Dr. phil. Klaus-Rüdiger Mai, 1963 in Staßfurt/Sachsen-Anhalt geboren, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die künstlerischen, philosophischen und wirtschaftlichen Kulturen Europas. Mai ist Essayist, Publizist und erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor. Seine jüngste Publikation ist Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen
Lieber Herr Mai, auch wer nur Ihre Texte zur Tagespolitik kennt, weiß, daß Sie nicht dem linken Lager angehören. Mußten Sie sich zum Schreiben einer Sahra-Wagenknecht-Biographie zwingen?
Nein, zwingen mußte ich mich nicht. Es hat mich fasziniert, daß jemand, der so von links kommt wie Sahra Wagenknecht, bis weit ins konservative Lager hineinwirkt. Nicht wenige Konservative und sogar Liberale sind von ihr angetan und von dem, was sie an politischer Statur mitbringt. Sie entwickelt eine Wirkung, die im deutschen politischen Betrieb einzigartig ist. Das erzählt nicht nur viel über sie, sondern auch über unsere Zeit. Das hat mich interessiert.
Soll das heißen, unter Politikern vom Kaliber eines Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Helmut Kohl würde Frau Wagenknecht weniger hell leuchten, als sie das heute tut?
Vermutlich schon. Die von Ihnen genannten Politiker wirkten auf ihre Wähler authentisch, und solche Politiker gibt es derzeit in Deutschland nicht, und Sahra Wagenknecht verkörpert jene Sehnsucht nach dem authentischen Politiker, den viele Deutsche offenbar vermissen.
Ist Frau Wagenknecht eine Selbstdarstellerin?
Nein, auch wenn das, was sie unternimmt, von fern wie Selbstdarstellung aussieht. Ich nenne es Selbstmystifikation, denn sie zielt darauf, sich als alleinstehend, als erratisch, als die Wahre, als die Ehrliche und als diejenige zu inszenieren, die, wenn es not tut, auch gegen die eigene Partei agiert. Selbst dann, wenn ihr das temporär schadet.
Das hat sie mit der Gründung einer neuen Partei eindrücklich bewiesen, die als BSW, als Bündnis Sahra Wagenknecht, sogar ihren Namen trägt.
Allerdings. Für mich ist sie eigentlich die einzige Politikerin weit und breit, die ihre Karriere nicht mit der Partei, sondern gegen die Partei gemacht hat, und sie hatte damit Erfolg.
Das haben die »klassischen« Kommunisten von Marx bis Mao immer so gemacht. Sie nannten es den »Kampf der zwei Linien«.
Wäre Sahra Wagenknecht auch als Mann möglich gewesen, soll heißen, nicht als Wiedergängerin von Rosa Luxemburg, sondern als Wiedergänger von Karl Liebknecht?
Nein, und das aus zweierlei Gründen. Erstens weil Karl Liebknecht, anders als Rosa Luxemburg, überhaupt gar nicht die theoretische Relevanz besaß. Und zweitens wäre ein Mann, der in den neunziger Jahren der Bundesrepublik erklärt, mit Walter Ulbricht hätte die DDR siegen können, aber mit Honecker mußte es schiefgehen, ein nicht ernstzunehmender Linksreaktionär gewesen. Also ein Mann von gestern. Wenn aber eine junge, schöne Frau als Rosa Luxemburg auftritt und sogar noch das Grenzregime der DDR und die Berliner Mauer verteidigt, dann hat das vor allem in der Medienwelt das gewisse Etwas. Anders gesagt: Sahra Wagenknecht hat von Anfang an ihre Karriere über die Medien gemacht und auch nur über die Medien machen können.
Ist Frau Wagenknecht von allein darauf gekommen, sich als Wiedergängerin von Rosa Luxemburg zu inszenieren?
Ich denke, das kam von dem Schriftsteller und Dramatiker Peter Hacks …
… der mit seinem Schauspiel Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe einen Welterfolg landen konnte.
