Regen unter den Wolken. Die Anreise
27. Januar 2018
Um Haaresbreite wäre der Omnibus ohne mich nach Schönefeld gefahren. Der Lenker Aloys, als solcher begrüßt er drollig böhmackelnd zum Fahrtantritt seine Passagiere, öffnet noch einmal die Gepäckklappe, und los geht’s. Das nahe Baruther Urstromtal wird von der Sonne vergoldet. Für die Ferne dagegen verkündet Kachelmann unablässigen Regen während der nächsten zehn Tage. Eine derartige meteorologische Anomalie auf dem stets wetterwendischen Eiland erleben zu können, käme gleich nach dem Vulkanausbruch und lohnte an sich schon den Besuch. Die Abfertigungshalle wird lange vor dem Abflug erreicht, nur um feststellen zu müssen, daß sich dieser verspätet. Am Zeitungsstand gibt es keine Abteilung für Politik, Kultur oder meinetwegen Wirtschaft. Politische Journale gelten jetzt als Hobby. In der aktuellen Compact-Ausgabe überfliege ich ein Gespräch mit der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, entscheide mich jedoch einmal mehr für den Kauf von Gremlizas konkret – nicht allein wegen des besseren Layouts, aber das Auge liest mit. Auf der Suche nach einem Freisitz für die Dauer einer Pfeifenfüllung erblicke ich die Baracke des Augustiner-Brauhauses, umstanden von leeren Klappstühlen und -tischen auf niedriger Holzbühne. Während die selbstbereitete Mischung aus scharf-pfeffrigem kanarischem Virginia und pikant-rauchigem syrischem Latakia (This war is a tragedy for english pipe smokers, isn’t it?) langsam niederbrennt, liegt mir das Rattern unzähliger Rollkoffer in den Ohren.
Bei der Abfertigung sind wieder einmal Göffel, Tauchsieder und Tusche zu rechtfertigen. Angesichts der Ausrüstung begehrt der Kontrolleur privat zu wissen, wo es hingehen soll. Ah, Teneriffa! Nach einem Schwall spanischer Worte, die einem Kastilier gewiß ebenso berlinerisch in den Ohren klängen wie mir sein Deutsch, mache ich ihm das Kompliment, daß er den richtigen Beruf gewählt habe, und liege gleich wieder falsch, denn er ist “jelernter Koch, viele Jahre auf der Insel jelebt”. Im Aeroplan finde ich mich in der hintersten Reihe wieder. Bald durchstoßen wir die dünne Wolkendecke, über der es rein und hell ist, wie beim Skifahren im Neuschnee von Zinnwald. Es bleibt laut, was mich eigenartigerweise kaum stört. Denn es erhält dem heimtückischen Durchstreichen des Äthers eine Merklichkeit. Ebenso die Turbulenzen. Von oben ist ein klar gezirkelter Wirbel in der weißen Decke zu sehen. Alle Frauen und Kinder müssen auf dem Weg zur Toilette hier kurz warten. Die ausgiebige Menschenbeobachtung läßt die Flugzeit rasch verstreichen. So appetitlich wie erwartbar ist auch die Lektüre von konkret. Der intellektuelle Blätterteig springt zwischen den Zähnen luftig auseinander. Viele Beiträge beginnen mit dem Nacherzählen von Filmszenen, in diesem Heft aus Casablanca und Fight Club. Sonst paddeln sie recht anmutig. Weit hinten schwimmen ihre Felle immer weiter weg. Sie verachten das Volk als dummes Opfer und kämpfen immer noch gegen Sozialfaschisten – so wie sich ihre Antagonisten immer noch nach Dolchstößen umsehen. Rechthaber sind nur genießbar, wenn sie von der Wirklichkeit widerlegt werden. Das hier wirkt immerhin gescheit und kurzweilig. Morituri salutant.
Lange bleibt die Sonne sichtbar in der großen Höhe. Die Hälfte der Verspätung wird eingeholt. Der Bus nach Santa Cruz steht schon abfahrbereit vor dem Aeroporto Sur. Rasend schnell geht es über die Autopista. Die Dunkelheit verhüllt den Anblick des verwüsteten Inselsüdens, bei dem meine Tochter einmal meinte, sie fühle sich wie eine Katastrophenhelferin während ihrer Fahrt an den Einsatzort. Von Makarska bis Candelaria erwartet einen das Verdun des Massentourismus, evakuiertes und devastiertes Land, gerade dort, wo einst die Kultur des Bodens jenen Wohlstand schuf, der die Gäste lockte. Als dem Kerl hinter mir das Kabel aus dem Handtelefon gleitet, ertönt Motown-Blues. Ohne ihn anzusehen deutet der Fahrer schweigend mit seinen Zeigefingern auf die Ohren, und das Geschwalle verstummt. Nach Imbiß und Schlummer im charmant-schäbigen Hotel „Horizonte“ gehe ich gegen zwei Uhr auf die Gasse, über der noch Weihnachtsschmuck hängt. Es nieselt. Auf den Stufen der Kirche entzünde ich eine reimportierte Palma-Zigarre. Nachdem ich mich erhebe, bemerke ich, unter jenem Portal gerastet zu haben, nach dem ich lange fahndete. Vor achtzig Jahren durchschritt es Zarah Leander am Arm von Ferdinand Marian während der Dreharbeiten zum Film La Habanera. Nichts zu suchen war mein Sinn, doch der Wind hat mir ein Lied erzählt. Das behäbig-militante Cabildo Insular von Teneriffas Meisterarchitekt José Enrique Marrero Regalado, Sitz der Inselverwaltung und -regierung, ist wegen Renovierung immer noch maskiert wie ein Bankräuber. Der erste geöffnete Club, den ich auf der Avenida antreffe, heißt „Berlin 89“.