Erjos und Costa Adeje
31. Januar 2018,
Heute will ich einen Schulfreund meines Vaters treffen, der sich für einen Monat in einer der zahllosen Anlagen von Costa Adeje eingemietet hat. Ein gleichfalls avisiertes Zusammentreffen mit dem gegenwärtig berühmtesten Bürgerrechtler Deutschlands kommt wegen dessen akuter Arbeitsbelastung nicht zustande. Der alles überragende Teide hebt sich nur scherenschnitthaft vom grauem Himmel ab. Flucht ist die richtige Entscheidung. Nicht einmal die verschneite Kuppe spiegelt die Sonne wieder. Während der Bus um zwei Kurven fährt, kommt die besonnte Landschaft der Südküste in den Blick. Überall auf der Insel ist es hell und warm, während ich mich für die Kälte- und Dunkelkammer entschieden habe.
Die Küste von Adeje zeigt sich ohne jeden Plan verbaut. Das Ergebnis des letzten Teneriffa-Booms. Das schwerste Unglück der zivilen Luftfahrt mit beinahe sechshundert Toten im März 1977 befeuerte die Verlagerung des traditionellen Tourismus vom Valle Orotava in den Süden. Im Jahr darauf wurde der Aeroporto Reina Sofía eröffnet. Das schreckliche Ende von Hunderten von Touristen war Geburtshelfer eines Schreckens ohne Ende mit Millionen von Touristen. Was sind die 120 Tage von Sodom gegen 365 Tage von Los Christianos? Da ich diese sonnige Perversion bisher noch nicht besichtigt habe, wird es höchste Zeit. Auch menschliche Schatten offenbaren lichte Augenblicke, und Landschaft findet sich überall. Léon Krier schrieb mir über seine Eindrücke beim Lokaltermin für das Atlantis-Projekt von Hans-Jürgen Müller: »… das beste an Teneriffa waren natürlich der Teide und die kolossalen Mauern der modernen Bananen-Plantagen. Ich habe die Insel kreuz und quer befahren, um ein architektonischen Lexikon aufzustellen, es gab keinen einzigen intakten Ort.« Helga Müller bestätigte mir am Telefon, daß die Schönheit der Insel nicht totzukriegen sei.
Unter all dieser Größe ameiselt unentwegt das Banale. Für weniger als drei Euro ist in jeder Bar ein English Breakfast mit Baked Beans, Fried Tomatos, Sausages und Scrambled Eggs zu haben. Bis zum Puerto Colon hält der Irrsinn an. Man möchte sich die Augen ausreißen vor all der Häßlichkeit. In erster Reihe stehen die Hotels, dahinter die CCs, Centros Comerciales. Lauter sinnlosen Kram offerierend, der einen bis zur tödlichen Depression davon überzeugen möchte, daß alles besser wäre, wenn kein Mensch wäre. In einem Hochhaus suche ich rolltreppauf, rolltreppab halbherzig nach dem Atelier des Moskauer Künstlers, den mir Mascha nahegelegt hat. Obwohl viele kyrillische Lettern prangen, пельмени etc., finde ich es nicht. Dafür lungern auf jeder Etage Afrikaner, schwarz wie Nacht, maskenhaft und bar jeder Physiognomik, als weitere personifizierte Schattenseiten der Sonnenküste. Vor sechs Jahren landeten sie massenhaft. Inzwischen werden sie abgewehrt.
Etwas besser wird es hinter dem Hafen, wo ich auf den Freund treffe. Im Weiterschlendern werden gestalterische Maßnahmen wahrnehmbar. Nach Plan wurden Bäume gepflanzt, Platten aus einheimischem Vulkangestein verlegt und Sonnensegel errichtet. Auch die Beherbergung wird anheimelnder. (Architektur kann eine besonders perfide Spielart von häuslicher Gewalt sein.) Vor der Playa del Duque ragt eine Landzunge mit diskretem Park ins Meer. Mein Begleiter weiß zu berichten, hier besitze der spanische König ein Tusculum. Wir erreichen das räumliche Ende der Bebauung dieses Küstenabschnitts, während ein zeitliches Ende weiter außer Sicht bleibt. Die letzten fertiggestellten Hotels sind noch nicht eröffnet. Aussteiger oder solche, die sich dafür halten und dafür gehalten werden, besiedeln eine Bucht in Zelten und Höhlen. Die Sozialbehörde soll ihnen zuweilen Wasser liefern. Dann wieder jagt sie die Polizei aus ihren Schlupflöchern und sprengt die Höhlen. Wie sich das Fellachentum der Hotellerie immer tiefer in die Landschaft frißt, so weichen die Parasiten in Tuchfühlung weiter aus. Sie sind Repräsentanten und Exponate und verdienen zum Teil mit Klang und Bild am urteilsunfähigen Publikum. Oberhalb der Bucht vollzieht sich der Wechsel zwischen In- und Outsidern ganz konkret. Rastalocken und Rucksäcke hier, Basecaps und Fotoapparate dort.
Auf der Rückfahrt hüllt mich der Vorhang aus Regen und schwarzen Wolken bald wieder ein. Zusammen mit der Hausherrin verbringe ich einen cineastischen Abend. Den Aufhänger liefert meine Erwähnung von »La Habanera«. Das führt zu Sergei Jutkjewitschs Stummfilm »Spitzen« (1929). Der berühmte Regisseur war mit Maschas Großtante Nina liiert, der Hauptdarstellerin. Ihr deutscher Name Sterman wurde im Krieg schon slawisiert und nach der Revolution dann auch die adlige Abkunft tunlichst verleugnet. Jutkewitsch hat mit Kosinzew, Eisenstein, Bondartschuk und Paradshanow gearbeitet. Mascha war fünf Jahre als Maskenbildnerin tätig. In der wahrscheinlich letzten sowjetischen, in Odessa gedrehten Filmkomödie “Privatdetektiv oder Operation »Kooperative«” hatte sie eine Nebenrolle; außerdem war sie am Moskauer Künstlertheater Südwest beteiligt. Wir verbringen also einen heiteren Abend voller Erinnerungen an die Zeit, da uns Бук М1 vor der Pershing II schützte, aber die europäische Kultur vor dem Ami-Trash kapitulierte, vorerst zumindest.