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Die westliche Welt erlebt eine Wiedergeburt des Konservatismus. Nachdem er jahrzehntelang unterdrückt wurde, vollzieht sich diese Rückbesinnung zwar teils chaotisch und nicht nur in den wünschenswerten Bahnen. Auf lange Sicht ist das trotzdem gut. Denn ohne das ganze Spektrum von Links bis Rechts gibt es keine lebendige Demokratie.
Die bevorstehende Europawahl erregt die Gemüter. Die etablierten Parteien fürchten, daß »antieuropäische« Kräfte aus den Reihen der vielgeschmähten Populisten starken Zuwachs verzeichnen könnten. Diese wiederum fürchten, daß sie weniger Sitze gewinnen als erwartet und dadurch an Schwung verlieren. Tatsächlich findet die Europawahl 2019 vor dem Hintergrund einer gewaltigen Ungewißheit statt. Der Brexit, die heftigen Debatten um die andauerende Migrationskrise und nicht zuletzt die Konflikte zwischen der EU einerseits und Italien, Ungarn und Polen andererseits verdüstern die Zukunft der EU.
Und doch ist die Wahl nur ein Ereignis in einer längerfristigen Entwicklung. Auch der Populismus, so wichtig er ist, stellt nur einen Teilaspekt dar. Das Entscheidende im heutigen Europa ist das Wiederaufleben des Konservatismus. Lange genug hat es auf sich warten lassen. 1995 hielt Steffen Heitmann in München eine Rede mit dem Titel «Rechts, links und die Freiheit«. Heitmann war von 1990 bis 2000 Justizminister Sachsens und im Herbst 1993 ein paar Wochen lang Kandidat der CDU/CSU für das Amt des Bundespräsidenten, bevor er von »Gesinnungs-Paparazzi« (FAZ) zur Strecke gebracht wurde. In seiner späteren Dankesrede anläßlich der Entgegennahme des »Freiheitspreises der Stiftung Demokratie und Marktwirtschaft« konstatierte Heitmann, daß das Nebeneinander von Rechts und Links, von gemäßigtem Konservatismus und gestaltendem Fortschrittsglauben zu jeder gesunden Demokratie gehöre: Diese »zwei unterschiedlichen Akzentuierungen der Wirklichkeit (…) [begleiten] (…) die Menschheit von jeher (…). Und deshalb wird es rechts und links als geistig-politisches Orientierungsschema auch weiter geben, ja, es muß es geben, wenn die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft bewahrt werden soll«.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte Heitmanns Standpunkt 1997 so: »Das Freiheitspathos, das Bekenntnis zum bürgerlichen Individualismus, die Präferenz der Freiheit vor der Gleichheit, die vehemente Ablehnung des linken und rechten Totalitarismus bedarf als Position nicht der dauernden Entschuldigung und zwanghaften Abgrenzung von braunen Rattenfängern. Auch für Leute, die im Sinne des Heitmannschen Rechts-links-Kataloges durchgängig auf der anderen Seite stehen, sollte eine solche christlich-konservative Position ehrenwert und akzeptabel sein.«
Im Gegensatz zur DDR, in der der 1944 geborene Dresdner Heitmann gelebt hatte, gab es (und gibt es prinzipiell immer noch) in der Bundesrepublik die »freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Aber nur sechs Jahre nach dem Mauerfall wies Heitmann darauf hin, daß eine «langsam aber beharrlich nach links« sich bewegende Haltung der bundesdeutschen Bevölkerung an dieser freiheitlichen Ordnung nage. Das konservative Wirklichkeitsverständnis werde nach und nach verdrängt. Heitmann sprach von einem »medialen Meinungsklima (…), [das] Meinungen auf ›politische Korrektheit‹ überprüft«, und politisch inkorrekte Auffassungen de facto tabuisiert. Rückblickend beschrieb Heitmann schon damals die heute siegreiche Entwicklung, die fast das ganze politische Establishment Westeuropas erfaßt hat. Mit wenigen Ausnahmen fängt das politische Spektrum faktisch Mitte-links an und breitet sich von dort noch weiter nach links aus. Auch die klassischen Mitte-rechts-Parteien haben sich de facto in progressive Parteien verwandelt.
