Die Rechte vermeintlich unterdrückter Urvölker sind heute die schärfste Waffe der lateinamerikanischen Linken im Kampf gegen den Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft. Dabei setzen die Indigenisten schamlos auf Geschichtsklitterung, voraufklärerische Reflexe und falsche Mythen
Mit der Bemerkung, die Indianer würden in den Reservaten gehalten wie Tiere im Zoo, sorgte der damalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro im Dezember 2017 für einen globalen Sturm der Entrüstung. Doch entgegen den oft böswillig aus dem Kontext gerissenen Schlagzeilen richtete sich seine Aussage keineswegs gegen die Indianer. Im Gegenteil, in Anspielung auf seinen damaligen bolivianischen Amtskollegen Evo Morales, der seine indianische Abstammung geschickt vermarktet, forderte er eine bessere Integration der amerikanischen Urbevölkerung.
Gerade das Beispiel Brasilien wirft ein grelles Licht auf die Problematik der Reservate. Theoretisch sind rund 14 Prozent des Territoriums den Indianern vorbehalten, die allenfalls 0,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Tatsächlich lebt nur noch ein Bruchteil der Indigenen in der Wildnis. Viele Reservate haben ihre ursprüngliche Bedeutung längst verloren. Mafias aller Provenienzen – Gold- und Diamantenschürfer, Holzfäller, Siedler, Drogenhändler – füllen das Vakuum. Denn keine Armee der Welt kann den weitläufigen Amazonasdschungel kontrollieren.
Jair Bolsonaro plädierte nicht für die Gesetzlosigkeit. Mit einer kontrollierten Besiedlung des Amazonasbeckens sollte vielmehr das Unvermeidliche in geordnete Bahnen gelenkt werden. Nur wer etwas grundsätzlich zuläßt, so seine These, kann auch Regeln durchsetzen. Man muß seine Meinung nicht teilen, doch auf diese Diskussion ließen sich seine Gegner gar nicht erst ein. Bolsonaro hatte ein Tabu gebrochen. Er hatte es gewagt, am Klischee des »Edlen Wilden« zu rütteln, dem biblischen Motiv vom reinen, von den Lastern der Zivilisation unbefleckten Urmenschen, der in paradiesischer Eintracht mit der Natur lebt und im Kern nichts anderes will, als den Garten Eden zu erhalten.
Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die sich in vielen Religionen findet, ist so alt wie die menschliche Zivilisation. Zweifel am Segen ihrer Mission begleitete die europäischen Kolonialisten von allen Anfängen an (wenngleich die Gier nach Ruhm und Reichtum am Ende meist überwog). Die Chroniken der spanischen Conquista begegneten den Kulturen in der Neuen Welt oft mit ehrfürchtiger Bewunderung (womit die Entdecker selbstredend auch ihren eigenen Ruhm steigerten). Das 17. Jahrhundert produzierte eine Fülle von Romanen und Erzählungen über Reisende, die bei den Wilden ihr Glück fanden. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) erlangte mit seiner These vom perfekten Naturmenschen, der erst durch die Zivilisation verdorben wird, zu Lebzeiten Kultstatus.
Die realen Begegnungen, die ich in den letzten vier Jahrzehnten mit den Indianern im Amazonas erlebte, haben meine Illusionen über den »Edlen Wilden« nachhaltig zerstört. Nicht daß ich schlechte Erfahrungen mit den Indianern gemacht hätte. Doch was die Verschandelung der Umwelt mit dem ebenso illegalen wie verantwortungslosen Raubbau betrifft – von Gold- und Diamantenschürfern über das Kokain- und Opiumgeschäft bis zur Brandrodung –, arbeiten die Eingeborenen Hand in Hand mit Zugezogenen. Wobei im Falle von Peru, Bolivien oder Ecuador noch anzumerken wäre, daß sie praktisch alle Mestizen sind, die Einheimischen wie die Zugezogenen. Es ist denn auch fast unmöglich, sauber eine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm oder einer Ethnie zu definieren.
