»Kurt Schumacher hat gesagt: ›Wir sind deutsche Patrioten und demokratisch-sozialistische Internationalisten‹, und das könnte ich auch für mich sagen«, so Peter Brandt, Jahrgang 1948, Sohn von Willy und Rut Brandt. Der Publizist, Historiker und emeritierte Professor für Neuere und Neueste Geschichte im großen Cato-Interview.
Foto: Cato/Tano Gerke
Peter Brandt und Chefredakteur Ingo Langner in der Cato-Redaktion
Sind Sie ein Patriot, Herr Brandt?
»Patriot«, das klingt ja immer wie ein Fanfarenstoß, und viele assoziieren »right or wrong, my country«. Kurt Schumacher hat gesagt: »Wir sind deutsche Patrioten und demokratisch-sozialistische Internationalisten«, und das könnte ich für mich auch sagen. Das hört sich zwar für viele Menschen an wie zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Aber Schumacher hat bekanntlich den Patriotismus vom Nationalismus unterschieden. In der wissenschaftlichen Diskussion benutzt man übrigens den Begriff »Nationalismus« meist wertfrei. Wenn ich als Historiker über das frühe 19. Jahrhundert schreibe, dann ist »Nationalismus« nichts Denunziatorisches. Aber wir wissen, wie das Wort seit langem umgangssprachlich benutzt wird. Es gibt unzählige Äußerungen von führenden Sozialisten bzw. Sozialdemokraten, daß die nationale Gemeinschaft jene Handlungs- und Identifikationsgröße ist, die einer internationalen Zusammenarbeit und Integration zugrunde zu legen ist. Die Vorstellung, daß nationale Gemeinschaften sich gewissermaßen in irgendeine Art von Globalgesellschaft auflösen, ist unrealistisch und vielleicht auch nicht wünschenswert. Ein europäischer Bundesstaat, der dereinst entstehen mag, wird aufbauen auf den nationalen Gemeinschaften.
Und der sogenannte Verfassungspatriotismus? Was denken Sie über den?
Ein solcher Verfassungspatriotismus muß sich im deutschen Fall auf deutsche Traditionen stützen, die es ja gibt. Womit ich die freiheitlichen und demokratischen, namentlich verfassungsstaatlichen Traditionen in Deutschland meine. Wenn man hingegen Verfassungspatriotismus als einen Menschenrechtsuniversalismus versteht, dann hat dieser nichts Spezifisches mehr. Genausogut könnte man dann ja Schleswig-Holstein an Dänemark oder das Rheinland an Frankreich angliedern. Die heute weitverbreitete Vorstellung, daß die ethnisch-nationale Dimension überhaupt keine Rolle mehr spielt, ist wirklichkeitsfremd und wird sich letzten Endes auch nicht durchsetzen.
»Dem deutschen Volke« lautet die Inschrift über dem Westportal des Reichstagsgebäudes in Berlin, des Sitzes des Deutschen Bundestages. Es gibt deutsche Politiker, die nicht mehr so gern vom deutschen Volk sprechen.
Über den Volksbegriff habe ich verschiedentlich begriffsgeschichtlich geschrieben. Er hat unterschiedliche Dimensionen. Mit dem ethnischen, nicht als biologisch zu verstehenden Volk koexistieren das politische, der Demos, und das soziale Volk, die »Volksmassen« gegen die Oberen, die Eliten. Im Wortgebrauch des 19. und 20. Jahrhunderts wurden diese, hier vereinfacht angeführten drei Dimensionen nicht immer klar unterschieden. Beim »Volk« nur die »völkische« Vorstellung davon zu assoziieren ignoriert nicht nur, daß Wort und Begriff bis weit in die letzte Nachkriegszeit lagerübergreifend und in beiden deutschen Staaten prominent waren, sondern auch speziell ihre ständige Präsenz in der sozialistischen Bewegung (neben der »Arbeiterklasse«). Die ethnische Substanz bleibt nie unverändert. Letztlich sind alle Völker mehr oder weniger Mischvölker, gewiß weniger in Japan als in Deutschland.
Und auch weniger in Saudi-Arabien.
Richtig. Zwar ist die Vorstellung, es gäbe eine »blutbedingte« germanische Ursubstanz, längst widerlegt. Doch das heißt nicht, daß mit dem Ethnos überhaupt keine Realität benannt wird. Die Nation ist zwar etwas Konstruiertes, aber es muß etwas dasein, aufgrund dessen man konstruieren kann. Gewissermaßen ihr Rohmaterial.