Meines Erachtens gibt es im wesentlichen zwei Gründe für diesen Linksruck. Der erste liegt im Schwinden des christlichen Glaubens und in der Entstehung eines postchristlichen Politikverständnisses. Für die überwiegende Mehrheit der Westeuropäer ist der christliche Glaube mit seiner wertkonservativen Aufrechterhaltung von altehrwürdigen Wahrheiten und Moralvorstellungen bestenfalls nebensächlich geworden. Wo einst die Hingabe an Gott oberste Priorität hatte, hat sich heute die Politik breitgemacht. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, sprach Jesus Christus. Im Unterschied dazu ist das Reich des säkularisierten Europa ein rein weltliches. Es macht die Politik aktivistischer; fast unvermeidlich fließt die Hauptströmung immer weiter nach links. Das säkulare Politikverständnis ist auch in seiner gemäßigten Form fast zwangsläufig sozialdemokratisch. Man huldigt einer Auffassung von der Welt und den Menschen, die an eine vollständige, wirkliche soziale Gerechtigkeit für alle glaubt und sie für erreichbar und erstrebenswert hält – durch Politik, durch staatliche Intervention und Planung. Die politische Realisierung von »Gerechtigkeit« erscheint nachgerade zwingend. Wenn diese Welt alles ist, was es gibt, dann ist die aktivistische Verwirklichung diesseitiger Gerechtigkeit durch politische Maßnahmen unumgänglich: Gleichheit statt Freiheit.
»Donald Trump wurde gewählt, weil
die progressive Seite zu weit gegangen ist«
Aber der wachsende Unglaube ist nicht der einzige Grund für die Verdrängung des konservativen Weltbildes. Hinzu kommt die weiche Utopie des Supranationalismus, der mit dem Projekt der europäischen Integration seit siebzig Jahren die politische Landschaft Westeuropas dominiert. Der forcierte Glaube an die Europäische Union, daß sie den Frieden des Kontinents sichern könne, geht einher mit dem Traum, daß der künftige Weltfrieden durch Global Governance zu realisieren sei; auch darin äußert sich die zutiefst progressive Weltsicht.
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Steffen Heitmann (* 1944), war
von 1990 bis 2000 Justizminister
in Sachsen und wurde 1993
bei seiner kurzen Kandidatur
für das Amt des Bundespräsidenten
mit einer vernichtenden
Pressekampagne überzogen.
Fast alle etablierten Parteien einschließlich des Mitte-rechts-Lagers haben sich nach und nach diesem utopischen Projekt verschrieben, und in Deutschland trifft das besonders auf die CDU zu. Der leidenschaftliche Einsatz dieser Partei für die europäische Idee erwuchs ursprünglich aus dem lobenswerten Motiv, aus der aggressiven Politik des Nationalsozialismus die richtigen Lehren zu ziehen. Nach 70 Jahren Bundesrepublik häufen sich aber die Anzeichen, daß dieses Projekt mit dem völligen Verlust der eigenen konservativen Weltanschauung enden könnte.
Wie Steffen Heitmann feststellte, folgt das geistig-politische Orientierungsschema rechts-links offenbar einem uralten anthropologischen Muster. Und ich glaube, daß es sich beim Aufstieg der »populistischen« Protestparteien in Europa um das diffuse, zunächst durchaus chaotische Wiederaufleben des weltanschaulichen Konservatismus handelt. Dieser kann in einer Demokratie nicht dauerhaft unterdrückt werden. Bei all den Krisen der EU, die sich seit zehn Jahren häufen, angefangen mit der Eurokrise, mußte er wieder zum Vorschein kommen. Der Patriotismus und der Anti-Globalismus sind zwei wichtige Anliegen der konservativen Protestparteien und -wähler. Das ist nicht nur eine verständliche, sondern auch eine vernünftige Reaktion auf den Supranationalismus der EU.