Es ist auch nicht so, daß alle Stammesangehörigen unbedingt nach alter Mütter Sitte leben wollen. Die meisten suchen den Anschluß an die Zivilisation. Das Leben ohne Strom, Geld, Bildung oder Internet ist nicht nur eintönig, sondern auch sehr gefährlich. Raubtiere, Parasiten und Krankheiten aller Art sind eine ständige Bedrohung, zumal wenn sich kein Arzt in nützlicher Reichweite findet. Die Lebenserwartung ist entsprechend gering. Und wenn es bei den Stämmen im Amazonas praktisch keine Menschen mit Mißbildungen oder Zwillinge gibt, liegt das allein daran, daß diese in der Regel von ihren eigenen Angehörigen nach der Geburt umgebracht werden. Spätestens beim Infantizid oder bei der Schulpflicht stellt sich die Frage, ob es wirklich ein Fortschritt ist, wenn nicht mehr für alle Menschen dieselben Regeln und Rechte gelten – oder bloß eine moderne Form von Rassismus.
Zumindest jene Indianer, die ich im Amazonas und in den Anden kennengelernt habe, kämpften nicht gegen, sondern für die Annehmlichkeiten der Zivilisation. Und zwar ausnahmslos. Die von NGOs mit viel Geld inszenierten globalen Dauerproteste etwa gegen die – notabene staatlichen – Erdölpipelines und Förderanlagen im nördlichen Amazonasgebiet von Peru, über die ich mehrfach berichtet habe, richteten sich nur vordergründig gegen die Umweltbelastung. Wenn man vor Ort mit den Betroffenen redete, kamen ganz andere Motive zutage. Sie beklagten sich über fehlende Spitäler, Schulen, Straßen, Stromnetze und vor allem über den Mangel an Arbeitsplätzen.
Dasselbe Muster findet man bei den Protesten gegen die internationalen Bergbauunternehmen in den Hochanden. Die selbsternannten Indianerhäuptlinge, die von niemandem gewählt wurden, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als NGO-Aktivisten oder als Kader kommunistischer Gewerkschaften und Parteien. Sie reden zwar viel von Umwelt und Menschenrechten, in Wirklichkeit meinen sie aber Geld und Macht. Und nicht wenige sind bis über die Ohren mit den milliardenschweren Raubbau- und Drogenmafias verstrickt, die sich um sämtliche Gesetze und Umweltnormen foutieren.
Selbsternannte Indianerhäuptlinge,
die von niemandem gewählt wurden
Ein schillerndes Beispiel für die zynische Doppelmoral der indigenen Sozialisten liefert der Caudillo Evo Morales, der Bolivien seit zwei Jahrzehnten im Griff hat. Seine Macht baut fast ausschließlich auf den kampferprobten Koka-Syndikaten auf, deren Führung er nie aufgegeben hat. Den Vorwurf einer Verbindung zur Kokainmafia weist Morales weit von sich. Wer Bolivien kennt, kann das nicht ernst nehmen. Der legale Konsum des Kokablattes macht einen kleinen Bruchteil des Marktes aus. Doch mit einem geschickten Marketing hat sich der vermeintliche Vorzeigeindianer Morales – in Wahrheit ein Mestize, der nicht einmal eine indigene Sprache beherrscht – eine Art Immunität verschafft.
Dieselbe Indianer-Farce zelebrierte in Peru der 2022 nach einem mißglückten Putsch gestürzte Pedro Castillo – auch er, wie uns schon sein Name verrät, ein Mestize, der weder Quechua noch Aimara spricht. Wie Morales kam der Gewerkschafter Castillo dank einer unheiligen Allianz von Drogen- und Raubbaumafias, Ultranationalisten, Kommunisten, NGOs, progressiven Kräften der katholischen Kirche und nicht zuletzt mit Unterstützung aus Venezuela und Kuba an die Macht. Castillos kurze Präsidentschaft war geprägt von einem Ausmaß an Nepotismus und Korruption, das alles Bisherige in den Schatten stellte. Doch der Diskurs vom ewig unterdrückten, edlen und ehrlichen Indianer machte den Mann mit dem großen Hut unangreifbar. Das änderte sich auch nicht, als sich seine verfassungsmäßige Nachfolgerin, Dina Boluarte, in tadellosem Quechua an die Nation wandte. Die bei den Linken als Verräterin verhaßte Boluarte paßt nicht ins Indianerklischee.
