Der Erhalt der ukrainischen Souveränität ist für die USA nur ein Etappenziel. Strategisch streben sie einen Regimewechsel und die langfristige Schwächung Rußlands an. Die Ukraine ist der erste, Rußland der zweite und Europa der dritte Kollateralschaden dieses Krieges
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Um fremde Dominanz zu verhindern, mußten die USA selbst zur dominanten Weltmacht werden und das Rimland beherrschen.
Nach offizieller Lesart eskaliert im Ukrainekrieg der Konflikt zwischen der offenen Gesellschaft des Westens und dem postsowjetischen Autoritarismus, zwischen den Hütern des Völkerrechts und seinen imperialistischen Verächtern im Kreml, die mit militärischer Intervention das Demokratie- und Freiheitsbegehren der prowestlichen Ukrainer zu dementieren suchen. Doch diese Erklärung ist zu idealistisch, um die ganze oder auch nur die halbe Wahrheit zu enthalten. Dem unzweifelhaften großrussischen Imperialismus steht ein gleichfalls ambitionierter, überdies mit weit größeren Ressourcen ausgestatteter Imperialismus der Amerikaner gegenüber; ohne ihre Interaktion sind der Ausbruch und der Verlauf des Krieges nicht verständlich. Je länger er dauert, desto klarer wird auch, daß die Interessen Europas und der USA keinesfalls deckungsgleich sind.
Bereits ein Blick auf die Rußland-Sanktionen genügt, um eine ungleiche Verteilung von Kosten, Risiken und Gewinnaussichten festzustellen. Die Belastungen betreffen fast ausschließlich die Europäer. Während die Drosselung der Öl- und Gasimporte aus Rußland insbesondere für Deutschland enorme Mehrkosten bedeutet und sogar seine industrielle Basis bedroht, eröffnet sie den USA die Chance, ihr teures Fracking-Gas nach Europa zu verkaufen. Die wichtigsten Interessenunterschiede aber ergeben sich aus der geographischen Lage, sie sind geopolitischer Natur.
Die europäischen Nachbarn haben ein Interesse daran, daß der Krieg schnellstmöglich beendet wird, damit sich kein Flächenbrand daraus entwickelt. Man müßte also alle Anstrengungen darauf verwenden, einen Verhandlungsfrieden zu vermitteln. Die USA hingegen kalkulieren mit einem Zermürbungskrieg, der Rußland in die Knie zwingt, und setzen auf Waffenlieferungen und logistische Unterstützung. Der Erhalt der ukrainischen Souveränität ist für sie nur ein Etappenziel. Strategisch streben sie einen Regimewechsel und die langfristige Schwächung Rußlands an, seine Stutzung auf eine – so Barack Obama 2014 – »Regionalmacht«. Daß gerade die direkt an die Ukraine und Rußland grenzenden Osteuropäer sich mit der US-Strategie identifizieren, weil sie ein weiteres russisches Ausgreifen befürchten, ist psychologisch verständlich und gleichzeitig eine Ironie, an der die Amerikaner entscheidend mitgewirkt haben.
Parallel zur Auflösung der Sowjetunion schlossen sich am 8. Dezember 1991 Rußland, Weißrußland und die Ukraine zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammen, der später weitere Nachfolgestaaten beitraten. Rußland unterschied zwischen den »inneren« Grenzen innerhalb der GUS und ihrer »äußeren Grenze« zum übrigen Ausland, die analog zum Großraumkonzept Carl Schmitts den Rahmen seiner Interessensphäre bildete. Es hätte nun einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur bedurft, die den Nachfolgestaaten genügend Spielraum für die individuelle Interessenvertretung einräumt, ohne die Interessen Rußlands zu verletzen. Finnland als Grenzland der Sowjetunion war im Kalten Krieg mit seiner Neutralität gut gefahren. Jetzt, da weite Teile der Ukraine in Trümmern liegen und Millionen Ukrainer auf der Flucht sind, schließt auch die Führung in Kiew die Neutralität nicht mehr aus.