Geschichtlich gesehen existierten vor den Nationen die Monarchien, und wenn man über den Internationalismus nachdenkt, kann man durchaus an den Punkt kommen, den ich hier mit dem Stichwort Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae, also Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, und Doppelmonarchie Österreich-Ungarn aufrufen möchte. Und bekanntlich hat ein Nationalismus im extrem negativen Sinne – Stichwort Serbien – in Europa schlußendlich zum Ersten Weltkrieg geführt.
Wichtiger war dabei wohl die Rivalität der großen imperialistischen Mächte. Doch man kann darüber spekulieren, ob die Umwandlung Österreich-Ungarns in einen demokratischen Nationalitätenstaat mit klar definierten Rechten für die verschiedenen Volksgruppen ein Weg gewesen wäre, um dieses Konglomerat zu erhalten. Wir wissen es nicht.
Diese Idee gab es im Haus Habsburg bereits vor dem Ersten Weltkrieg durchaus.
Das ist richtig, und übrigens auch innerhalb der Sozialdemokratie Österreichs.
Lassen Sie uns noch einmal zum Stichwort »Dem deutschen Volke« zurückgehen und in diesem Zusammenhang über die Ihrer Ansicht nach wünschenswerte deutsche Position im Ukrainekrieg sprechen. Zweifelsfrei ist wohl, daß in dieser Causa ein Riß durch die deutsche Bevölkerung geht.
Zweifellos geht in dieser Auseinandersetzung ein Riß durch die Gesellschaft, der in der relativ uniformen veröffentlichten Meinung nicht abgebildet wird. Ursache dafür ist die Erzählung, daß wir es mit einer neuen globalen Auseinandersetzung zwischen den Kräften von Freiheit und Demokratie einerseits und denen des Autoritarismus oder der Autokratie andererseits zu tun haben. Ich halte diese Sichtweise für verfehlt. Aber diese weltanschauliche Seite des Konflikts ist es, die die bekannten heftigen Emotionen hervorruft. Ohne Zweifel tobt in der Ukraine ein fürchterlicher Krieg, bei dem sich die unmittelbare Schuldfrage deshalb nicht stellt, weil Rußland ganz offenkundig einen nicht provozierten Angriffskrieg führt. Allerdings hat dieser, wie jeder Krieg, eine Vorgeschichte und einen weltpolitischen Zusammenhang. Und genau das wird kaum diskutiert. Man diskutiert nur, welche Waffen wie schnell geliefert werden sollten.
»Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte und
einen weltpolitischen Zusammenhang.«
Was ist denn die Vorgeschichte des Krieges?
Eigentlich müßte man zurückgehen in die Jahre des großen Geschichtsbruchs 1989 bis 1991, als ein neues europäisches Zusammenwirken einschließlich eines Sicherheitssystems propagiert wurde, das logischerweise auch die alten Militärblöcke ersetzen würde, avisiert in der Charta von Paris. Das ist einer der Gründe, warum sich die Sowjetunion, dann Rußland darauf eingelassen hat, ganz Deutschland der Nato angehören zu lassen. Und der Streit, ob man den Russen etwas versprochen hat oder nicht, führt nicht weiter. Beides ist richtig. Es gibt kein rechtsverbindliches Dokument.
»Not one inch«, keinen Zentimeter sollte die Nato nach Osten verrückt werden. Exakt das soll mündlich vereinbart worden sein.
Selbst wenn es diese mündliche Zusage nicht gegeben hätte: die einfache Tatsache, daß die Grenzen eines Militärpaktes von der Elbe an den Bug nach Osten verschoben werden und mit den baltischen Staaten sogar ehemals sowjetisches Territorium einschließen, ist eine objektive Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Zu beachten ist ebenfalls, daß die Nato heute konventionell viel stärker ist als die russische Armee.
Was steht in der Charta von Paris?
In dieser Charta wurde die Perspektive eines ganz neuen gesamteuropäischen bzw. die nördliche Hemisphäre umfassenden Systems der Abrüstung und Kooperation ins Auge gefaßt.
Aber das konnten die Amerikaner doch nicht wollen!
