Die architektonische Improvisation »Café Zilm« von Hans Jürgen Syberberg im vorpommerschen Demmin macht Deutschland im Herbst 2017 kenntlicher als vieles, was in Weimar, Köln oder Berlin geschieht. Wenn diese 1945 tief gedemütigte Stadt durch Kunst getröstet oder gar versöhnt werden kann, dann auch das ganze Land – Blick in eine mögliche Zukunft.
Foto: CATO/Andreas Lombard
Die Installation »Café Zilm« an der Nordwestseite des Marktplatzes von Demmin
Der 72jährige Demminer Postangestellte Karl Trettin fotografiert im Sommer 1945, was von seiner Stadt übrig ist. Der Anblick der Trümmer führt in die Irre. Demmin wurde nicht von der Royal Air Force hingerichtet. Die Opfer traf es wie in Magdeburg 1631 nicht von oben aus heiterem Himmel. Sie wurden auf Augenhöhe visiert. Die abziehenden deutschen Soldaten haben die Brücken über die Peene und die Tollense gesprengt. Danach stockt mit der Fluchtbewegung zugleich der Vormarsch der russischen Soldaten. Sie sitzen fest; sie plündern, vergewaltigen und brandschatzen. Haus für Haus wird angezündet, bestrichen mit benzingetränkten Besen, das Löschen untersagt. Ein Überlebender sagt später: Hätte er es nicht selbst gesehen, hielte er es für rechte Propaganda. Viele Bewohner und ostdeutsche Flüchtlinge, zumeist Frauen und Alte, sehen in diesem Inferno keinen Ausweg. Sie töten ihre Kinder und sich selbst. Demmin erlebt mit fünfhundert, tausend oder noch mehr Opfern den größten Massensuizid am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Wunden wurden nie versorgt. Während im Zentrum der zerstörten Stadt bald ein Denkmal die Helden der Roten Armee feiert, bekommen die zivilen Opfer jahrzehntelang keine Stimme. Beharrungskräfte, wie sie sich im Süden der Besatzungszone erfolgreich dem Kahlschlag widersetzen, wirken hier nicht. In der DDR wird die Brand- und Trümmerstätte abgeräumt. Das Viereck des einstigen Marktes ist inmitten verstreuter Plattenbauten kaum mehr zu erkennen. Bestrebungen nach der Wende, die zerstörte Stadt zu rekonstruieren, kommen schon nach dem Wiederaufbau des Rathauses zum Erliegen. An seiner südwestlichen Längsseite bleibt der Marktplatz kahl und unbestimmt. Anstelle der einst säumenden Häuserreihe grünt dort Rasen.
Heute kündet ein Gedenkstein auf dem Friedhof: »Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden – Hier ruhen im Massengrab und in Einzelgräbern Hunderte bekannte und unbekannte Opfer der Demminer Tragödie vom Mai 1945«. Was damals geschah, war so elementar, daß sich sagen läßt, seither sei hier eigentlich nichts Wesentliches mehr passiert. Doch die Menschen versuchen zu leben wie anderswo auch. Himmel, Flüsse, Seen und Felder breiten sich versöhnlich um die Stätte des Grauens.
Geschmeidige Unbeugsamkeit
Wer längs der Trebel den Torso Demmin verläßt, erreicht über das dünn besiedelte Umland erst Wotenick und dann Nossendorf. Hier ist 1935 Hans Jürgen Syberberg geboren. Sein Vater war bis 1933 Bürgermeister; nach dem Krieg verteilte der von den Russen 1945 selbst zur Ernte eingesetzte Gutsbesitzer im Zuge der DDR-Enteignung sein Land auf Wunsch seiner Leute unter sie und die Flüchtlinge aus dem Osten. Sein Sohn geht 1953 von Rostock nach Berlin und 1956 nach München. Dort beginnt die Werkbiographie eines der profiliertesten Filmregisseure der Bundesrepublik. Bereits an seinen frühen Reportagen für den Bayerischen Rundfunk über das Oktoberfest und an seinem Porträt Romy Schneiders zeigt sich seine Fähigkeit zur sachten Entbergung.
