»Die richtige Frage lautet für mich: Wann wird der Westen endlich für seine Werte einstehen und Rußland Grenzen für sein Verhalten aufzeigen? Das ist bisher kaum passiert«
Die Herrschaftsgeschichte der Habsburger ist außerordentlich und komplex. Der Aufstieg der Fürstenfamilie zu einer der mächtigsten in Europa begann im Spätmittelalter. Aus ihr gingen 21 römisch-deutsche Könige und Kaiser hervor. Das Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae endete, nachdem der fast ganz Europa beherrschende Napoleon sich mit eigener Hand zum Kaiser gekrönt und im August 1804 von Kaiser Franz II. ultimativ die Anerkennung gefordert hatte. Militärisch geschlagen, hatte Franz keine Wahl. Er blieb aber Kaiser Österreichs. Die nunmehr Kaisertum Österreich genannte Herrschaft existierte bis 1867, hieß von da an Österreichisch-Ungarische Monarchie und endete 1918 nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Karl I. war ab 1916 letzter Kaiser von Österreich und als Karl IV. auch Apostolischer König von Ungarn. Sein Sohn Otto ist der Vater von Gabriela von Österreich-Ungarn, die auf diesen Eintrag in ihrer Geburtsurkunde verzichtet und sich »von Habsburg-Lothringen« nennen läßt. Otto von Habsburg-Lothringen starb am 4. Juli 2011 in seinem Haus in Pöcking am Starnberger See. Gabriela von Habsburg-Lothringen (* 1956 in Luxemburg) lebt auf der anderen Seeseite in einem Haus, in dem sich ihre Eltern verlobt haben – ihre Mutter war die 2010 verstorbene Prinzessin Regina von Sachsen-Meiningen. Gabriela von Habsburg-Lothringen ist Bildhauerin und besitzt seit 2007 die georgische Staatbürgerschaft. Vom 6. November 2009 bis zum 14. März 2013 war sie Botschafterin Georgiens in der Bundesrepublik Deutschland. Auch nach ihrer Abberufung ist sie als Kunstprofessorin in Tiflis weiter mit Georgien verbunden. Ich habe Gabriela von Habsburg 2009 als Botschafterin kennengelernt und sie kürzlich in ihrem Haus am Starnberger See besucht, um mit ihr über Europa und den Krieg in der Ukraine zu sprechen.
Europa ist generell ein großes Thema, und für Ihre Familie ganz besonders. Das Haus Österreich hat einst halb Europa regiert. Und Ihr Vater, Otto von Habsburg, war für die CSU von 1979 bis 1999 Abgeordneter des Europäischen Parlaments und hat sich innerhalb der Paneuropa-Union für die europäische Einigung engagiert. Welches Bild von Europa hat Ihnen Ihr Vater vermittelt?
Wir haben bei Tisch meist über Politik geredet. Da wurde natürlich viel von seinen Überzeugungen gesprochen. Ich habe auch seine Reden wahnsinnig gern angehört, die ich immer spannend fand, und deswegen habe ich ihn so gerne zu seinen Vorträgen begleitet. Mein Vater hat schon immer gesagt: Die große Problematik, die wir jetzt in Europa haben, ist, daß wir reich und schwach sind. Und jetzt sehen wir seit zwei Jahren, in was für einem Zustand die gesamte Verteidigung Europas ist.
Hat Otto von Habsburg denn schon im Europaparlament für eine gemeinsame europäische Verteidigung geworben?
Die Verteidigungspolitik hat er als eines der Themen angesehen, die auf europäischer Ebene angesiedelt sein sollten. Ich erinnere mich daran, daß er oft gesagt hat, wir brauchen ein funktionierendes Militär, und wir müssen eine gute Verteidigung darstellen, denn nur wenn man eine Verteidigung hat, hat man auch eine Abschreckung. Und wenn man die Verteidigung abbaut und trotzdem die Wirtschaft immer mehr wächst, dann ist man ein reiches, aber schwaches Land. Ein Problem unserer Demokratien ist bekanntlich, daß wir bei uns immer nur von einer Wahlperiode zur anderen denken. China und Rußland dagegen können in ganz anderen und viel längeren Perioden denken und planen. Heute sehen wir, wie lange Rußland den Angriff auf die Ukraine geplant hat. 2008 war schon beim Georgienkrieg die erste Situation, wo Europa hätte reagieren und aufwachen müssen.