Richtig. Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen hat mehrfach erzählt, ihm sei in deutlichen Worten von den USA mitgeteilt worden, daß so etwas Übergreifendes nicht gewünscht sei. Auch dies gehört zur Vorgeschichte dieses Krieges. Nun teile ich nicht die Vorstellung, daß die Nato auf einen militärischen Angriff hin orientiert ist, und vermutlich nehmen auch die Russen dies nicht an. Aber die Verschiebung der Kräfteverhältnisse, bei denen Rußland auf die Grenzen des mittleren 17. Jahrhunderts zurückgeworfen ist, ist für dieses Land natürlich ein Problem, das in den Diskussionen leider zuwenig beachtet wird. Übrigens beklagen nicht nur Putin und seine bedingungslosen Anhänger diese Verschiebung der Nato-Grenze, auch der in Deutschland so verehrte Michail Gorbatschow hat sich deswegen mehrfach tief enttäuscht geäußert. Kurzum, die Russen gehen mehrheitlich davon aus, man habe sie über den Tisch gezogen, und dann kann man dem nicht entgegnen, es gebe kein rechtsverbindliches Dokument. Gleichzeitig ist durchaus nachvollziehbar, daß die Staaten des östlichen Mitteleuropas und Südosteuropas, die dem Ostblock angehört hatten, aufgrund ihrer Erfahrungen möglichst schnell in die Nato wollten.
Sie erinnern daran, daß selbst Gorbatschow tief enttäuscht war von dem, was nach 1990 in Mitteleuropa passiert ist. Das scheint Ausdruck eines tiefsitzenden russischen Grundempfindens zu sein.
Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, den ich im vergangenen Jahr privat treffen durfte, hat mir von einem inoffiziellen Gespräch mit dem zeitweiligen Präsidenten Dmitri Medwedew erzählt. Stoltenberg hat ihn gefragt, wovor die Russen eigentlich Angst haben. Die Antwort war: Wir sind ungefähr alle hundert Jahre überfallen worden. 1709 von Karl XII., König von Schweden, dann 1812 von Napoleon und schließlich 1941 von Hitler.
Präsident Wladimir Putin hat am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag in einer auf deutsch gehaltenen Rede für ein Europa vom Ural bis zum Atlantik geworben, auf die die Abgeordneten aller Fraktionen mit stehendem Beifall reagierten. Putin sagte: »Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertrauensklima, und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Gesamteuropa möglich.« Ich denke mir, spätestens da müssen in Washington alle Alarmglocken geläutet haben.
Das kann man, ohne polemisch zu sein, annehmen. Ein solches friedlich kooperierendes Europa hätte den USA nicht gepaßt. Nun wird diesbezüglich schnell gesagt, mit dieser Rede wollte Putin uns täuschen. Aber es gab ja noch andere Angebote, und übrigens auch dasjenige, daß Rußland der Nato beitritt. Klar ist, wenn Rußland der Nato beiträte, wäre die Nato nicht mehr das, was sie jetzt ist, nämlich unter anderem ein Instrument der US‑amerikanischen Hegemonie.
Kann man daraus schließen, mit Rußlands Nato-Beitritt wäre die Nato nicht mehr das Instrument der USA, die Politik in Europa so zu beherrschen, wie sie es bislang getan haben und es auch heute noch tun?
Sicher. Denn die Nato ist nicht ausschließlich, aber doch unter anderem ein Instrument der amerikanischen Hegemonie. Das wäre nicht mehr praktikabel, wenn Rußland, die zweite große Atommacht, Teil der Nato wäre.
Warum kann man über diesen Punkt nicht unpolemisch öffentlich diskutieren? Oder anders gefragt, warum diskutieren wir nicht über Interessen?
Über Interessen von Staaten zu diskutieren gilt hierzulande als unmoralisch und gewissenlos. Helmut Kohl hat einmal gesagt, die Nato sei unser zweites Grundgesetz. Doch es liegt auf der Hand, daß man in der Politik über Interessen diskutieren muß. Das eröffnet natürlich kritische Perspektiven. Deswegen ist es einfacher, wenn man statt dessen über »Werte« redet – was immer etwas wolkig bleibt. Dennoch, natürlich müßte man über Interessen reden, und zwar als allererstes. Was im konkreten Fall des Ukrainekonflikts nicht beinhaltet, daß man sich den Interessen anderer Staaten ergibt. Aber man muß sie erst einmal zur Kenntnis nehmen.
Welche objektiven Interessen hat Deutschland in diesem Ukrainekrieg?
Deutschland, wie auch EU-Europa insgesamt, verliert mit dem Krieg und seiner Fortdauer dramatisch an eigenständiger außen- und sicherheitspolitischer Gestaltungsmacht, sogar jenseits der Frage von Eskalationsrisiken. Deshalb gibt es ein besonderes Interesse, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet wird – gewiß nicht mit jedem denkbaren Ergebnis. Im übrigen: Ich kann mir gut vorstellen, daß ich, wenn ich Ukrainer wäre, zur Armee gegangen wäre und gefragt hätte: Könnt ihr mit mir altem Knochen noch etwas anfangen? Das ist aber eine Sache.