Kein Zweifel: Die europäische Invasion in Amerika zeitigte verheerende Folgen für die Indianer. Ganze Völker sind verschwunden oder haben sich bis zur Unkenntlichkeit assimiliert. Historisch betrachtet war es ein Schicksal, das schon viele Völker vor den Indianern erlitten hatten, was jedoch nichts daran ändert, daß es aus aufklärerischer Sicht ein Verbrechen war. Die Aufklärung hat die Menschen indes auch von der Kollektivschuld und der Erbsünde befreit. So wie die Shoa bei allem Leid die Juden nicht zu besseren und die Deutschen nicht zu schlechteren Menschen gemacht hat, ist es auch in Amerika falsch, ethnische Gruppen wegen der Taten ihrer Vorfahren zu ächten oder zu adeln.
Der moralinsaure Zeitgeist giert nach Helden und Schurken. Doch die historische Realität ist in aller Regel ambivalent und widersprüchlich. Wer sich über die europäische Kolonialisierung Amerikas empört, müßte konsequenterweise auch die Tyranneien der Inkas oder der Azteken mit ihren Sklaven, Zwangsumsiedlungen und Menschenopfern verdammen. Die kannibalistischen Rituale gewisser Stämme, die Skalpierungen, die Schrumpfköpfe oder der qualvolle Tod am Marterpfahl entzaubern das Edle im Wilden. Doch was nicht ins Klischee paßt, wird großzügig übersehen.
Fray Bartolomé de las Casas (1474–1566) gehörte zu den Pionieren der spanischen Conquista und zugleich zu ihren schärfsten Kritikern. Bereits 1493 war der Dominikanermönch mit Kolumbus erstmals nach Amerika gereist. Seine Zeugnisse der Massaker, die seine Landsleute in der Karibik anrichteten, aber auch seine kritischen Berichte zur Unterwerfung der Azteken (1521) und der Inkas (1533) sind nicht nur historische Quellen von unschätzbarem Wert – sie zeitigten Folgen.
Mit den Leyes de Burgos (1512) und den Leyes Nuevas (1542) wurde die Versklavung der Indianer verboten, es wurden Arbeitszeiten und Mindestlöhne festgelegt. Ob und wie die Rechte der Indianer in der fernen Kolonie eingehalten und umgesetzt wurden, ist eine andere Frage. Immerhin ernannten die Spanier in allen größeren Städten Amerikas einen »Protector de los Indios«, eine Art Ombudsmann, der über die Rechte der Indianer zu wachen hatte, ihre Sprache beherrschen mußte und dem spanischen König direkt Rechenschaft schuldig war.
Gewiß standen hinter diesen Leyes de las Indias nicht nur humanitäre Motive. Bislang auf dem amerikanischen Kontinent unbekannte Krankheiten wie die Pocken oder die Grippe, gegen die das Immunsystem der Indigenen schlecht gewappnet war, führten zu einer demographischen Katastrophe. Einzelne Historiker gehen davon aus, daß bis zu 90 Prozent der Bevölkerung dahingerafft wurden. Diese Zahl dürfte übertrieben sein, doch die Seuchen waren auf jeden Fall verheerend. Und ein Land ohne Bevölkerung läßt sich nicht nur schlecht ausbeuten, sondern auf die Dauer auch nicht verteidigen.
Gerade weil sie kraß in der Unterzahl waren, schmiedeten die spanischen Eroberer vor allem in Mexiko und in den Anden geschickt Allianzen mit Völkern, die von den Azteken beziehungsweise den Inkas brutal unterdrückt wurden. Als Hernán Cortés 1519 in Tenochtitlán einmarschierte, wurden seine 300 Soldaten von 3 000 Mayas und Zapoteken begleitet. Seine Geliebte, die sagenumwobene Nahua-Indianerin Malintzin, stand Cortés nicht nur als Übersetzerin und strategische Beraterin zur Seite. Sie gebar ihm auch einen Sohn, Martín, der von der spanischen Krone als Cortés’ legitimer Nachfolger anerkannt wurde und seinen Adelstitel (Marqués del Valle de Oaxaca) erbte.
Nach demselben Muster eroberte Francisco Pizarro ein Jahrzehnt später mit 180 Soldaten das größere, straff organisierte und bestens gerüstete Imperium der Inkas im heutigen Peru, unter deren Joch bis zu zwölf Millionen Menschen lebten. Die Spanier hätten dieses Reich nie erobern und halten können, hätten sie sich nicht in den indianischen Adel eingeheiratet, dessen Titel anerkannt wurden. Auf den Fundamenten der Tempel wurden Kirchen gebaut, doch die Strukturen der Inkas blieben erhalten. Die Spanier legten zwar Wert auf Abstammung und Kaste, die Hautfarbe interessierte sie aber kaum.
Illustrativ für dieses System ist die Figur des Túpac Amaru II., des Anführers einer Rebellion, die die spanische Herrschaft in Peru 1780 arg in Bedrängnis brachte. Der erste Aufstand scheiterte, gab jedoch den Anstoß zu einer Kaskade von Konflikten, die 1821 in die Unabhängigkeit mündeten. Im 20. Jahrhundert wurde Túpac Amaru zur Ikone diverser Guerillas und linker Bewegungen in ganz Südamerika. Doch der Mythos um ihn steht in einem eklatanten Kontrast zur Realität.
Der eklatante Kontrast
zwischen Mythos und Realität
Hinter dem Nom de guerre Túpac Amaru stand José Gabriel Condorcanqui Noguera, ein Mestize mit Adelstitel, der seine Wurzeln auf die Inkas zurückführte. Anders als Evo Morales und Pedro Castillo hatte Condorcanqui an den besten Schulen und Universitäten studiert, er beherrschte neben Quechua und Spanisch auch die lateinische Sprache. Wie die Gründerväter der USA stand er mutmaßlich den Freimaurern nahe, auf jeden Fall war er mit den Rousseaus und Montesquieus vertraut.
Anlaß zur Rebellion gaben nicht Klassen- oder Rassenfragen, sondern Steuererhöhungen und ein Streit um den Titel Marqués de Santiago de Oropesa. Condorcanquis Hauptgegner war Mateo Pumacahua Chihuantito, auch er ein adliger Mestize. Auf beiden Seiten kämpften Mestizen, Indios, Weiße und Zambos, Indianer mit afrikanischem Blut. Condorcanquis Ehefrau, Micaela Bastidas Puyucahua, eine Zamba, führte die Nachhut des Rebellenheeres an. Dank der erhalten gebliebenen Korrespondenz zwischen der draufgängerischen Bastidas und ihrem eher zögerlichen Gatten ist der Feldzug, der sich erst mit der Zeit gegen die spanische Krone wandte, recht gut dokumentiert.
In Mexiko, Guatemala, Peru, Bolivien, Ecuador und Paraguay fusionierten das indianische und das europäische Erbe bereits unter den Spaniern zu einer eigenständigen Mischkultur und Nation, deren Wurzeln sich nicht auseinanderdividieren lassen. 60,2 Prozent der Peruaner bezeichneten sich im letzten Zensus aus dem Jahr 2017 als Mestizen, 24,7 Prozent definierten sich aufgrund ihrer Sprache (und nicht ihrer Hautfarbe!) als Quechua oder Aimara, 5,9 Prozent als Weiße, knapp 1 Prozent als indigene Stammesangehörige. Das deckt sich grosso modo mit den Erkenntnissen der Genforschung.
In den übrigen Ländern Amerikas – voran Argentinien, Brasilien, Kanada und die USA – ist vom indianischen Erbe nicht mehr viel übrig. Diese Gebiete waren allerdings zumeist schon vor der Ankunft der Europäer sehr dünn von nomadisierenden Stämmen besiedelt. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Massenmigration in Nord- und Südamerika einsetzte, waren die Konflikte zwischen den europäischen Siedlern an den Küsten und den Stämmen im Landesinnern sporadischer Natur. Danach wurden die Indianer von den Zuwanderern buchstäblich überrollt.