Diese Geschäftsgrundlage wollten die USA nicht akzeptieren. Sie betrachteten die Randstaaten Rußlands als ihren Operationsraum, den sie – etwa durch Förderung diverser Farb- und Blumenrevolutionen – aus dem russischen Einfluß zu lösen versuchten. Man kann sich nur wundern, wie wenig diese Vorgeschichte in der politischen Debatte eine Rolle spielt, haben doch die amerikanischen Vordenker und Strategen wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen. Zbigniew Brzezinski beschrieb 1997 in seinem Buch The Grand Chessboard (dt. Die einzige Weltmacht) mit kühler Präzision die Situation Moskaus nach dem Ende der Sowjetunion. Zum einen habe es mit dem Verlust der baltischen Staaten weitgehend den eisfreien Zugang zur Ostsee verloren. Für Rußland »am beunruhigendsten« sei jedoch der Verlust der Ukraine, der ihm ein enormes industrielles und agrarisches Potential sowie 52 Millionen Menschen entzogen habe, die den Russen ethnisch und religiös nahestünden. Dadurch sei aus einem großen und selbstsicheren ein verunsicherter Staat geworden. Die Trennung wirke als »geopolitischer Katalysator«. Der Verlust der Hafenstadt Odessa, des »unersetzlichen Tors für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon«, beraube Rußland seiner »beherrschenden Position am Schwarzen Meer« und beschneide drastisch »seine geopolitischen Optionen«. Sein Zugang beschränke sich nun auf einen schmalen Küstenstreifen. Brzezinski erwähnt ausdrücklich den Streit um Stützpunktrechte auf der Krim für die restliche russische Schwarzmeerflotte und die »offenkundige Verärgerung« Moskaus über die gemeinsamen See- und Landemanöver der ukrainischen Streitkräfte mit der Nato. Auch sei der Einfluß der Türkei im Schwarzen Meer gewachsen.
Die globale Dominanz der USA
Das nötigt zu einem Perspektivwechsel auf die russische Krim-Annexion 2014. Was der Westen als Aggression brandmarkt, ist für Rußland ein Befreiungsschlag gegen die geopolitische Strangulation. Als der Sowjetherrscher Nikita Chruschtschow 1954 per Ukas die Krim in die Ukraine eingliederte, hatte er angenommen, daß die Sowjetunion ewig Bestand haben würde und es sich lediglich um einen Verwaltungsakt handelte. 1783 hatte Katharina die Große die Halbinsel als »für alle Zeiten russisch« deklariert, um der aufstrebenden Großmacht die Kontrolle über das Schwarze und den Zugang zum Mittelmeer zu sichern. Diesen Zugang unter Nato-Kuratel geraten zu lassen war für Moskau unannehmbar.
Das Krim-Problem war ein zentrales Problem, aber nur eines unter vielen. Rußland, so Brzezinski, habe nun »geographisch gesehen keinen leichten Zugang zur Außenwelt« und sei an seiner »westlichen, südlichen und östlichen Flanke kräftezehrenden Konflikten mit seinen Nachbarn ausgesetzt […]. Nur die unbewohnbaren und unzugänglichen nördlichen Permafrostgebiete scheinen geopolitisch noch sicher.« Zudem drohten Konflikte mit den angrenzenden islamischen Republiken. Deren demographisches Potential wachse ständig, Rußlands Geburtenrate hingegen sei negativ. Das alles mache es ihm unmöglich, »die Führung eines selbstbewußten eurasischen Reiches anzustreben«.