Sein Weltruhm ist spätestens 1977 mit dem siebenstündigen Hitler, ein Film aus Deutschland befestigt, in nur zwanzig Tagen in den Münchner Bavaria-Studios gedreht. Susan Sonntag bescheinigte dem ungewöhnlichen Werk, »nicht nur einschüchternd durch sein Höchstmaß an Vollendung, sondern störend wie ein unerwünschtes Kind im Zeitalter des Bevölkerungswachstums Null« zu sein. Während Francis Ford Coppola den Film beim amerikanischen Publikum zum Erfolg führt, bekommt dessen Autor fortan in Deutschland keine Förderung mehr. In dem sechsstündigen Monolog Die Nacht beschwört Edith Clever 1985 in Syberbergs eigenen Worten eindringlich den Ort seiner Kindheit: »In der Nacht bevor die Russen kamen, 1945, am 1. Mai, stieg plötzlich der Wald in Flammen auf, explodierte am Horizont der Kindheit. Wie er schwarz dort stand und schweigend.«
Wer sich wie Syberberg auf seine Kunst versteht, läßt sich weder in die innere noch äußere Emigration treiben. Die berufliche Klarheit gibt ihm eine Heimat, die allen Eliminierungen aus Freundeslisten und Förderkatalogen standhält. Ihn trennt eine geschmeidige Unbeugsamkeit von den meisten anderen Künstlern und Gelehrten, die aus dem Geist von 1968 zu »Rechten«, zu Bürgern zweiter Klasse gemacht wurden.
In seinem Buch Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege (1990) sinniert Syberberg unter dem Stichwort »Regie der Geschichte«: »Das Dorf der Kindheit wiederaufzubauen, zu reinigen von dem Grau der östlichen Plattenbau-Ästhetik, wie zum Modell wiedergefundener Natur. Die strohbedeckten Häuser von Verunstaltungen befreit, das Land wieder kultiviert mit alten Hecken und Weiden und Dornbüschen der Schlehen und Tümpel oder Schilf vor den Buchenwäldern in der Ebene, die Gärten und den Park, das Haus und den Hof mit den Ställen und Scheunen unter den Strohdächern für die Störche wieder und die Gemeinschaft des Lebens, wie Erde ohne Verseuchung. Kopfsteinpflaster und Chausseen, der Kirchturm wieder auf seine alte Höhe gebracht, gegenüber dem Haus, Jahrhunderte nochmal zurückgeholt, wie für einen Film, die Serie vom verlorenen Leben.«
Das Buch wird erbittert angefeindet. Frank Schirrmacher, 1990 noch Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zückt als Erzengel das feuilletonistische Schwert, den Autor aus dem Paradies freier Kunst- und Meinungsäußerung auszutreiben. Aber auf fruchtlose Diskussionen läßt Syberberg sich nie ein. Er opponiert nicht und hält doch unbeirrt an seiner Sicht fest. Nicht zuletzt eignet ihm eine liebenswürdige Wehrlosigkeit, eine sanfte Bestimmtheit, die noch den bösartigsten Gegner entwaffnet.
Rückhalt geben ihm die Freundschaften mit Alexander Kluge, Wim Wenders und Nike Wagner. Er findet neuen Zuspruch durch die Kunsthistoriker und Kuratoren Eugen Blume und Catherine David, den pommerschen Bischof a. D. Eduard Berger und jüngst durch den Landsmann Michael Succow, Naturforscher und Träger des alternativen Nobelpreises. Damit ist Syberberg einer von wenigen deutschen Intellektuellen, die freiheitlich-demokratische Prinzipien nicht nur beschwören, sondern sie praktisch auf ihre konkrete Arbeit anwenden. Was die Deutschen ihm damit verdanken, wird sich eines Tages zeigen, wenn sie ihren masochistischen Rigorismus abgelegt haben.
Nach dem Fall der Mauer bewegte Edith Clever Syberberg dazu, mit ihr gemeinsam Nossendorf aufzusuchen. Stallungen, Remisen und Scheunen des Gutes hatten die sozialistischen Jahre in ruinösem Zustand überdauert. Mit Fördermitteln der EU wurden sie schließlich niedergerissen. Kaum waren die Wirtschaftsgebäude wie Unrat beseitigt, sollte mit dem Abbruch des schlichten Gutshauses auch die zentrale Arbeits- und Lebensstätte ausgelöscht werden. Gegen lokale Widerstände kann Hans Jürgen Syberberg das Gebäude um die Jahrtausendwende erwerben. Fenster und Türen werden wieder geöffnet sowie Rosen und Bäume gepflanzt. Seit 2003 lebt Syberberg ohne modernen Komfort wieder in seinem Geburtshaus. Mit Webkameras und seinem Tagebuch syberberg.de läßt er die Welt daran teilhaben.