Gewiß gibt es Rechtsradikale, die versuchen, dieses europaweite Wiederaufleben des Konservatismus für ihre extremeren Zielsetzungen zu nutzen. Trotzdem ist es falsch, diejenigen als Rechtsradikale abzustempeln, die jetzt in konservativen Protestparteien und Bürgerbewegungen ihre Meinung kundtun. Eine so undifferenzierte Etikettierung wird nicht nur kläglich scheitern, sondern auch die Demokratie weiter schwächen. Eine freiheitliche Ordnung braucht, wie Heitmann betonte, die Alternative zwischen Konservativen und Progressiven, weil sie »die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung« braucht. Deshalb ist das Wiederaufleben des Konservatismus in Europa, auch wenn es zur Zeit noch diffus, konfus und chaotisch wirkt, grundsätzlich zu begrüßen. Man kann nur hoffen, daß sich auch die etablierten Mitte-rechts-Parteien diesem europäischen Neokonservatismus öffnen. Das böte ihnen die Chance, sich ihres ursprünglichen Konservatismus zu besinnen und erfolgreicher mit den progressiven Parteien zu konkurrieren.
Soviel zur Situation in Europa. In den USA, ganz zu schweigen von Kanada, ist die Lage ähnlich. Obwohl der Konservatismus in den USA viel präsenter und stärker verankert ist als in Europa, ist die progressive Meinungsführerschaft in den Medien, an den Universitäten, beim Berufsbeamtentum und anderswo ungebrochen. Konservative Perspektiven werden mit Erfolg delegitimiert, indem sie nach Maßgaben der politischen Korrektheit für unzureichend oder inakzeptabel erklärt werden. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten war in vielerlei Hinsicht die konservative Quittung dafür, daß die progressive Seite dabei zu weit gegangen ist. Die Spaltung zwischen Progressiven und Konservativen ist in den USA genauso tief wie in Europa, und am liebsten würden die Progressiven den Konservatismus vollständig aus der öffentlichen Debatte ausschließen. Warum? Progressive und Konservative vertreten nicht mehr verschiedene Standpunkte innerhalb einer gemeinsamen westlichen Weltanschauung, sondern hängen vollkommen verschiedenen, ja entgegengesetzten Weltbildern an.
»Die Konservativen Europas müssen eine weltanschauliche Alternative formulieren«
Im Grunde basiert der Konservatismus in Europa und Nordamerika nach wie vor auf dem Bekenntnis zur klassisch-jüdisch-christlichen Tradition des Westens, die wir als den Dreiklang Rom, Athen und Jerusalem kennen. Davon will die progressive Seite nichts mehr wissen. Wie können die Konservativen unter den Bedingungen der Gegenwart ihre altehrwürdige weltanschauliche Basis politisch wiederbeleben? Zunächst dürfen sie sich nicht vom politischen, medialen und akademischen Establishment einschüchtern lassen, das durch Nutzung sämtlicher Informationskanäle jeden einzelnen Bürger permanent mit seinem progressiven, der westlichen Tradition entgegengesetzten Weltbild versorgt. Die Konservativen stehen vor der Herausforderung, dieser Propaganda eine tragfähige weltanschauliche Alternative entgegenzusetzen. Dazu gehört, allen Formen des politischen Radikalismus zu entsagen, die destruktive Beschaffenheit des antiwestlichen Progressivismus zu entlarven und den Menschen das Gute, Wahre und Schöne unseres geistigen Erbes zu vermitteln. Das ist die Aufgabe der Konservativen, die weit über die bevorstehende Europawahl und auch über die transatlantische Konjunktur des Populismus hinausreichen wird. ◆
TODD HUIZINGA
geb. 1957 in Michigan und ehemaliger US-Diplomat, ist Präsident des »Center for Transatlantic Renewal«. Dieser Aufsatz ist angelehnt an und enthält Auszüge aus Huizingas Buch Was Europa von Trump lernen kann, Berlin (Vergangenheitsverlag) 2017.