellt, nämlich der Pflege von Seelenheil und Gottesdienst, sondern dienen der materiellen oder intellektuellen Selbstüberhebung des Individuums
Das dramatische Schwinden der Allgemeinbildung erklärt, warum viele Mythen, die bislang ausschließlich linksliberalen Zirkeln eigen waren, nunmehr Allgemeingut geworden sind und nicht mehr in Frage gestellt werden (dürfen). Das dunkle Mittelalter, das tolerante al-Andalus, das »Und sie dreht sich doch!«, die Greuel von Inquisition und Hexenverbrennung, das unterdrückerische Patriarchat, der kategorische Imperativ, »Jeder soll nach seiner Façon selig werden«, 1789 als Sternstunde der Menschheit, die unsichtbare Hand der Wirtschaft, der Nationalstaat als Synonym für Genozid, der noch nie wirklich umgesetzte Sozialismus, »My body, my choice« – die Liste derartiger folgenreicher mentaler Versatzstücke ließe sich fortsetzen. Ein wichtiger Teil dieser Mythen ist die Überzeugung, daß die »Befreiung« der Philosophie von der Theologie, die Gründung der europäischen Universitäten, das vorurteilslose Forschen und der humanistische ebenso wie der technologische »Aufschwung« des Abendlandes kausal irgendwie miteinander verbunden seien und zudem eine Art Alleinstellungsmerkmal unserer Kultur gegenüber den angeblich rückständigen, da »fundamentalistischen« anderen Zivilisationen darstellen. Alles an dieser Überzeugung ist falsch – wirklich alles.
Der Gedanke, daß Wahrheit etwas ist, dem man sich durch eine objektive Debatte annähert, ist so alt wie das Denken und findet sich nicht nur im Vorderen Orient und natürlich zur Zeit der Antike, sondern auch in den gewaltigen geistigen Lehrgebäuden der Kirchenväter und Scholastiker: Niemand, der auch nur einige Seiten von Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin oder Nikolaus von Kues gelesen hat, kann ernstlich behaupten, Debattenkultur sei etwas, das erst in der Frühen Neuzeit dank der »Überwindung« der Kirche eingeführt wurde. Gerade die europäische Universitas war seit frühesten Zeiten darauf gegründet, Wissen eben nicht nur als passive Ausbildung zu verstehen, sondern als diskursiv Erworbenes, Verifiziertes und Weiterentwickeltes; man denke hier etwa an die schon früh geübte Sitte der Disputatio.
Der Mythos von der Kirche
als Bremse der Technologie ist reiner Humbug
Auch der Mythos von der Kirche als Bremse der Technologie ist reiner Humbug: Schon im Hochmittelalter war das Abendland der Antike in vielem technisch überlegen. Die atemberaubende Leistung der Kathedralen, die systematische Anwendung gewaltiger Wassermühlen etwa im Bereich der Schmiedekunst, die Erfindung mechanischer Uhren und sonstiger Apparaturen, der Bau hochseetüchtiger Schiffe oder die rasante Weiterentwicklung der Feuerwaffen: all das gab es lange vor Reformation und Renaissance und meist unter dem expliziten Patronat der Kirche, des ultimativen Horts von Wissenschaft und Technik.
Das 16. Jahrhundert stellte freilich in der Tat einen wichtigen Bruch dar und führte zu einer ungeahnten quantitativen Verbreitung der bisherigen Errungenschaften. Doch ist dieser Schnitt kein Spezifikum des Abendlandes: Im Rahmen ihrer jeweiligen Weltbilder kennen auch alle anderen großen Hochkulturen eine erste, intensive, spirituelle, künstlerische Phase und eine zweite, extensive, materialistische, technologische. Wissen und Technik werden nun nicht mehr in den Dienst einer höheren Sache gestellt, nämlich der Pflege von Seelenheil und Gottesdienst, sondern dienen zur Bereicherung von Herrschern, Händlern und Großbürgern. Ob im Mittleren und Neuen Reich in Ägypten, im China der Frühlings- und Herbstzeit und der Streitenden Reiche oder in der klassischen und hellenistischen Periode der Antike: überall erleben wir dieselbe Dialektik, bevor es dann zur imperialen Synthese und zur zivilisatorischen Petrifizierung kommt.
Diese Entwicklung hat im Abendland zu einer nie dagewesenen Expansion geführt, doch ist diese von Anfang an eher der faustischen Hybris unserer Kultur zuzuschreiben als einer wie auch immer gearteten gesamtmenschlichen Teleologie – gotische Kathedrale und Wolkenkratzer sind zwei Seiten derselben Medaille. Und wenn die Problematik der Moderne erst seit dem 20. Jahrhundert derart überdeutlich geworden ist, so liegen die Wurzeln doch viel tiefer, wie das Böckenförde-Diktum so eindringlich zeigt: Erst heute, da auch die letzten Residuen der vormodernen Grundlagen unserer Zivilisation abgeräumt worden sind, zeigen sich die letzten Konsequenzen des philosophischen Relativismus in ihrer ganzen Schärfe.
Auch die Universitäten ernten nunmehr die Früchte dieses Relativismus, wie er in Poppers Forderung kulminierte, daß selbst in den Geisteswissenschaften nur das als wahrhaft wissenschaftlich gelten sollte, was faktisch falsifizierbar sei – ein Gedanke, der in seiner vulgärszientistischen Interpretation enormen Schaden angerichtet hat, weil er letztlich die Suche nach einer absoluten und entsprechend nur transzendent zu begründenden Wahrheit zusammen mit allem, was von einem solchen Postulat philosophisch, historisch oder kulturell abzuleiten ist, als unwissenschaftlich gebrandmarkt und als »Ideologie« völlig in den Hintergrund gerückt hat. Die Forderung nach der Falsifizierbarkeit einer jeglichen Argumentation hat einen Großteil der bisherigen, transzendent verankerten Zugänge zur Welterkenntnis zu einer »Privatphilosophie« degradiert und die Wissenschaften somit um eine wesentliche, ja entscheidende Dimension verarmen lassen. Ebenso wie in der Gesellschaft die Laizität der Religion den Todesstoß versetzte, weil sie sie als angebliche Privatsache aus dem öffentlichen Raum drängte und sie auf diese Weise um ihren Absolutheitsanspruch brachte, sollte nun auch angebliche »Ideologie« aus der Wissenschaft verschwinden. Dies geschah in dem vollen Bewußtsein, daß bereits die Forderung, freiwillig auf Transzendenz zu verzichten, keineswegs ein Zeichen von »Offenheit« darstellt, sondern vielmehr Ausdruck von Ideologie par excellence ist: Das Relative wird nicht etwa zur Einhegung, sondern zum Todesstoß des Absoluten, dem es nebst seinem Postulat der Einzigartigkeit auch seine Identität nimmt
Heute ist das Relative
zum Todesstoß des Absoluten geworden
Wo Erkenntnis aber von Anfang an als relativ gesetzt wird, muß Wahrheit in den Wissenschaften durch Zitierfrequenz und Bibliometrie ersetzt werden und eine akademische Konkurrenz schaffen, in der ultimativ das Recht des stärkeren, das heißt des politisch wie medial besser vernetzten Gelehrten regiert. Und wo bereits die Möglichkeit einer Erkenntnis absoluter Wahrheit negiert bzw. als rein vorläufige, auszuhandelnde Mehrheitsentscheidung betrachtet wird, ist es nur logisch, daß auch die Finanzierung der Forschung nicht etwa einer gleichmäßigen und gerechten staatlichen Fürsorge, sondern dem Wettbewerb um Gelder aus der »freien Wirtschaft« und politisierten Fonds überlassen wird – mit der verhängnisvollen Folge, daß Wissenschaftler von ihren Universitäten gezwungen werden, erst zu Managern, dann zu ideologischen Sykophanten zu werden, damit sie ihre Tätigkeit überhaupt noch ausüben können.
Was bedeutet das alles aber für uns Heutige? Der moderne Konservative befindet sich angesichts der gegenwärtigen Ereignisse in einer Zwickmühle. Einerseits spürt er instinktiv, daß das Eindringen etwa des Islams in die Universitäten etwas ist, das unbedingt aufgehalten werden muß, und er ist daher nur allzu bereit, den Worten der Liberalen von der Universität als ideologiefreiem Schutzraum Glauben zu schenken, zumal wenn diese sich rhetorisch auf die großartige europäische Vergangenheit beziehen (mit der sie freilich nur die Aufklärung meinen). Andererseits jedoch kann er gar nicht anders, als festzustellen, daß jene »Freiheit« faktisch zu einer Hegemonie woken Denkens mutiert ist, das kaum weniger ideologisch und fundamentalistisch daherkommt und die wahre Identität des Abendlands ebenso bedroht wie der Islam. Aber ist das nun ein Grund, gegen beide Bedrohungen zugunsten einer sehr spezifischen Vision von »Freiheit« zu kämpfen, deren relativistischer Grundgehalt doch die eigene Untergrabung erst möglich gemacht hat?
Denn die gegenwärtigen Verfallsprozesse der Wissenschaft sind die Konsequenz des immer wieder auftretenden zivilisatorischen Irrtums, daß an die Stelle der Annahme von der transzendenten Wahrheit der Homo-mensura-Satz gesetzt wird, der Mensch sei das Maß aller Dinge, und daß die alte Regel von der Philosophie als Magd der Theologie – der Nachordnung des Rationalismus hinter die Annahme von der einen Wahrheit – auf den Kopf gestellt und der Relativismus zum monistischen und letztlich nihilistischen Prinzip erhoben wird. Hieraus ergibt sich aber auch die einzig wahre Antwort auf die Krise: Nötig wäre ein radikales Umdenken darüber, worum es in der Wissenschaft überhaupt gehen soll, eine neue, gleichsam Cluniazensische Reform der Bildung, die die Freiheit und Sicherheit des Wissenschaftlers, die Garantie seines unangefochtenen Interesses an grundlegenden Fragen und die Einbindung seiner Forschung in ein übergeordnetes Streben nach dem Wahren. Guten und Schönen wieder radikal in den Mittelpunkt stellt und damit zum Sinn der ursprünglichen ganzheitlichen Universitas zurückkehrt. ◆
DAVID ENGELS,
geb. 1979 in Verviers, ist Professor für Römische Geschichte an der Université libre de Bruxelles (ULB) und Forschungsprofessor am Instytut Zachodni (West-Institut) in Posen. Er schreibt regelmäßig für Cato.