Richtig. Hacks, der sich in der DDR als Klassiker und Wiedergeburt Goethes in Szene gesetzt hat, war von 1987 an rund zehn Jahre der erste große Förderer und Mentor von Sahra Wagenknecht. In einem Briefwechsel zwischen Hacks und André Müller schreibt Hacks im wohlwollend lobenden Sinn »unsere Rosa« und bezieht sich auf einen Wagenknecht-Aufsatz zum Thema »Marxismus und Opportunismus«, der innerhalb der PDS für einen veritablen Skandal gesorgt hat.
Eine Ihrer Zwischenüberschriften lautet: »Nunmehr Madonna des Neokommunismus«. Wie ist das gemeint?
Sie wurde in den Neunzigern in manchen Medien so genannt. Ich fand diese Bezeichnung insofern ganz interessant, als der Kommunismus keine Religion, aber eine Heilslehre war. Und Wagenknecht hatte auch – und das ist der Punkt, warum das treffend ist – stets etwas Unnahbares, Kühles, also das, was auch Heiligen zugeschrieben wird.
»Sahra Wagenknecht will einen kreativen Sozialismus. Aber auch das ist Sozialismus.«
Unnahbar und kühl soll sie schon als Kind gewesen sein.
Das sagt sie über sich selbst. Sie ging nicht in den Kindergarten, mit anderen Kindern konnte sie wenig anfangen. Sie hielt sich fern von den anderen, lernte sehr früh lesen und versenkte sich in die Welt der Bücher. Darum wird ihr größter Schritt der von der Theoretikerin, von der Stubengelehrten, von der Introvertierten zur Politikerin gewesen sein. Sie ist bekanntlich bis heute kein Volkstribun. Mir wurde mehrfach glaubwürdig beschrieben, daß sie zwei verschiedene Stimmen hat, eine private und eine öffentliche.
Eine andere Zwischenüberschrift lautet: »Die Erfindung der Sahra Wagenknecht«. Dazu gehört, daß sie das h in ihrem Vornamen in die Mitte gesetzt hat. In ihrem Geburtsregister steht das h noch am Ende von »Sarah«. Konnte sie sich von ihrem Platz am Fenster hinaus in die Welt nur in der Rosa-Luxemburg-Maske wagen?
Das weiß ich offen gestanden nicht. Aber wir können uns dem ja nähern. Und zwar gehen wir mal vom Faktischen aus. Faktisch ist: Die DDR bricht zusammen. Wagenknecht nennt das die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Sie geht auch nicht zu den großen Demonstrationen in Berlin oder Leipzig. Sie guckt sich das auch nicht an. Und dann, als die Mauer aufgeht, fährt sie nicht wie Hunderttausende andere sofort hinüber in den Westen. Sie verbarrikadiert sich vor der Wirklichkeit, und statt dessen studiert sie die Geschichte der Arbeiterbewegung und Marx und Hegel. Schließlich kommt sie als versierte Theoretikerin zur Politik und wird als junge Frau sehr zügig Vorstandsmitglied der PDS. Doch jetzt muß sie agieren, und für einen im Kern introvertierten Menschen ist es gewiß hilfreich, das in einer Maske zu tun. Und die Maske der Rosa Luxemburg hilft innerhalb einer kommunistischen Partei und schließlich auch außerhalb, und so ist es bis heute geblieben.
Was hat Sahra Wagenknecht wirtschaftspolitisch anzubieten?
Sie will einen kreativen Sozialismus. Aber auch ein kreativer Sozialismus ist ein Sozialismus. Sie will das Beste aus beiden Welten, soll heißen, aus Kapitalismus und Sozialismus. Doch das wird nicht funktionieren. Das Beste aus beiden Welten ergibt eben keine dritte Welt. Letztendlich ist das, was sie macht, sehr geschickt: Sie interpretiert den Ordoliberalismus …
… der die reine Marktwirtschaft mit einem staatlichen Ordnungsrahmen einhegen soll …
… extrem sozialistisch. Wagenknechts Lösungsvorschläge sind aus meiner Sicht fragwürdig.
Ebenso fragwürdig wie die grüne Wirtschaftspolitik?
