San Cristobal de La Laguna, La Esperanza
29. Januar 2018
Niedrig lagern die Nebelschwaden auf den nahen Bergen. Vielleicht zwei Stunden hätte ich zu laufen, um in der Höhe die Sonne zu schauen. Jedoch regnet es beinahe unablässig. Im Christenlehreunterricht wurde mir erzählt, Henry Morton Stanley habe den Morseapperat mit der Durchgabe der Bibel okkupiert, damit seine Redaktion im fernen England genügend Vorlauf vor anderen Informanten erhielt, um die wundersame Auffindung des verschollenen David Livingstone zu melden. An diesem Regenvormittag könnte ich das Gilgameschepos nach Berlin senden, allein der Tablettenrechner bleibt diesmal im Halbschatten hängen. Ich beschließe, um Ersatz zu besorgen, in die Universitätsstadt La Laguna zu fahren. Da die nächstgelegene Bushaltestelle keinen Unterstand und nicht einmal ein Schild aufweist, und es eben wieder zu regnen beginnt, halte ich ein Auto an. Das Paar läßt mich nur zwei Orte später wieder raus. Der nächste Fahrer ist ein kräftiger Mann, in dessen Wagen es nach Spezereien duftet. Ohne das reduzierte Englisch versteht man sich gleich besser, weil es keine Illusion des Verstehens gibt. Die Lage ist ja überschaubar. Mit Zeige- und Mittelfinger Wechselbewegungen machen und Montagna sagen, dann hinaufdeuten: Male. Daraufhin redet er vom schlechten Wetter, das für die Pflanzer ja sein Gutes hat. Über uns Nebel und Regen. Wer schauen kann und jedes zwölfte Wort der ihm unbekannten Sprache eines Einheimischen versteht, der mag verständiger sein als der Smalltalker. Das zweite Geschäft in der schnurgeraden Gasse gegenüber der er mich besetzt, befriedigt bereits meinen Bedarf. Dann tauche ich in das rechtwinklige Netz der Gassen von La Laguna und befinde mich bald vor der mächtigen Kathedrale mit den Doppeltürmen. In den Kirchraum wird mir hinterhergerufen, ich hätte ein Billet zu lösen. Ich bin darüber so perplex, daß ich nach einem derben Kommentar über diese Verrücktheit das entheiligte Haus verlasse und mich in das gegenüber liegende Café Ateneo zurückziehe. Der Künstlerklub ist der Minerva geweiht. Es werden Wettbewerbe für Poesie ausgeschrieben und die eigene Historie verwaltet. Läufer liegen auf der Holztreppe und Gemälde hängen an den Wänden, deren graubraune Figurationen an das norditalienische Novecento erinnert, Sironi, di Pisis, Carrà. Es wirkt recht sympathisch, aber auch ein wenig kraftlos. Man muß wohl aus dem Norden kommen, um im Süden seine Sinne sowohl lösen wie auch anspannen zu können. Draußen sind die Menschen immer noch mit Schirmen unterwegs. Ihre Gestalten spiegeln sich in den naßglänzenden Steinplatten. Von der Plaza del Adelantado schlendere ich die Calle San Augustin zurück, die vormals eine Calle Real war. Zu beiden Seiten reihen sich schlichte Paläste, deren Erbauer in verschiedenen Zeiten stets die gleichen Grundelemente verwandten. Die teneriffische Architektur trägt mehr Züge der iberoamerikanischen als der iberischen Lebensform. In einer Devotionalienhandlung erwerbe ich eine ganze Kollektion frommer Wechselbilder, herabgesetzte Ladenhüter aus italienischer Herstellung.
Je nach Lichteinfall changieren leere Grotten zu Marienerscheinungen. Das skurrilste ist die St. Lucia, deren Augäpfel mal aus ihren Gesicht blicken, dann wieder von dem Teller, den sie hält. Seit den Kindertagen habe ich mir eine ungebrochene Neigung für solche schlicht anrührenden Vorspiegelungen bewahrt. Die Fundación Cristiano de Vera zeigt ständig eine Auswahl vom Werk des 1931 in Santa Cruz geborenen Malers. De Vera wirkte überwiegend in Madrid, bis er 1997 in seiner Geburtsinsel einen wirkungsvollen Rahmen für sein Werk fand. Das war seit 2009 zunächst noch gegen Eintritt hier zu sehen. Inzwischen ist die Ausstellung der Stiftung frei zugänglich. Das vitale Frühwerk teilt Gestaltungsformen mit Georges Rouault und Constant Permeke, die sich bei ihnen freilich früher und echter ausgeprägt finden. Für seine eigensten Bildfindungen gilt dann, daß die Manier mißverständlich von Giorgio Morandi übernommen wurde. Die Kaffeschalen und Schädel vor Spiegeln oder der Stadtansicht Toledos wirken schwächlich und kokett. Kennste eins, kennste alle. Da hilft es auch nicht weiter, daß sich de Vera mit Papst Benedikt fotografieren ließ und sich in der Nachfolge Zurbaráns sieht.
Gute Bilder sind unerwartet im Museum über das Leben auf der Insel zu sehen. Ein Hieronymus von Joos van Cleve, aber auch lebensvolle Bildnisse aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die unveränderten Interieurs sind jedoch das Sehenswerteste. Hier finden sich die Objekte noch liebevoll in großen Vitrinen drapiert. Bei den Drogerieartikeln hat sich eine Rolle Krauses hygienisches Papier eingeschlichen. Unter den Landkarten demonstrieren die Stiche der Humboldtzeit das Optimum von Anschaulichkeit und Präzision.
Den verregneten, teils gar verhagelten Abend vertreibe ich mir im Zimmer in La Esperanza mit besagtem auf Teneriffa gedrehten Ufa-Klassiker von Detlef Sierck „La Habanera“. Die kapriziöse Astrée (Zarah Leander) erliegt den Sirenentönen der Habanera und ehelicht aus dem Stand ihren schmucken Señor (Ferdinand Marien). Als der gemeinsame Sohn Juan zehn Jahre alt ist, singt die Schwedin ihm auf Puerto Rico (Puerto de la Cruz de Tenerife) vom Schnee und läßt ihm einen Schlitten bauen. Don Pedro quält sie mit kleinlicher Eifersucht. Schließlich bricht es aus ihr heraus: „Das Land ist mir fremd geblieben, du bist mir fremd geblieben.
Alles was mir so zauberhaft vorgekommen ist … ist mir zum Überdruß widerwärtig geworden. Immer diese Sonne, diese blöde Heiterkeit, die einem auf die Nerven geht. Diese Habanera, die ich nicht mehr hören kann, ohne rasend zu werden. Ich glaubte, es wäre das Paradies. Es ist die Hölle.“ Der Karaibe giftet zurück: „Er wird es vielleicht noch einmal bedauern, eine Schwedin zur Mutter gehabt zu haben.“ Der schwedische Arzt Dr. Nagel (Karl Martell) läßt jede kulturelle Sensibilität vermissen, als er mit dem Knaben auf dem Schlitten die Saaltreppe hinabfährt. Große Kunstwerke bleiben aktuell. So habe ich diesen Film noch nie gesehen. Was geschah danach? Sierck ging nach Hollywood, und Marian spielte die Titelrolle in Veit Harlans bekanntestem Film.