Erjos, Puerto de la Cruz, La Laguna
2. Februar 2018, Erjos, Puerto de la Cruz, La Laguna
Die Sonne weicht, der Regen hat uns wieder. Wir werden also nicht in der Mandelblüte um Santiago del Teide flanieren. Dieses Naturerreignis wird dort mit einem ländlichen Fest, Rundgängen, Aufführungen und dem Verkauf traditioneller Produkte begangen. Wie ich gegen Mittag am Dorfausgang im Dauerregen den Bus erwarte, passiert tatsächlich eine Wanderin im orangen Cape die Straße. Unzweifelhaft eine Deutsche. Auf der anderen Seite hat sie bald der Nebel geschluckt. Ein Wagen mit Surfbrett im Fond fährt an die Haltestelle, und der Insasse fragt, ob er mich mitnehmen soll. Ja, freilich. Diseck ist Grafittimaler aus Grenoble und bereitet eine Ausstellung vor. Wir verständigen uns auf Denglish und Franglish. Einhändig den Wagen über die kurvige Bahn steuernd illustriert er mir auf dem Telefon seine Mitteilungen. Die letzten Tage verbrachte er in einer Casa Rural bei der Mama. Nun mokiert er sich über die Irreführung durch den ökologischen Tourismus. Letztlich gesteht er ein, daß die gezähmte Wildheit seiner Wandbilder kaum weniger widersprüchlich ist. Der Verkehr stockt, vermutlich ein Unfall. Als es weitergeht, werden wir vor dem Schlund des Tunnels eines elementaren Bildes teilhaftig. Im Vorüberfahren ist flüchtig ein Menschenpaar zu erkennen, das traulich an der Brüstung lehnt oder sitzt. Das Schicksal sprüht keine Grafittis. Wie die da lehnten, unbehelligt von Therapeuten und geschäftigen Helfern, daß rührt an tiefere Schichten als jedes Ferra con carne auf offener Fahrbahn. Appeliert doch ein Gemetzel allein an die Verletzungsängste des Individuums, während der Anblick des ausgelieferten Paares, den Menschen als eine unterworfene Kreatur sichtbar werden läßt. Die beiden wirken zugleich verbunden und schutzlos dem reinen Dasein ausgeliefert, wie ich es an Menschen sonst nur nach einem harten Tagesmarsch oder vier Stunden Modellsitzen beobachtet habe. Im Dämmer des Stollens scheint dann auf der linken Seite ein völlig zerknautschter silberner Kleinwagen auf. Einige hundert Meter weiter steht auf der anderen Seite sein ebenso beschädigtes Pendant. Im Vorüberfahren weist Diseck hinab zum furiosen Surfer-Strand von El Socorro. Hier kreuzen die Wellenreiter durch die Brandung, während sich die Lenkdrachen durch die Böen bei El Médano fortreißen lassen und die Gleitschirmflieger vom Ifonche oder bei Izaña ihre Streckenflüge starten. Mir will das wenig imponieren. Den ersten Tüchelspringer erblickte ich vor 15 Jahren über der Burgruine Rauenstein; schon damals ärgerte ich mich über die Umweltverschmutzung.
Im Hotel Tejuma in Altstadtnähe richte ich mich ein. Es wurde in den Siebzigern gebaut und ist entsprechend geräumig. In der Bar Estrella Azul nehme ich ein menu del dia. In diesem schlichten Lokal speisen die Inhaber der umliegenden Geschäfte. Mir hat es letztens der Inhaber des Mundo del Mapa und Verleger der Edition Zech, Antonio Mas, empfohlen. Man wird platziert. Um die Schräge auf der Gasse vor dem Lokal auszugleichen, tragen die Tischfüße auf einer Seite wie Axtschneiden geschlitzte Holzkeile. Die Insel ist eine einzige Schroffe, der das menschliche Treiben allenthalben eingefräst und aufzementiert werden muß.
Das Laster der Neugier wird in anderen Sprachen curiosity, curiosité benannt. Meine curiosidad lockt mich heute in die Niederungen betreuter Subkultur. Die Kulturpolitik wirft die Kunstplinse im hohen Bogen aus der Pfanne, läßt sie im Bodenlosen sich überschlagen und fängt sie dann wieder geschickt auf. Fast unmerklich wird das Unterste zuoberst gekehrt. Den Gehobenen ist freilich kein Vorwurf zu machen. Sie sind Kinder, denen die Zeit natürliche Einsichten bereithält, und wenn sie wieder Erwarten dumm bleiben, hilft Schelten erst recht nicht. Der Aguere Espacio Cultural ist ein früheres Kino in einer Einkaufspassage von La Laguna. Die Sitzreihen sind entfernt, und es stehen in der einzigen ebenen Stadt auf der Insel die Konzertbesucher auf der schiefen Ebene. Zum Bob-Marley-Day versammeln sich die Matadoren der lokalen Reggae-Szene. Ras Kuko ist ein hiefriges Männlein im braunen Trainingsanzug. Nur das Grün statt Rot im Seitenstreifens unterscheidet ihn von dem der DDR-Armeesportvereinigung Vorwärts (ASV). Auf Jamaica hat Ras Kuko schon mit Sly & Robbie musiziert. Sein jüngstes Album heißt „Raspect“. Ganz gelöst geben sich die Studiosi, die später zumeist im Büro sitzen oder arbeitslose Akademiker sind, wenn sie nicht bereits als solche praktizieren. Da ist diese hektische Härte im Gesicht der Frauen, die an den falschen Stellen bereits zu weich sind. Und wie sie ihre Haare inszenieren. Alles das ist weltweit gleich, mehr oder weniger. Aber auf dieses Wenige kommt es an. Es schlägt immer wieder der Nationalcharakter durch. Die spanische Kreuzung aus Goten und Arabern, bei den Mitteldeutschen aus Franken und Elbslawen, ist eine gute Züchtung der göttlichen Natur. Wie sich bei uns in Ortsnamen und im Gesichtschnitt der slawische Untergrund bewahrte, so steckt im ¡Olé! die arabische Bekräftigungsruf والله (Bei Allah). Das sind die Menschen mit Zukunft im Osten und im Süden unseres alten Kontinents. Ihre laute Schüchternheit und das ernste Taktgefühl sind mittelalterlich. Luther und Ignatius haben sie bewahrt und keine Revolution hat sie beseitigt. Ihnen gehörte die Zukunft, falls sie dessen einmal innewerden.