Die Verwüstungen, wo nicht unmittelbar zu heilen, so doch kenntlich zu machen, darin besteht der Anspruch des Projekts Nossendorf. Live-Projektionen und Installationen rückten den Ort zweimal Besuchern der Kasseler documenta nahe. Ein »Verein der Freunde der Kirche in Nossendorf, Kunst und Natur« hilft; der 1979 wegen Baufälligkeit abgetragene Turm der Dorfkirche ist inzwischen »wieder auf seine alte Höhe gebracht«.
»Es wird nichts mehr sein,
nur der Wind …«
Und von Nossendorf aus gerät selbstverständlich auch Demmin in den Blick: »Demmin war immer die Bezugsstadt zu N. seit Mai 45 nicht mehr da, nie mehr betreten, dann Erzählungen von vom Brand dampfenden Häusern, schwimmenden Leichen, für den 9jährigen als nicht betretbar genannt«, verzeichnet das Tagebuch im September 2015. Als Beitrag zur 875-Jahrfeier der Hansestadt hatte Syberberg zunächst ohne öffentliches Geld ein sechs Meter hohes Baugerüst mit Ansichten der bis 1945 an der Südwestseite des Marktes befindlichen Häuser errichten lassen. Bereits für 2016 war ein begehbares Baugerüst am Standort des »Café Zilm« vorgesehen, einst der Mittelpunkt des zivilen Lebens von Demmin. Wegen der Äquinoktialstürme konnte das nicht realisiert werden. Immerhin markieren seither Baumpflanzungen an der Südwestseite des Marktes den Kellergang, der einst zwischen den Häusern hindurchführte.
In diesem Jahr eröffnete nun für vierzehn Tage das »Café Zilm« in einem wesentlich stabileren Gerüst, die Standfestigkeit von schweren Zementbrocken gesichert. Als Geschenk an die geprüfte Stadt gedacht, wurde auch dieses zunächst ohne öffentliche Mittel und beinahe illegal realisiert. Die bauamtliche Genehmigung der riskanten Installation trifft erst wenige Tage vor deren Eröffnung ein; etwas später werden Landesgelder bewilligt. Geschäfts- und Privatleute strecken vor und helfen mit. Die Lokalpresse begleitet die Bemühungen ohne jede Häme, sogar der NDR, und auch der Bürgermeister schaut herein.
Den Beamten wird es leicht, durch die Finger zu schauen, erblicken sie doch eine beispielhaft demokratische Initiative. Auch darin besteht die Lehre des »Café Zilm«. Der Zuspruch der Demminer rechtfertigt alle Bemühungen. Zur Eröffnung erinnert der Initiator an eine Szene aus seinem Film Karl May von 1974: Helmut Käutner in der Titelrolle wird im gedachten Dresdner Café Kreuzkamm (aufgenommen im Wiener Kaffeehaus Demel) von einer Untergangsvision eingeholt. Er murmelt: »Es wird nichts mehr sein, nur der Wind, der durch uns hindurchgeht, und das Gras , das auf allem wächst …«
Besonders nach Einbruch der Dunkelheit geht von der Installation die eigentümliche Aura der Syberbergschen Geschichtsmythologie aus. Aber das »Cafe Zilm« ist mehr als ein Bühnenbild. Täglich von 16 bis 18 Uhr wird in einem beheizten und mit Teppich ausgelegten Zelt hinter der Fassade an alten Möbeln Kaffee und selbstbackener Kuchen gereicht. Abends wird zu Veranstaltungen geladen, die eine Beziehung zur Stadt, ihrer Geschichte und ihrem Schicksal aufweisen.
Martin Farkas ist eigens von Dreharbeiten in Paris angereist. Er zeigt Material, das er für seine Dokumentation Über Leben in Demmin aufgenommen hat (die Premiere fand am 1. November auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival statt). Das Gespräch danach verläuft trotz unterschiedlicher Sichtweisen unaufgeregt nachdenklich. Fritz Langs Die Frau im Mond kommt zur Aufführung. Über den technischen Berater dieses frühen Weltraumfilmes, Hermann Oberth aus Siebenbürgen, spannt sich eine Beziehung zum Peenemünder Raketenprojekt; die geschundene Stadt hat ihren Anteil an der Erschließung des Weltraums. Tarkowskis Andrej Rubeljow wird gezeigt; auch hier wirkt durch mitgefühlte Qual von Krieg und Zerstörung die Kunst versöhnlich.