Ja. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Zwar haben beide die gleiche Vorstellung, daß der Staat viel stärker als Akteur in Erscheinung treten muß. Doch was Sahra Wagenknecht von Robert Habeck unterscheidet, ist, daß sie an die Eigentumsverhältnisse herangehen möchte, während die Grünen die privaten Eigentumsverhältnisse belassen, diese allerdings – Stichwort Wärmepumpengesetz – de facto auflösen. Sahra Wagenknecht schlägt beispielsweise eine Vermögensteuer für Konzerne vor. Die soll jedoch nicht an den Staat abgeführt werden, sondern mit dieser Vermögensteuer werden Anteile am Konzern gekauft, und die kommen wiederum der Mitarbeitervertretung zugute. Und wenn man das so macht, dann werden sich laut Wagenknecht die Mitarbeiter für die genuinen Belange des Konzerns einsetzen und nicht wie das Management für kurzfristige Profitinteressen. Das ist die alte sozialistische Milchmädchenrechnung, an der schon die DDR zugrunde gegangen ist. Wagenknechts wirtschaftspolitische Vorstellungen sind nicht mehr als das reformierte, erneuerte Volkseigentum in einem neuen Gewand.
Hat das Bündnis Sahra Wagenknecht eine Zukunft oder ist es ein »reines Medienphänomen«? Das jedenfalls meint der Staatsminister und Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider. Er gehört der SPD an.
Das kann man aus SPD-Sicht natürlich sagen, nur hilft das nicht einmal der SPD weiter. Fragen wir doch umgekehrt: Woher kann das BSW seine Stimmen holen? Wie ich das sehe, sind das die Stimmen der Linken und die Stimmen der traditionellen SPD-Wählerschaft und vielleicht noch ein paar CDU-Stimmen und von den sogenannten Nichtwählern. Aber sie wird keine einzige Stimme von den Grünen bekommen.
Und AfD-Wähler wechseln nicht zum BSW?
Auch, aber weniger, als man denkt.
Sahra Wagenknecht ist 2019 mit ihrer Bewegung Aufstehen gescheitert. Wird sie auch mit dem Bündnis scheitern?
Mit Aufstehen hat sie versucht, eine Bewegung innerhalb der linken Parteien zu etablieren, die diese linken Parteien dahin bringt, wieder etwas sozialpolitischer zu werden. Aufstehen war ein überparteilicher Versuch, einen sozialpolitischen Flügel linker Parteien zu etablieren. Das ist fürchterlich nach hinten losgegangen, daraus hat Wagenknecht gelernt. Allerdings ist das BSW momentan noch ganz in westdeutscher und Berliner Hand. Dort gibt es außer Sahra Wagenknecht keine ostdeutschen Vertreter. Das wird sich mit den neuen ostdeutschen Landesverbänden mit Sicherheit ändern. Und dann wird sich zeigen, ob die Partei wirklich ein schlagkräftiges Zentrum entwickelt oder ob sie viele Federn und kein Vogel ist.
»Wagenknechts Lösungsvorschläge sind fragwürdig.«
Oskar Lafontaine hat 1988 noch als saarländischer Ministerpräsident schon einmal eine ostdeutsche Frau erobert, das war die Liedermacherin Bettina Wegner. Wegner, Jahrgang 1947, hat als Schulmädchen Josef Stalin verehrt, und wie sie selbst erzählt, hat es gefunkt, als ihr Lafontaine nach einem Konzert bei einem Abendessen in größerer Runde das Stalin-Lied auf georgisch vorsingen konnte, und die Affäre Lafontaine–Wegner hatte immerhin neun Monate Bestand. Ist Lafontaine mit diesem Trick auch bei der Ex-Stalinistin Sahra Wagenknecht erfolgreich gewesen?
Das weiß ich leider nicht. Aber ich werde versuchen, es für die zweite Auflage meines Buches herauszufinden.
Herr Mai, vielen Dank für das Gespräch! ◆
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato. In Heft 1/2024 erschien sein Beitrag »Kunst oder Künstler«. »Zu einer Kultur, in der die Lüge unter der Maske der Wahrheit und der Information auftritt, zu einer Kultur, die nur das materielle Wohlergehen sucht und Gott leugnet, sagen wir nein«