Beim Georgienkrieg 2008 waren Sie noch nicht Botschafterin von Georgien in der Bundesrepublik Deutschland?
Richtig, ich bin erst am 6. November 2009, also nach dem Krieg, Botschafterin geworden.
Ich erinnere mich an Gespräche, die wir damals in der georgischen Botschaft geführt haben. Sie haben damals vehement bestritten, daß Georgien den Krieg provoziert hat.
Allerdings, und das ist ja inzwischen auch hinlänglich bewiesen. Das Gegenteil war eine sehr geschickte Pressekampagne, die mit Sicherheit ganz stark von Rußland gesteuert worden ist. Und schon damals hätte Europa aufwachen und scharf reagieren müssen. Und schon damals war es mir klar, daß das nächste Opfer die Krim sein wird, und genauso kam es dann auch. Aber selbst als Rußland die ersten Grenzen in Europa 2014 mit militärischer Macht neu gezogen hat, hat Europa immer noch versucht wegzuschauen.
Aber ist es nicht eher umgekehrt? Ist es nicht eigentlich so, daß die Nato, angeführt von den USA, seit 1990 unentwegt Rußland provoziert? Hatte man denn damals den Sowjets bei den Verhandlungen für die deutsche Wiedervereinigung nicht versichert, die Nato würde sich nicht nach Mittel- und Osteuropa erweitern? »Not one inch«, keinen Schritt nach Osten, hatte man den Russen versichert, und dann hat sich die Rote Armee aus Deutschland ohne einen einzigen Schuß zurückgezogen. Heute wird von interessierter Seite natürlich bestritten, daß man das damals so vereinbart hat.
Es hat mit Sicherheit damals der deutsche Außenminister beruhigend gesagt, wir werden die Nato nicht erweitern. Aber wie kann ein deutscher Außenminister sich anmaßen, für die gesamte Nato zu sprechen? Es gab niemals etwas Schriftliches. Es gab niemals etwas, wo die Nato unterschrieben hat: Wir werden keine Osterweiterung machen. Und da komme ich jetzt zu einem anderen Punkt, der noch ganz wichtig ist.
Die Nato macht überhaupt keine aktive Erweiterung. Aber die Nato ist ein offenes Verteidigungsbündnis. Und wenn ein Land alle Kriterien erfüllt, dann kann man erwägen – einstimmig –, daß dieses Land in die Nato aufgenommen wird. Aber es ist nicht so, daß die Nato sagt: Ach, jetzt holen wir uns das nächste Land, wir wollen jetzt Rußland umzingeln. Das ist absolut nicht der Fall. Zur Unabhängigkeit gehört aber auch, daß das Land selbst entscheiden darf, welchem Verteidigungsbündnis es sich anschließen möchte. Das steht sowohl der Ukraine als auch Georgien als souveränen Staaten zu.
Gesetzt, es trifft historisch und faktisch exakt so zu, wie Sie sagen. Dann bleibt gleichwohl die Tatsache, daß die Nato immer näher an die russische Grenze gerückt ist und nun in der Ukraine sogar an dieser Grenze steht, und für nicht wenige politische Beobachter ist es absolut nachvollziehbar, daß Rußland das nicht hinnehmen kann. Es ist deshalb nachvollziehbar, weil die USA es auch nicht hinnähmen, wenn sich die Russen militärisch in Mexiko engagieren würden. Übrigens: Nicht wenige sind davon überzeugt, daß der sogenannte Euromaidan 2014 ein von der CIA inszenierter Putsch gewesen ist.
Das sehe ich völlig anders. Es mag sein, daß vielleicht die CIA irgendwann einmal den Euromaidan mit unterstützt hat. Nur: Eine CIA kann es nicht schaffen, so viele Menschen auf einen Platz zu bringen. Das ist nicht möglich. Der Euromaidan war ein Freiheitskampf der Ukrainer.
Ist es denn möglich, daß Rußland diesen Krieg verliert?