Am Mittwoch abend reißt der Orkan die Plane herab. Dauerregen peitscht gegen das Zelt und überschwemmt das provisorische Kaffeehaus. Die Vorführungen des russischen Spielfilms Faust von Alexander Sokurow und von Syberbergs Romy-Schneider-Film werden verschoben: »Alles ordnet sich neu. Um kreative Anarchie bittend. Sonst geht es nicht«, vermerkt das Netztagebuch vom 7. Oktober. Den vorangegangenen Abend gestalteten die Demminer selbst. Bodo Jordan trug plattdeutsche Verse von Wilhelm Busch und Rudolf Tarnow vor – in Anwesenheit seiner und auch Syberbergs 94jähriger Lehrerin Marlies Hamann. Diese stimmt mit Gästen Kanons an. Daraus wiederum ergibt sich spontan ein gemeinsamer Singabend im »Café Zilm«.
Eines wächst aus dem anderen hervor, das nährt die Sehnsucht nach Verstetigung. Durch die Gitter des Gerüsts wird für einige Abende der erleuchtete Pavillon sichtbar. Nach dem Unwetter wird die Plane ohne die opake Hintergrundfolie wieder aufgezogen. Dadurch scheinen nun die stählernen Stangen wie ein Skelett hinter der Fassade des Kaffeehauses hervor. Syberbergs filmische Ästhetik erzeugt Räume und Landschaften aus einem gleichsam überbordenden Minimalismus. Als erste filmische Arbeit hat der 17jährige Schüler 1953 Brechts Probenarbeit am Berliner Ensemble aufgenommen. Nach eigener Aussage war er seither »gegenüber jedweder dramatischen Ästhetik vergiftet«. Das Marionettenspiel, der künstliche Fels aus Wagners Totenmaske in Parsifal, die monochromen Ausleuchtungen, die monologischen Exkurse und die schwarzweißen Diaprojektionen sublimieren das Geschehen artifiziell und wirken damit wie der erschreckt beobachtende Chor in der griechischen Tragödie.
Große Gefühle werden wahrer, sobald sie als gespielt wahrgenommen werden. Die Mimesis moderner Spielfilme mit ihren vorgetäuschten Empfindungen vermag das nicht. Die Authentizität schwindet in dem Maße, in dem sie erstrebt wird. Das unterscheidet die Kulisse des Demminer Caféhauses auch grundlegend von der simulierten Fassade des Berliner Schlosses 1993/94. Diese sollte zeigen, wie es sein könnte, jene zeigt, was nicht ist und unersetzbar bleibt, solange es nicht die unmittelbar Betroffenen aus sich selbst ergänzen. In Demmin ist nicht nur das Äußere des Hauses zu sehen, sondern es wird auch die schwarzweiß überlieferte Innenansicht des Cafés hineinmontiert.
Auf der Ecke zur Holstenstraße zeigt das vergrößerte Fassadenfoto auch Passanten in Straßenkleidung von vor hundert Jahren. Es gehört zusammen, was nicht zusammenpaßt. Eine Stange ragt sechs Meter über die Installation hinaus und deutet die alte Höhe an; nicht allein als Auftrag für Investoren und Bauunternehmer, sondern als Wunsch der Demminer Gesellschaft nach einer Heimstätte an ihrem Marktplatz. Der Bauherr ist vielleicht schon gefunden, man wird sehen. In jedem Fall hat das »Café Zilm« gezeigt: In Demmin ist Deutschland heute deutlicher kenntlich als in vielem, was in Weimar, Köln oder Berlin geschieht. Und es ist eines der letzten großen Werke Hans Jürgen Syberbergs, eines an großen Werken nicht gerade armen Lebens. Er selbst versteht es als Ouvertüre. ◆
Fotos: Sven Abraham, CATO/Andreas Lombard, Zeichnung: Sebastian Hennig
Wunden sollen heilen: die Installation »Café Zilm« am 30. Septemberaa 2017, gezeichnet von Cato-Autor Sebastian Hennig | das von Hans Jürgen Syberberg nach der Wende zurückgekaufte Geburtshaus in Nossendorf | Syberberg 2016 in seiner Küche im Gespräch mit Sebastian Hennig | das Vestibül
SEBASTIAN HENNIG,
geb. 1972 in Leipzig, ist Maler, Kunstkritiker und Publizist. Er studierte von 1992 bis 1998 Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. In Cato 1/2017 schrieb er »Der Maler setzt sich durch« über den Künstler Harald Metzkes. Zuletzt erschien von ihm Unterwegs in Dunkeldeutschland, Dresden 2017 (C. C. Meinhold & Söhne).