Anfänglich kauften die Siedler an der Ostküste der USA das Land den Stämmen in der Regel ab. Die gezahlten Beträge mögen im Rückblick lächerlich erscheinen, die Verträge mit den Analphabeten problematisch. Doch völlig rechtlos waren die Indianer nie. Bereits im 18. Jahrhundert wurden die ersten Reservate definiert. Es mag als bittere Ironie anmuten, daß ausgerechnet der Sklavenbefreier Abraham Lincoln 1862 mit den Homestead Acts, die den Besitz von Land jenen übertrugen, die es urbar machten und bewirtschafteten, den Indianerstämmen gleichsam den Todesstoß versetzte. Allerdings ist fraglich, ob Lincoln sich der Tragweite der Erlasse bewußt war.
Die systematische, aus heutiger Sicht verbrecherische Vertreibung der Indianer in oft unwirtliche Reservate begann erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Es war jene Zeit, in der Karl May mit der Ikone Winnetou die Wahrnehmung der Indianer in Europa nachhaltig prägte. Der mehrfach wegen Betrügereien verurteilte May kannte Amerika und die Indianer bekanntlich nur vom Hörensagen, als er Winnetou 1878 kreierte. Doch das kitschige Klischee des edlen, dem Weißen in moralischer Hinsicht weit überlegenen Wilden, den Winnetou idealtypisch verkörpert, war nicht Mays Erfindung, sondern auch in der Neuen Welt weit verbreitet. Und es wirkt bis heute nach.
2007 postulierte die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker einen Sonderstatus für die traditionellen Stammesgesellschaften. Lediglich Neuseeland, Australien, Kanada und die USA stimmten dagegen. Mit gutem Grund: Bei einer konsequenten Umsetzung barg die Deklaration mit ihren kaum einlösbaren Ansprüchen und Sonderrechten ein erhebliches Potential, Zwietracht zu säen.
Nach den Unabhängigkeitskriegen ersetzten fast alle Länder Amerikas das europäische Primat der Abstammung (Ius sanguinis) durch ein Territorialprinzip (Ius soli). Jeder Mensch ist Bürger jener Nation, in der er geboren wurde, ohne Ansehen der Herkunft seiner Eltern, seiner Rasse oder religiösen Zugehörigkeit. Die Anerkennung von Völkern mit Sonderrechten und von autonomen Nationen innerhalb der Nation kollidiert unweigerlich mit diesem Gleichheitsprinzip.
Gerade die Erfahrungen aus den USA zeigen, daß Reservate die Assimilation der Indianer allenfalls verzögern, sie aber nie verhindern. Die 500 Spielcasinos in den 304 Indianerterritorien stehen sinnbildlich für das Scheitern dieses Ideals. Wer heute noch in einem Tipi lebt oder mit Pfeil und Bogen durch die Prärie streift, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit keine »Rothaut«, sondern ein weißer Aussteiger.
Heute nutzen vor allem die sozialistischen und marxistischen Bewegungen in Lateinamerika den Indigenismus als Vehikel im Kampf gegen den Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft. Nach bolivianischem Vorbild soll die Nation durch ein diffuses »plurinationales« Gebilde mit Sonderrechten und territorialen Ansprüchen für indigene Ethnien oder Kollektive ersetzt werden. Mangels demokratischer Strukturen und belastbarer Kriterien – bislang hat es noch keiner gewagt, die Nutznießer völkischer Privilegien mittels Gen- und Sprachtests zu bestimmen – sind Chaos und Willkür vorprogrammiert. Das ist der vergiftete Boden, auf dem der Rassen- und Klassenkampf gedeihen mag, jedoch keine moderne, prosperierende und multikulturelle Zivilisation. ◆
ALEX BAUR,
geb. 1961, lebt und arbeitet als Lateinamerika-Korrespondent des Schweizer Magazins Die Weltwoche in Peru und ist seit 42 Jahren mit einer Quechua-Indianerin verheiratet.