Ja, ich glaube, daß Rußland den Krieg verlieren kann. Das ist momentan die einzige Chance. Darum muß die Ukraine weiterhin mit Waffen aus dem Westen unterstützt werden. Wenn Rußland gewinnt, wird es weitermachen.
Was ist damit gemeint?
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit meinem russischen Kollegen nach meiner Amtszeit als Botschafterin, mit dem ich davor keine Gespräche geführt habe, weil wir keine diplomatischen Beziehungen hatten. Ich habe ihn gefragt, wie weit Herr Putin gehen wird. Und da hat er mich nur angelacht und gesagt: »Bis Paris gehen wir nicht.«
Inzwischen erlauben die westlichen Führer der Ukraine, mit westlichen Waffen Ziele in Rußland anzugreifen. Präsident Putin droht mit Konsequenzen, manche im Westen meinen, das sei nur ein Bluff. Sehen Sie das auch so?
Putin könnte den Krieg sofort beenden, indem er seine Truppen aus der Ukraine abzieht. Solange er aber wöchentlich unter anderem viele zivile Ziele in der Ukraine angreift, muß sich die Ukraine verteidigen. Wie lange der Krieg noch dauert, hängt damit nur von Putin ab. Ob seine Drohung gegenüber dem Westen ein Bluff ist oder nicht, hängt damit vom Westen ab. Im Moment glaube ich nicht, daß er einen Nato-Staat direkt angreifen würde.
Werden die Nato-Staaten eine Niederlage der Ukraine akzeptieren?
Die Nato-Staaten sind demokratisch regiert und werden irgendwann kriegsmüde. Darauf setzt Putin. Aber was bedeutet eine Niederlage der Ukraine? Daß Rußland die brutal eroberten Gebiete Krim und Donbass behalten darf? Oder daß Rußland Kiew erobert? Daß Rußland weiter ethnische Säuberungen, Vergewaltigungen und Kindsentführungen durchführen darf und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird? Die richtige Frage lautet für mich: Wann wird der Westen endlich für seine Werte einstehen und Rußland Grenzen für sein Verhalten aufzeigen? Das ist bisher kaum passiert.
Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann will 900 000 deutsche Reservisten mobilisieren, und die SPD-Linke will Rußland zum Schlachtfeld machen. Wie beurteilen Sie diese Aussagen?
Irgendwie amüsiert es mich, daß vor zwanzig, dreißig Jahren alle Linken Freunde der Russen waren – man denke etwa an Willy Brandt oder Gerhard Schröder – und plötzlich diese Position an die andere Seite des politischen Spektrums abgegeben haben. Das kann sich auch schnell wieder ändern. Niemand sollte Schlachtfelder herbeiwünschen. Das wissen besonders die Menschen, die in jüngerer Zeit echte Schlachtfelder, verursacht von russischen Soldaten in anderen souveränen Ländern, besucht haben.
Der Historiker Christopher Clark hat sein Buch zum Ersten Weltkrieg »Die Schlafwandler« genannt. Es gibt Kommentatoren, die auf dem Standpunkt stehen, daß wir in Europa im Falle der Ukraine erneut in einen Weltkrieg hinein schlafwandeln. Ist das eine unberechtigte Sorge?
Leider gibt es derzeit in Europa keine weitsichtige politische Führung. Auch mein Vater hat oft beklagt, daß Außenpolitik nur vor dem Hintergrund der nächsten Wahl betrieben wird. Dadurch entsteht das Risiko, daß kurzfristige Lösungen langfristig große Probleme verursachen. Da ist die Analogie mit dem Schlafwandler durchaus zutreffend. Ich hoffe aber sehr, daß wir vor einem echten Weltkrieg aufwachen. Dafür ist es nie zu spät.
Der französische Anthropologe Emmanuel Todd schreibt in seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten Buch La Défaite de l’Occident (publiziert in den Éditions Gallimard, Paris 2024), der Westen verfüge über keine kollektiven Glaubenssätze mehr, die Reden von Menschenwürde könnten nicht »die geistige Leere und den offenkundigen Nihilismus kaschieren« und der Krieg in der Ukraine hänge unmittelbar mit dem »westlichen Nihilismus« zusammen. Teilen Sie diese Sichtweise?