Sie wären vermutlich Kriegsberichterstatter geworden.
Was auch immer. Meldegänger oder MG-Schütze vermutlich nicht mehr. Aber eine andere Sache ist es zu begreifen, daß die Interessen Deutschlands, und ich würde auch sagen, des nichtrussischen Europas nicht automatisch identisch sind mit den Interessen der Ukraine. Es ist verständlich, daß die ukrainische Regierung jede nur irgend erreichbare Unterstützung haben will. Aber in der Tat ist zu fragen: Was sind unsere Interessen? Egon Bahr hat gesagt: Staaten haben erstens Interessen, zweitens Interessen und drittens Interessen. Und Bahr dachte – in dieser Hinsicht genial – in einer Staatenordnung. Gesellschaftliche Faktoren hat er wohl zuwenig in Rechnung gestellt.
Ist Egon Bahr damit unser deutscher Henry Kissinger?
In gewisser Weise schon. Zumindest gab es für ihn nichts Ehrenvolleres, als von Henry Kissinger als gleichrangiger Maestro anerkannt zu werden.
Kissinger hat dann ja auch, und übrigens sehr bewegend, auf Bahrs Beerdigung 2015 in Berlin gesprochen. Nun hat Bahr, wie Willy Brandt auch, mit den kommunistischen Regierungen Polens und der Sowjetunion gesprochen und verhandelt, und recht erfolgreich für die deutschen Interessen, wie die Geschichte gezeigt hat. Damals aber gab es nicht wenige, die meinten, daß man mit diesen Sowjets überhaupt nicht sprechen dürfe. Allerdings hat Konrad Adenauer das im September 1955 auch getan, und der damalige deutsche Bundeskanzler Brandt ebenfalls höchst erfolgreich.
Die christdemokratisch geführten Bundesregierungen haben Gespräche und Verhandlungen ja nie abgelehnt. Es ging aber um die Voraussetzungen und namentlich um rechtliche Hürden. Auf einem anderen Blatt steht: Es gab eine Zeit, als die tatsächliche oder vermeintliche Nähe zu Kommunisten einem moralischen Verdammungsurteil gleichkam. Heute bemühen sich die Medien mit großem Eifer, einige Rechtsextremisten zu entdecken, wenn etwas diskreditiert werden soll.
Die sogenannte Kontaktschuld kann sich in unseren politisch korrekten Zeiten auch auf die Geschehnisse in der Vergangenheit beziehen, und ich beobachte, man ist in der SPD inzwischen soweit, wegen des Ukrainekriegs sehr kritisch auf die Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt zu schauen. Steht diese Ostpolitik nur auf dem Prüfstand, oder ist man zumindest hinter verschlossenen Türen sogar schon dabei, diese Politik abzuräumen?
Das glaube ich nicht. Ich halte es für undenkbar – und dies nicht nur, weil ich Familie bin –, daß man sich in der SPD von Willy Brandt verabschiedet. Dann müßte man ja auch das Willy-Brandt-Haus umbenennen. Nein, das wird nicht passieren. Mein Eindruck ist eher, daß man versucht, Bahr von Brandt zu trennen. Und natürlich – dies sei hinzugefügt – war der Willy Brandt von 1960 nicht der Brandt von 1980.
Willy Brandt war 1960, zur Zeit der Ost-West-Konfrontation in Berlin, auch nicht mehr der Brandt aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, den er, vom norwegischen Exil kommend, im Auftrag seiner sozialistischen Arbeiterpartei politisch-publizistisch begleitete und während dessen er der POUM nahestand, der spanischen semitrotzkistischen radikalsozialistischen Partei.
Richtig.
Und das wird auch der Punkt gewesen sein, warum er für die trotzkistischen Neigungen seines 19jährigen ältesten Sohnes, Peter, ein gewisses Verständnis hatte. Zur Erinnerung für die Nachgeborenen: Sie haben am 13. März 1968 in Berlin mit einem Trotzki-Plakat in der Hand demonstriert.
Das war eine Demonstration zugunsten polnischer Studenten- und Jugendproteste.
Sie meinen die März-Unruhen in Polen, wo Studenten in Warschau, Danzig und Krakau für mehr Freiheit im Kommunismus demonstriert haben und bei denen diese Demonstrationen von der sogenannten Bürgermiliz gewaltsam niedergeschlagen wurden.