Brzezinski war ein Spiritus rector der amerikanischen Rußlandpolitik, die den Zweck verfolgt, die nach 1989 proklamierte »neue Weltordnung« – die globale Dominanz der USA – umzusetzen und zu sichern. Das Konzept folgt der 1904 von dem britischen Geographen und Politiker Halford Mackinder formulierten Herzland-Theorie. Das kontinentale, für die Seemächte uneinnehmbare Herzland umfaßt laut Mackinder den europäischen Teil Rußlands und Westsibirien und reicht im Süden bis an das Kaspische und das Schwarze Meer. Es ist von einem »inneren Halbmond« umgeben, dessen westliche Spitze Europa bildet und der sich von dort über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Indien und China erstreckt. Die Verbindung des russischen Herzlands mit dem wissenschaftlich, technisch und organisatorisch befähigten Deutschland sei in der Lage, sich die Herrschaft über die eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die »Weltinsel« bilde. Mackinder folgerte: »Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.«
Das Herzland-Modell wurde aus amerikanischer Perspektive von dem Geopolitiker Nicholas J. Spykman modifiziert. Spykman sah die entscheidenden Machtpotenzen statt im Herzland in dessen Randregionen, dem Rimland, konzentriert, das ungefähr dem inneren Halbmond entspricht. »Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien; wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Geschicke der Welt.« Sollte es einer Macht oder einer Mächtekoalition gelingen, das Rimland unter ihre Kontrolle zu bringen, gerieten auch die USA in deren Abhängigkeit. Deshalb war es für die USA im Zweiten Weltkrieg so wichtig, Deutschland und Japan zu zerschlagen. Um fremde Dominanz zu verhindern, mußten sie selbst zur dominanten Weltmacht werden und das Rimland beherrschen.
Die geopolitische Einhegung Rußlands und die Kontrolle Europas sind zwei Seiten derselben Medaille. Gewiß beschwor Brzezinski das transatlantische Bündnis und die Wertegemeinschaft, doch Europa ist vor allem ein Mittel zum Zweck: Es dient als »Eckpfeiler einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur« und als »geopolitischer Brückenkopf«, ohne den »Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin« wäre. In dem Fall könnte Europa sich sogar zu einem Konkurrenten entwickeln, denn es verfügt über genügend Potential, um »zwangsläufig eine Weltmacht zu werden«. Um diese Entwicklung auszuschließen, mußte eine eigenständige Kooperation zwischen Europa und insbesondere Deutschland auf der einen und Rußland auf der anderen Seite verhindert und Moskau nach Möglichkeit gezwungen werden, sich in das von den USA dominierte System einzufügen sowie seine äußeren und inneren Verhältnisse nach deren Vorgaben zu regeln.
Seit den neunziger Jahren haben die USA intensiv Einfluß auf die Ukraine genommen. Im Zuge des Euromaidan zwischen November 2013 und Februar 2014 haben proamerikanische Kräfte endgültig die Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft besetzt: Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk galt als Vertrauensmann der USA. Er gehörte 2007 zu den Begründern der Open Ukraine Foundation, die von hochrangigen westlichen Partnern gesponsert wurde, und forderte 2008 den Beitritt seines Landes zur Nato. 2016 trat er aufgrund von Korruptionsvorwürfen zurück. Die ebenfalls bis 2016 amtierende Finanzministerin Natalija Jaresko ist eine amerikanische Investmentbankerin und war zuvor im US-Außenministerium und an der amerikanischen Botschaft in Kiew tätig gewesen. Erst im Dezember 2014 war sie im Eilverfahren eingebürgert worden. Hunter Biden, Sohn des damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden, trat im Mai 2014 dem Verwaltungsrat des größten privaten Gasproduzenten in der Ukraine bei.
Die Charta über Strategische Partnerschaft
Damit waren die personellen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen, um die am 19. Dezember 2008 zwischen den USA und der ukrainischen Regierung beschlossene Charta über Strategische Partnerschaft zu verwirklichen, die unter anderem eine Kooperation bei der Erschließung und dem Transport der Energieressourcen vorsah. Die Vereinbarung richtete sich unmittelbar gegen Rußland, das ebenfalls am Leitungsnetz der Ukraine interessiert war, um sein Gas direkt nach Europa liefern zu können, und indirekt gegen Europa, dessen Gasversorgung unter strategische Kontrolle gestellt wurde. Die fünf Milliarden Dollar, die die USA nach den Worten von Victoria Nuland, der für Europa und Eurasien zuständigen Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums, für die »Unterstützung des Strebens des ukrainischen Volkes nach einer stärkeren, demokratischen Regierung« bereitgestellt hatten, waren eine lohnende Investition.
Wladimir Putin hatte seine Präsidentschaft mit dem Vorsatz angetreten, die außen- und geopolitische Schwächephase unter seinem torkelnden Vorgänger Boris Jelzin zu überwinden. Er erklärte wiederholt – nochmals nachdrücklich auf der Jahrespressekonferenz Ende 2021 –, daß die Integration der Ukraine in die Nato und ihre Bewaffnung durch die westlichen Mächte eine »rote Linie« für Rußland darstelle. Er forderte Zusagen des westlichen Militärbündnisses, auf eine weitere Expansion nach Osten zu verzichten. Die Nato habe Rußland seit dem Ende des Kalten Krieges mit ihrer Osterweiterung immer wieder getäuscht.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dagegen forderte nicht nur den Nato-Beitritt seines Landes, er verkündete auch den Start des »Countdown für die Deokkupation« der Krim. Hinter sich wußte er die USA, die weiter das Ziel der geopolitischen Kaltstellung Rußlands verfolgen. Das ist sogar in der aktualisierten amerikanisch-ukrainischen Charta vom November 2021 festgeschrieben, in der die USA ihre Unterstützung »für eine vollständige Integration [der Ukraine] in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen« bekunden. Die Europäische Union wird bei dieser Gelegenheit zu einer weisungsgebundenen Filiale degradiert. Auch beabsichtigen beide Länder »eine Reihe substantieller Maßnahmen«, um Rußland wegen »seines anhaltenden bösartigen Verhaltens« im allgemeinen und insbesondere für seine »Aggressionen und Verstöße gegen das Völkerrecht zur Rechenschaft zu ziehen, einschließlich der Einnahme und versuchten Annexion der Krim und des von Rußland geführten bewaffneten Konflikts in Teilen der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk«. Die militärische Aufrüstung durch die USA ging weiter. Zudem erließ die Ukraine Sprachgesetze, die eine Diskriminierung des Russischen bedeuten. In der Summe war das ein offener Affront gegen Rußland.
Die Europäische Union agierte planlos, unkoordiniert und inkonsequent. Die Chance auf eine eigenständige Rolle im Konflikt hatte sie bereits im Streit um das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU verspielt. Die Brüsseler Bürokraten hatten es nicht für nötig gehalten, die Interessen und Befürchtungen Rußlands in ihre Überlegungen einzubeziehen und dem Land Angebote zu unterbreiten, damit es aus dem Abkommen ebenfalls Vorteile ziehen konnte. Provokativ erklärte der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Februar 2013, daß die Ukraine sich zwischen der EU und Rußland entscheiden müsse. Es folgte der Euromaidan, auf dem peinlicherweise auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle herumstolzierte.
Donald Rumsfeld kreiert das »neue Europa«
Die Rolle Deutschlands, dem normalerweise die Funktion einer kontinentalen Führungsmacht zugefallen wäre, war überhaupt unglücklich und wies Anzeichen allgemeiner Überforderung auf. Deutschlands Aufgabe wäre es gewesen, die Interessen der EU-Staaten zu bündeln und diese auf der Weltbühne erfolgreich zu vertreten. Altkanzler Gerhard Schröder schwebte eine solche Politik wohl vor, als er demonstrativ die Kooperation mit Rußland pflegte und 2002 mit dem französischen Präsidenten Chirac den Widerstand Europas gegen den von den USA vorbereiteten Irakkrieg zu organisieren suchte. Nur entsprach sein politisches Naturell statt dem eines Bismarck dem von Wilhelm II. Ohne die anderen EU-Partner zuvor gefragt zu haben, verkündete er an der Seite Chiracs, was unter »europäischer Außenpolitik« zu verstehen sei. Die Gegenreaktionen ließen nicht auf sich warten. Vor allem hatte Schröder es versäumt, die traumatischen Erfahrungen der Osteuropäer mit der Sowjetunion in seine Überlegungen einzubeziehen, die sich nun um so enger um die amerikanische Schutzmacht scharten. Das gab US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Gelegenheit, das »neue Europa« gegen das »alte« auszuspielen. Dieser Fehler wiederholte sich bei der Projektierung von Nord Stream 2, indem Schröder es sträflich unterließ, auf die Interessen und Bedenken der östlichen Nachbarn einzugehen.