Die Menschenwürde leitet sich für mich davon ab, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Wenn man Religion und Kirche komplett aus dem öffentlichen Leben entfernt, dann höhlt man die Werte aus, auf denen unsere westliche Gesellschaft aufgebaut war. Diese Entwicklung ist sehr gefährlich, da stimme ich dem Zitat völlig zu.
Allerdings ist Rußland selbst völlig wertefrei. Es ist ein Staat mit mafiösen Strukturen, in dem nur das Recht des Stärkeren zählt. Deshalb werden dort Menschenrechte mit Füßen getreten, Oppositionelle mißhandelt und umgebracht, Nachbarländer mit Krieg überzogen, Städte bombardiert und Frauen und Kinder systematisch mißhandelt. Diese Grausamkeit sollte jeden Menschen mit einem Wertefundament abschrecken und nicht anziehen.
Napoleon hat Rußland selbst mit einer Riesenarmee nicht besiegen können, und auch das deutsche NS-Reich hat das mit einer noch größeren Armee nicht vermocht. Jetzt fließt seit mehr als zwei Jahren viel Blut auf beiden Seiten der Front. Warum also jetzt keine Friedensverhandlungen?
Vor den Friedensverhandlungen müßte Rußland die Krim wieder an die Ukraine zurückgeben und den Donbass auch.
Das müßte dann wohl ein russischer Präsident tun, der nicht Putin heißt.
Veränderungen können in Rußland nur von innen heraus gelingen, von außen nicht.
Sie hoffen auf einen Regime Change?
Ja, im Zweifelsfall eine Art von Regime Change. Ich weiß nicht genau, wie der aussehen soll, aber er muß von innen kommen. Wir können das nicht überstülpen. Und ich glaube, wenn Putin Präsident bleibt, dann wird es uns Stückchen für Stückchen und Ländchen für Ländchen und Scheibchen für Scheibchen an den Kragen gehen. Deswegen müssen wir diese territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen.
Das klingt jetzt politisch sehr ambitioniert. Warum sind Sie nach Ihrer Zeit als Botschafterin nicht in die Politik gegangen? Warum nicht wie Ihr Vater als deutsche Europapolitikerin?
Aber ich bin keine Deutsche.
Sie haben keine deutsche Staatsbürgerschaft?
Nein, die habe ich nie gehabt. Sonst hätte ich auch nicht Botschafterin für Georgien in Deutschland sein können.
Das heißt, Sie sind nach wie vor georgische Staatsbürgerin?
Ja klar. Und ich müßte eigentlich dort auf der Straße stehen und gegen das Agentengesetz demonstrieren.
Bleibt ohne politisches Mandat also die Kunst. Sie sind bekanntlich eine sehr erfolgreiche Bildhauerin.
Ja, ich bin auch sehr gerne Künstlerin und unterrichte nach wie vor an der Freien Universität in Tiflis.
Wie oft müssen Sie dort präsent sein?
Ich mache pro Semester immer im Blockseminar Projekte mit den Studenten. Und wenn ich weiß, daß ein Semester terminlich gar nicht geht, dann rede ich mit meiner Dekanin und sag ihr, das Semester haut es nicht hin, und dann bin ich im nächsten Semester wieder da. Also das geht eigentlich ganz toll, weil ich da auch ganz tolle Assistenten habe. Daneben organisiere ich regelmäßig Projekte für meine Studenten in Europa – auch wenn mich das neuerdings dort zu einer gefährlichen Agentin macht.
Frau von Habsburg, vielen Dank für das Gespräch! ◆
INGO LANGNER,
geb. 1951 in Rendsburg, lebt in Berlin. Autor, Literaturkritiker und Publizist sowie lange Zeit Fernsehproduzent und Theaterregisseur; heute Chefredakteur von Cato. In Heft 1/2024 erschien sein Beitrag »Kunst oder Künstler«. »Zu einer Kultur, in der die Lüge unter der Maske der Wahrheit und der Information auftritt, zu einer Kultur, die nur das materielle Wohlergehen sucht und Gott leugnet, sagen wir nein«