Korrekt. Die Solidaritätsbezeugung mit einem Trotzki-Konterfei war übrigens nicht so abwegig, wie es manchem erscheinen mag: Zwei Protagonisten der Proteste, Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, Verfasser eines kritischen »Offenen Briefes an die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei«, später wichtige Berater der Gewerkschaft Solidarność, standen damals trotzkistischen Positionen nahe. Bei meinem Vater spielte sicher eine Rolle, daß er selber auch im Laufe seines politischen Lebens Einstellungsveränderungen vorgenommen hat, die mehr als bloß kosmetische waren, um es mal so zu sagen. Gewiß spielte das eine Rolle bei seinem Blick auf andere Leute, einschließlich des eigenen Sohnes. Nebenbei gesagt hatte er übrigens auch mehr Verständnis für konservative Positionen, als das damals umgekehrt der Fall war.
Zurück zu Egon Bahr. Sie meinen also wirklich, daß Bahr von Brandt getrennt werden kann?
Ich behaupte nicht, daß dies eine gezielte Aktion ist, die sich jemand so überlegt hat, sondern mein deutlicher Eindruck ist, daß Egon Bahr nicht mehr so prominent herausgestellt wird. Ich bin gar nicht sicher, ob das innerparteilich durchdringt. Die Hauptsache scheint mir eher eine verständliche Verunsicherung zu sein, als daß man sich von der Entspannungspolitik verabschieden will, denn diese Politik ist zu sehr mit der Geschichte der Sozialdemokratie seit den sechziger Jahren verbunden. Bundespräsident Steinmeiers Mea culpa hat die Verunsicherung deutlich gemacht.
»Ich halte es für undenkbar, daß man sich in der SPD
von Willy Brandt verabschiedet.«
Sie meinen Frank-Walter Steinmeiers Aussage kurz nach Kriegsbeginn 2022, es sei eindeutig ein Fehler gewesen, an Nord Stream 2 festgehalten zu haben, und es sei auch ein Fehler gewesen, an ein gemeinsames europäisches Haus und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluß Rußlands zu glauben. Wörtlich sagte er: »Und zu dieser bitteren Bilanz gehört auch die Fehleinschätzung, daß wir und auch ich gedacht haben, daß auch ein Putin des Jahres 2022 am Ende nicht den totalen politischen, wirtschaftlichen, moralischen Ruin des Landes hinnehmen würde für seine imperialen Träume oder seinen imperialen Wahn.«
Ich fand das überflüssig und eher peinlich. Wobei diese Aussagen sich nicht auf die Entspannungspolitik bis 1990 bezogen, sondern auf die Periode danach. In dieser Diskussion wird vieles durcheinandergewürfelt. Die Hauptlinie der Entspannungspolitik der sechziger und achtziger Jahre war ja nicht »Wandel durch Handel« – das war eher die Linie der Merkel-Regierung.
Wieder einmal, wie so oft in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, geht es um die Brüche in der Partei. 1914 Zustimmung zu Kriegskrediten, denn die Sozialdemokraten wollten keine »vaterlandslosen Gesellen«, sondern Patrioten sein. Diese Furcht, zu den »Vaterlandslosen« gezählt zu werden: spielt die auch heute wieder eine Rolle?
Wenn man den Entscheidungsprozeß von Ende Juli, Anfang August 1914 nachvollzieht und die Erklärung der Reichstagsfraktion, mit der die Kreditbewilligung begründet wurde, hinzunimmt, dann geht das nicht in dieser Aussage auf. Der eigentliche Bruch war nicht die Zustimmung zu den Krediten, sondern die Akzeptierung des »Burgfriedens«. Das Grundproblem der Sozialdemokratie bis heute besteht wohl darin, daß eine auf allen Ebenen um noch so kleine Veränderungen – aus ihrer Sicht Verbesserungen – reformerisch ringende Partei, die vor mehr als hundert Jahren aufgehört hat, Fundamentalopposition zu sein, sich dennoch nicht einfach mit dem gesellschaftlichen Status quo identifizieren will und kann.