Die Presse fokussiert sich heute auf eine russische Intransigenz: Moskau versuche die europäischen Länder auseinanderzudividieren. Das ist richtig, doch viel wirksamer ist die Einflußnahme der USA auf die EU, bei der Rußland sogar unfreiwillig assistiert. Die Ukraine-Invasion hat dazu geführt, daß sämtliche EU-Länder ihre Position zu Rußland von diesem Akt her definieren und mehr oder weniger die Position der USA übernommen haben. Der Traditionsstrang der auf Ausgleich und wirtschaftliche Kooperation setzenden deutschen Ostpolitik ist gekappt. Beim gemeinsamen Presseauftritt im Februar im Weißen Haus fertigte US-Präsident Joe Biden den deutschen Kanzler bei der Frage nach Nord Stream 2 rüde ab. Die Szene glich der Befehlsausgabe des Lehnsherrn an einen Tributpflichtigen. Das Baltikum, Polen und die Ukraine bilden jetzt einen amerikatreuen Cordon sanitaire zwischen Rußland und dem »alten Europa«, der sicherstellt, daß es auf absehbare Zeit keine eigenständige Rußlandpolitik von Berlin, Paris oder Brüssel mehr geben wird. Das hat Rückwirkungen auf die Kräfteverhältnisse in der Nato und der EU. Europa hat aufgehört, politisch eigenständig zu sein.
Die USA stehen als Sieger des Krieges schon mal fest. Die Sanktionen gegen Rußland werden generalstabsmäßig realisiert. Im Abnutzungskampf gegen Rußland können sie die größeren Ressourcen in die Waagschale werfen. Der nationale Unabhängigkeitskrieg, den die Ukrainer führen, ist auf geopolitischer Ebene ein Stellvertreterkrieg, der ihr Land zerstört. Der Wiederaufbau wird dann Sache der EU sein. Auch wenn Rußland den Zugang zum Schwarzen Meer behauptet und sogar noch verbreitert, ist sein Herzland eingehegt. Imperiale Ambitionen sind von hier aus nicht mehr möglich, denn das Rimland ist weitgehend unter US-Kontrolle gebracht. Das bedeutet noch keine Dominanz über die Weltinsel, stellt aber sicher, daß diese auf absehbare Zeit nicht chinesisch beherrscht wird.
Die US-Strategie richtet sich ganz wesentlich, vielleicht sogar in der Hauptsache auch gegen die Pläne der aufsteigenden Weltmacht China, eine Neue Seidenstraße zu errichten, die Zentral-, Süd- und Ostasien mit Rußland und Europa verbindet und einen eurasischen Wirtschaftsraum ermöglicht. Laut dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson war »die Blockade von Nord Stream 2 […] Teil der Strategie, Westeuropa daran zu hindern, durch gemeinsamen Handel mit China und Rußland und durch wechselseitige Investitionen zu Wohlstand zu kommen«. Nun stünden Europa und insbesondere Deutschland extrem negative Auswirkungen ins Haus. Die »gedopte Dollar-Hegemonie« gegenüber Europa wird »die Dollarkosten zur Finanzierung seines wachsenden Handelsdefizits mit den Vereinigten Staaten für Öl, Waffen und Lebensmittel explodieren« und die Euro- »zu einer wirtschaftlichen Todeszone« werden lassen. Die Ukraine ist der erste, Rußland der zweite und Europa der dritte Kollateralschaden dieses Krieges. ◆
THORSTEN HINZ,
geb. 1962 in Barth, ist freier Autor und Journalist. In Cato 4|2022 schrieb er unter dem Titel »Vom Herzland und vom Rimland« über die langfristigen Ziele der Vereinigten Staaten im Ukrainekrieg.