Klaus von Dohnanyi erinnert sich in seinem Buch Nationale Interessen an eine Nato-Übung in einem Bunker in der Nähe von Bonn Ende der siebziger Jahre, bei der er den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt vertrat. Gegen drei Uhr morgens hätten sie sich kurz schlafen gelegt. »Als wir dann nach zwei Stunden aufstanden, erfuhren wir, daß die USA zur Verteidigung Europas gegen den simulierten sowjetischen Angriff kleinere ›taktische‹ nukleare Sprengsätze über Deutschland abgeworfen hatten, um einen Cordon sanitaire, einen Sicherheitsgürtel, gegen einen weiteren russischen Vormarsch zu starten« – und dies ohne Abstimmung mit der Bundesregierung. Etwas später habe er mit Helmut Schmidt darüber gesprochen. Der Kanzler habe bemerkt, ihm sei diese Strategie der Nato bekannt und er werde, sobald kriegsähnliche Entwicklungen in Europa erkennbar würden, Deutschland für neutral erklären. Dohnanyi erzählt diese erstaunliche Episode, um seine Argumentation gegen die »nukleare Teilhabe« Deutschlands zu untermauern. Die sieht bekanntlich so aus, daß im Ernstfall deutsche Piloten auf amerikanischen Befehl mit Atombomben in Richtung Rußland starten.
Ich kenne die Sache so, daß Helmut Schmidt den beteiligten Bundeswehrsoldaten den Befehl gegeben hätte, die amerikanischen Befehle nicht auszuführen. Genau das gleiche hatte Willy Brandt auch vor, wie ich erst lange nach seinem Tod erfahren habe. Der Punkt war natürlich, das dies nicht öffentlich werden durfte. Aber Brandt und Schmidt waren sich da einig: Den Bundeswehrsoldaten sollte in diesem Kriegsfalle ein von den Amerikanern abweichender Befehl gegeben werden.
Hatte Kurt Schumacher recht, wenn er ein neutrales ungeteiltes und kein in eine Ost- und eine Westhälfte geteiltes Deutschland wollte?
Schumacher hatte zwei Vorbehalte gegen die Westintegration. Der eine war der der Gleichberechtigung. Soll heißen, Deutschland sollte nicht mit einem minderen Status in ein Verteidigungsbündnis gehen. Und der zweite Vorbehalt war der gesamtdeutsche. Das war eine plausible Position. Wenn heute gesagt wird, die Adenauersche Position des Primats der beinahe vorbehaltslosen Westintegration habe sich Jahrzehnte später bestätigt, ist erstens einzuwenden, daß die Aussicht auf vier Jahrzehnte Teilung bei der Gründung der Bundesrepublik parteiübergreifend als unerträglich empfunden worden wäre. Zweitens erfolgten die Wiedervereinigung Deutschlands und die Aufhebung der Ost-West-Teilung Europas in einem grundlegend veränderten Ensemble, wo verschiedene Faktoren wirksam waren.
Zum Schluß die Gretchenfrage: Ist der Ukrainekrieg ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Rußland?
Dieser Krieg hat zwei Dimensionen. Eine ist die legitime Selbstverteidigung der Ukraine, und die zweite ist in der Tat ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Nato auf der einen und Rußland auf der anderen Seite. Beide Dimensionen existieren, und je nachdem, auf welche Dimension man sich fixiert, kommt man zu einer unterschiedlichen Sichtweise.
Verteidigt die Ukraine »unsere Werte«?
Das halte ich ja für Lyrik. Die Ukraine verteidigt ihre nationale Unabhängigkeit und insofern auch ihre Freiheit. Das ist legitim. Aber diese Vorstellung, die bei uns herumgeistert, die Ukraine wäre ein immer perfekter demokratisches Land, ist Unfug.
Und Präsident Wolodymyr Selenskyj? Sagt er als gelernter Schauspieler Texte auf, die andere ihm aufgeschrieben haben? Beispielsweise: »Wir haben Freiheit. Gebt uns Flügel, um sie zu schützen.« Das könnte aus einem Hollywoodfilm stammen.
Selenskyj hat in diesem Krieg eine bestimmte Rolle, die er versucht auszufüllen – um es ganz wertfrei zu sagen. Zu kritisieren ist ja nur die völlig unkritische Art, Selenskyjs Auftritte und Reden wahrzunehmen.
Herr Brandt, vielen Dank für dieses Gespräch! ◆
PETER BRANDT,
Jahrgang 1948, Sohn von Willy und Rut Brandt, ist Publizist, Historiker und emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er gehört der Initiative »Entspannungspolitik jetzt!« an. Gemeinsam mit Hans-Joachim Gießmann und Götz Neuneck veröffentlichte er zum 100. Geburtstag von Egon Bahr 2022 den Sammelband »… aber eine Chance haben wir«. Lesenswert ist auch sein Buch »Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt«